Einen Tag, nachdem in Japan die Erde bebte wie nie zuvor und der Tsunami die Küste heimgesucht hatte, gab das Hofamt im Namen von Kaiser Akihito und seiner Gattin Michiko ein kurzes Statement heraus, in dem das Kaiserpaar den Opfern ihr Mitgefühl ausdrückte. Was dann folgte, war Schweigen. Fünf Tage lang kein weiteres Wort vom Tenno an das Volk zu den Explosionen in Fukushima-1. Kein Wort dazu, dass Japan weitaus mehr als die Folgen des Tsunamis zu verkraften haben würde. Schweigen - bis zum heutigen Mittwoch.
Wo war der Tenno abgeblieben? Womit war das Kaiserpaar beschäftigt, während sein Volk mit dieser schrecklichen Krise zu kämpfen hatte?
Klaus Vollmer, Professor für Japanologie an der Universität München, hatte sich diese Frage schon seit geraumer Zeit gestellt. "Der Tenno und seine Frau waren bei dem Kobe-Erdbeben von 1995 relativ bald in der Katastrophenregion", erinnert sich Vollmer. Eine Rede an die Nation hielt er auch damals nicht - der Kaiser spricht nur selten zu seinem Volk.
Trost zu spenden, zum Durchhalten ermutigen, die Nation in der Krise zu einen - das sei die Aufgabe des Tenno, der ja laut Verfassung als Symbol Japans gelte, so der Experte für japanische Sozialgeschichte. Auch wenn er keine politische Macht habe - seine Bedeutung für das Volk sei immens.
Gerade jene, die mit der japanischen Kultur vertraut sind, vermissen in dem gebeutelten Land die kaiserliche Präsenz: "Ich habe die vergangenen sieben Jahre in Tokio gelebt, und ich erinnere mich, dass bei jedem größeren oder kleineren Erdbeben das Kaiserpaar nach zwei, drei Tagen in die Notunterkünfte kam, mit den Menschen sprach, sie in die Arme nahm und sie einfach weinen ließen", zitiert das Hamburger Abendblatt die Japanologin Gabriele Vogt von der Uni Hamburg.
Bei aller Verwunderung sollte man jedoch bedenken, dass Akihito von einem beachtlichen zeremoniellen Korsett umgeben ist: "Seine Funktion verbietet es dem Tenno, im Blaumann oder in Gummistiefeln die Katastrophenregion zu besuchen", erklärt Professor Vollmer. Dennoch: Eine Rede vom Palast hätte man durchaus erwarten können - erst recht, seit die Situation weiter eskaliere und sich in der Bevölkerung Panik ausbreite, findet der Münchner.
Dies ist nun - gerade noch rechtzeitig - geschehen: "Ich denke, der Tenno hat mit dieser Rede genau das Zeichen gesetzt, das seiner Rolle zukommt", sagt Vollmer. Die Äußerung des Kaisers sei jetzt von großer Bedeutung. Was der Tenno und seine Worte für die Menschen tatsächlich bedeuten, zeige sich gerade in dieser Situation, findet der Japanologe. Hätte sich der Tenno ausgerechnet in diesen schweren Zeiten nicht gezeigt, würde das auf eine tiefe Krise dieser Institution hindeuten. Das lange Schweigen habe bereits in gewisser Weise verdeutlicht, "dass die Beziehung zwischen dem japanischen Volk und seinem Symbol doch eher dürftig ist", sagt Vollmer.
Bilder aus Japan:Pure Verzweiflung
Aus Furcht vor der Atomkatastrophe bleiben die Menschen in Tokio in ihren Häusern. Die Metropole ist dunkel und verwaist. Die Krisenregion gleicht einer Trümmerwüste - und die Hoffung auf Überlebende schwindet.
Welche Bedeutung die Worte des Kaisers haben - auch wenn er nicht in Gummistiefeln vor Ort erscheint -, zeigt der Japan-Experte am Beispiel der Ansprache von Kaiser Hirohito, dem Vater des heutigen Tennos: Am 15. August 1945, es war der Tag der bedingungslosen Kapitulation Japans, appellierte Hirohito an sein Volk, "das Unerträgliche zu ertragen". Damals galt der Tenno noch als göttlich, als Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu-omikami, und es war das erste Mal, dass ein japanischer Kaiser zu seinen Untertanen sprach.
Wenig später erfolgte der Wandel vom Gott zum Menschen: Hirohito musste sich in seiner Neujahrsansprache von seiner göttlichen Abstammung distanzieren und erklären, dass seine Beziehung zum Volk nicht auf Mythen, sondern auf "Vertrauen und Zuneigung" beruhe. Akihito selbst vollzog diese Entmysthifizierung durch die Ehe mit Michiko, einer Bürgerlichen, die er beim Tennis kennengelernt hatte.
Heute besitzt der Kaiser keine politische Macht mehr: "Akihito, der auf einem riesigen Areal in Tokios Zentrum residiert, ist für das Volk praktisch unsichtbar", erklärt der Japan-Experte Vollmer. Darüber hinaus ist er auch nicht befugt, sich zu äußern, wie es ihm beliebt: Der kaiserliche Hof prüft jede Bemerkung, die den Palast verlässt.
Zwar verehren die Japaner den 77-Jährigen als Repräsentanten der ältesten Dynastie der Welt noch immer, und seine symbolische Bedeutung für das Volk ist immens. Dennoch hat sich der Kaiser aus aktuellen Dingen herauszuhalten. In der jetzigen Situation bedeutet das konkret: Erst musste sich die Regierung zur Lage im eigenen Land äußern, dann der Tenno.
Diese Voraussetzung, immerhin, war gegeben: Eifrig versuchte Japans Regierung, in Gestalt des Kabinetts-Chefsekretärs Yukio Edano auf allen TV-Kanälen seine Landsleute darüber zu informieren, wie sie mit der Katastrophe in Fukushima Daiichi (-1) umgeht. Leider bewirkte der Mann, der in seinem blauen Anzug wohl die Kompetenz eines Technikers vermitteln sollte, mit seinen Aussagen eher das Gegenteil. "Wenn die Japaner ihr Verhalten der Regierung anpassen würden, wäre längst Panik ausgebrochen", kommentierte Stephan Krug von der Umweltschutzorganisation Greenpeace die japanische Informationspolitik.
Vielleicht ist das der Grund, warum der Tenno so lange nicht zu seinem Volk sprach: dass seine tröstlichen Worte die Ratlosigkeit der Regierung nur noch deutlicher zutagetreten lassen.