DEUTSCHE PARTEI Der Abfall -
Komm mit uns, sagte der Esel, etwas Besseres als den Tod finden wir überall.
Brüder Grimm: Die Bremer Stadtmusikanten,
Nach einem runden Jahrzehnt besinnungsloser Mitläuferei ist die allertreueste Adenauer-Fraktion des Deutschen Bundestags - treuer oft als eingeschriebene Christdemokraten - verstümmelt auf der Strecke geblieben:
Neun Bundestagsabgeordnete der DP -Fraktion, einer fünfzehnköpfigen Mannschaft, die zeit ihrer Existenz eigene Politik durch gerade Haltung ersetzte, ließen am Freitag vorletzter Woche die restlichen sechs Fraktionskameraden als verlorene Rotte auf der Bonner Walstatt zurück, um ihre eigene parlamentarische Existenz beim CDU-Heerhaufen in die Zukunft hinüberzuretten.
Die sechs sind keine Fraktion - Mindeststärke: 15 Mann - mehr und haben deshalb zum Beispiel alle bisherigen Ansprüche auf diätenträchtige Mitarbeit in den Ausschüssen des Parlaments, in denen die eigentliche Arbeit geleistet wird, verloren.
Heinrich Hellwege, niedersächsischer Ministerpräsident im Ruhestand und Bundesvorsitzender der Deutschen Partei im Notstand, ist seither nur noch Galionsfigur einer niedersächsischen Landespartei nebst rechtsradikalem Ableger im liberal-sozialistischen Stadtrat Bremen. Hellweges Unterfangen, aus seiner niederdeutschen Wagenburg bis in die Bonner Zitadelle der Bundespolitik vorzudringen, ist an seinen redlichen Illusionen über die eigene Kraft und am Selbsterhaltungstrieb seiner Bundesparlamentarier gescheitert. Hellwege: »In mir ist manches zerbrochen.«
Am Dienstag vorletzter Woche noch hatten die 15 Bonner Deutschparteiler auf Antrag des Abgeordneten Tobaben in einem Fraktionsbeschluß einander geschworen: Jeder, der die Fahne verlassen wolle, werde diese Absicht so - zeitig kundtun, daß die Zurückbleibenden ihre Situation noch vor den Sommerferien neu überdenken könnten.
Tobaben hatte diesen Beschluß nicht ohne Grund provoziert: Gerüchte waren durch Bonn geweht, die DP-Abgeordnete Margot Kalinke trage sich - gleich mehreren DP-Parlamentariern - schon seit Anfang Juni mit Übertrittsabsichten zur CDU. Man wolle nur noch bis zum 7. Juli warten, an welchem Tage der übertrittswillige Bundesratsminister von Merkatz 55 Jahre alt und damit
Anwärter auf eine Ministerpension werde. Um solche Ansprüche - so hieß die Version - nicht zu gefährden, falls der Kanzler das bei Seinem DP-Zerfall fällige Rücktrittsersuchen Merkatzens wider alle Übung akzeptieren sollte, sei der Kalinke-Ausbruch bis nach dem 7. Juli verschoben.
Da nun aber am Dienstag vorletzter Woche alle Bonner DP-Parlamentarier einander versprochen hatten, eine Retraite zur CDU rechtzeitig anzumelden, eine derartige Vorankündigung aber nicht vorlag, fand Heinrich Hellwege nichts dabei, zwei Tage später fern von Bonn arg- und ahnungslos durch Hamburg zu spazieren.
Am Abend beguckte er sich mit der vorsichtigen Zurückhaltung eines niederdeutschen Kleinstädters samt Gattin Lieschen und Tochter Erika die Anreißerphotos auf Hamburgs Reeperbahn. Nach bedächtiger Prüfung entschied das Familienhaupt, Frau und Tochter in eine »anständige Fischbratküche« zu gebackenem Aal zu führen. Mit sich und der Welt zufrieden, legte sich Hellwege noch vor Mitternacht zur Ruhe nieder.
Zur selben Stunde aber kamen in Bonn fünf Parteifreunde des in Hamburg schlafenden Führers zusammen, um sich die Flucht von Hellweges Fahne in die Hand zu geloben.
Die DP-Bundestagsabgeordnete Margot Kalinke hatte die Fraktionskollegen Seebohm, Steinmetz, Preiß und Probst in ihr hauptstädtisches Junggesellinnen -Heim in der Hartsteinstraße 1 geladen. Drei Mitverschwörer - Merkatz, Schild und Preusker - waren auf Reisen; der letzte Konspirant, der gerade von einer Krankheit genesene Abgeordnete Ripken, blieb auf Anraten der Gastgeberin zu Haus. Kalinke zu Ripkens Gattin: »Es wäre zu aufregend für ihn.«
Bei Frau Kalinkes Wein wurden sich die konservativen Volksvertreter schlüssig, daß Hellweges Deutsche Partei eine parlamentarische Zukunft nicht mehr sichern könne. Heil, so erkannten sie, war nur noch im Schoß der Allmutter CDU zu finden.
Für sich und namens der verhinderten Politiker formulierten die DP-Deserteure vorsorglich das Abfall-Dokument, das ihren Entschluß zum Parteiwechsel vor dem Wählervolk im strahlendsten Weiß einer politischen Gewissensentscheidung erscheinen lassen sollte.
Die zielstrebige Chef-Verschwörerin Margot Kalinke, nach einem älteren Hellwege-Wort »der einzige Mann in der Deutschen Partei«, nahm diesen vorbeugenden Persilschein in Verwahrung; die Herren überließen es ihr, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die Fraktion - wie vereinbart - gesprengt werden sollte.
Die Abgeordnete wünschte die Austrittserklärung für sich und ihre acht Parteigenossen nicht sogleich zu veröffentlichen - bis am nächsten Tag die »Frankfurter Rundschau« diese Hinhalte-Absicht durchkreuzte.
Der Bonner »Rundschau«-Mitarbeiter Reimer Siemsen berichtete am Freitag, dem 1. Juli, über ein Gespräch, das er mit dem - von der Kalinke-Verschwörung ausgeschlossenen - DP-Fraktionschef Herbert Schneider geführt hatte. Siemsen über seinen Gesprächspartner: »Der Fraktionsvorsitzende Schneider (saß) wie ein geschlagener Mann in seinem Arbeitszimmer im Bundeshaus. Die Augen halb geschlossen, mit leiser, undeutlicher Stimme gab er zu, daß die Gefahr einer Parteispaltung für die DP heraufbeschworen sei. Er wirkte verstört und abgekämpft.«
Der einarmige Fliegerhauptmann a. D. Schneider, der sich gern seiner schlichten Denkart rühmt, war in der Tat dem Zusammenbruch nahe. Ihm schwante, daß er nach wochenlangem Zaudern auf die falsche Seite gefallen war und den Anschluß an die zur Fahnenflucht startbereiten Freunde verpaßt hatte. Die Mehrzahl der fünfzehn DP-Abgeordneten war, so erkannte Schneider, auf dem Marsch in die CDU - er selber hingegen war als Weggefährte nicht erwünscht.
Nur so ließ sich Schneiders blinde Wut erklären. Zu Reporter Siemsen: »Tun Sie mir einen Gefallen. Schreiben Sie, daß Frau Kalinke bei der DP sowieso nicht mehr aufgestellt wird. Daher gehört sie zu den eifrigsten Befürwortern eines Übertritts zur CDU.«
Über die mutmaßliche Todesstunde seiner Fraktion spekulierte der ahnungsvolle, aber uninformierte Fraktionshauptmann, der DP-Bundesratsminister von Merkatz werde »am 7. Juli 55 Jahre alt und pensionsberechtigt«. Registrierte Reporter Siemsen in seinem »Rundschau«-Bericht: »Dem Besucher verschlägt es den Atem... In diesem Moment wird klar, die DP ist verloren.«
Die »Frankfurter Rundschau« mit der Siemsen-Story »Eine gute Nacht für die Partei« war am Freitagmorgen in der Bundeshaus-Buchhandlung ausverkauft. Margot Kalinke, telephonisch auf Schneiders Striptease-Interview hingewiesen, schickte einen Bundeshausdiener in die Stadt und ließ sich ein Exemplar holen.
Auf dem Weg zum Abschiedsfrühstück vor den Parlamentsferien, zu dem Bundestagspräsident Gerstenmaier für 13.15 Uhr die Mitglieder des Ältestenrats ins Zimmer 119 P des Bundeshauses gebeten hatte, bekam Margot Kalinke das Frankfurter Blatt überreicht; sie las es bei Tische. Ungeduldig erwartete sie das Ende des Mahls.
Vor der Bundeshaus-Buchhandlung gelang es der Parlamentarierin, den »Rundschau«-Korrespondenten Mörbitz zu stellen. Peinlich befragt, bestätigte Mörbitz, sein Kollege Siemsen habe die Bekundungen des Fraktionschefs Schneider exakt wiedergegeben. Margot Kalinke später: »Jetzt mußte ich handeln. Rufmord ist in der Politik das schlimmste. Und Schneiders Bemerkung über die Pensionsgrenze des Herrn von Merkatz war Rufmord.«
Frau Margot hielt sich nicht lange auf: »Herrn Schneider konnte ich leider nicht mehr treffen, der war schon abgereist. Sonst hätte ich ihm ein paar Sachen gesagt, die nicht sehr gewählt gewesen wären.« Doch fand sie, begleitet von ihrem DP-Gesinnungsfreund Preiß, gegen halb drei Uhr den CDU -Fraktionsgeschäftsführer Will Rasner in dessen Büro. Sie übergab ihm die Erklärung vom Vorabend, mit der Rasner unverzüglich zu CDU-Fraktionspapa Krone eilte.
Margot Kalinke stiefelte derweil in Ihr Zimmer unter dem Bundeshaus -Dach zurück und rief die Deutsche Presse-Agentur an: »Ich werde Ihnen gleich mal etwas rüberschicken.« Und alsbald schickte sie, die in eben jener Minute aus der DP-Fraktion sozusagen rechtskräftig ausschied, den Boten dieser Fraktion mit der Hiobspost zu den Nachrichten-Agenturen. Ihre Sekretärin gab sie dem Boten sicherheitshalber mit.
Gegen 17 Uhr, am Freitag vorletzter Woche, verbreiteten die Nachrichten-Agenturen schließlich, was Margot Kalinke und deren Freunde sich am Abend zuvor ausgedacht Hatten: »Die gefahrvolle Lage unseres Vaterlandes gebietet die Fortsetzung der bisherigen Regierungspolitik. Diesem Ziele dient ... nicht das weitere Festhalten an kleinen Parteien, die nur zersplittern und zahlreiche Wählerstimmen nicht zum Tragen bringen.
»Daher glauben wir, daß wir unseren Kampf im Rahmen der großen Partei, der CDU/CSU, mit der wir seit elf Jahren in engster. Partnerschaft an Deutschlands Wiederaufbau erfolgreich zusammengearbeitet haben, fortsetzen sollten. Wir sind überzeugt, daß uns zahlreiche Freunde folgen werden.«
Dieser DP-Flüchtlingsausweis trug die Namen
- Margot Kalinke,
- Hans-Joachim von Merkatz,
- Ludwig Preiß,
- Victor-Emanuel Preusker,
- Wilhelm Probst,
- Georg Ripken,
- Hans-Christoph Seebohm,
- Heinrich Schild und
- Willy-Steinmetz.
Von den fünfzehn DP-Abgeordneten
- nach der Geschäftsordnung des Bundestags die Mindestzahl für eine Fraktion - hatten nur
- Herbert Schneider,
- Heinz Matthes,
- Fritz Logemann,
- Ludwig Schneider (Lollar),
- Helmuth Schranz und
- Peter Tobaben
nicht unterzeichnet.
Erst Zeitungsleute unterrichteten die Hinterbliebenen vom Exitus ihrer Fraktion. Fraktionspressechef Pfeifer weinerlich: »So etwas ist doch unmöglich.« Abgeordneter Matthes, der gerade, wie jedes Jahr zur Sommerpause, den Fraktionsangestellten eine Flasche Wein kredenzte: »Na, denn prost.«
Parteiführer Hellwege zeugte unterdes in der Hamburger Lettow-Vorbeck -Kaserne vor Hauptleuten und Majoren der Bundeswehr ahnungslos für Konrad Adenauers Außenpolitik: Er, Hellwege, und seine Deutsche Partei seien es gewesen, die an der Außenpolitik des Kanzlers stets unwandelbar festgehalten hätten.
Abends gegen sechs Uhr war der getreue Heinrich wieder in seinem Hamburger Quartier, dem Hotel »Reichshof«, wo am Telephon ein Redakteur der Associated Press auf ihn wartete und ihn um einen Kommentar zu dem Dissidenten-Dokument bat, in dem die Überläufer ihren Abfall von Hellwege ausgerechnet damit begründet hatten, daß nur so »die bisher von der Bundesregierung verfolgte Politik, insbesondere auf außenpolitischem Gebiet, energisch und unbeirrt« fortzusetzen sei.
Die elfjährige Geschichte der Bonner DP-Fraktion war zu Ende. Hellwege erschöpft: »Die letzten Jahre sind für mich furchtbar gewesen.«
Das Furchtbarste war entstanden, weil Hellwege und seine Gefolgschaft von Niedersachsen aus, wo sie als traditionsreiche konservative Mittelstaridspartei eine gesicherte Existenz geführt hatten, über die Landesgrenze hinaus bis nach Bonn vorstießen und dabei den Halt ihres von Weser und Elbe begrenzten Weltbildes verloren.
Bei der Gründung der Hellwege -Partei im Juni 1945 in Hellweges Väterhaus zu Neuenkirchen über Horneburg an der Niederelbe hatten sich die Parteiväter durchaus noch als Heimatpolitiker gefühlt. Das Sammelbecken ihrer politischen Auffassungen tauften sie »Niedersächsische Landespartei« (NLP).
Die NLP hatte damals keineswegs den Ehrgeiz, als rechter Flügel der neuen deutschen Parteienformierung in allen Besatzungszonen zu agieren. Wie fern im Süden Ludwig Lallinger und später Joseph Baumgartner mit ihrer Bayernpartei ein verstaubtes Wunschbild von politischen Zuständen entwarfen, die ihnen für ihre engere Heimat erstrebenswert erschienen, so war die Hauptforderung des ersten NLP-Programms ein Staat »Groß-Niedersachsen«, der »im Rahmen eines föderativen deutschen Reiches« aus Hannover, Oldenburg, Schleswig-Holstein und Teilen von Westfalen gebildet werden sollte.
Die restlichen Programmpunkte beschränkten sich auf die Deklamation der landläufigen Ziele einer gemäßigtkonservativen Mittelstandspartei mit agrar-protestantischem Kern.
Der heimatkundlich versierte Hellwege ließ sich durch die Anwesenheit britischer Besatzer inspirieren, als er seiner Partei in Erinnerung an hannoversche - Herrscher auf Britanniens Thron* das zwar historisch weit gespannte, aber geographisch eng lokalisierte Ziel setzte: »Und wiederum fällt unserem Niedersachsen, unserem Niederdeutschland ... eine der wichtigsten Aufgaben unter den deutschen Ländern zu, nämlich wieder die tausendjährige niedersächsische Mission aufzunehmen: als Übergangsbrücke und Bindegelenk zur angelsächsischen Welt.«
Heinrich Peter Hellwege, am 18. August 1908 in eine allzeit welfische Familie hineingeboren, hatte solche Weltschau schon mit der Muttermilch eingesogen: »Ich wurde im althannoverschen Sinne erzogen. Mein Vater (Bäcker und Gemischtwarenhändler in Neuenkirchen) und mein Großvater haben einen ununterbrochenen Kampf gegen das Unrecht geführt, das dem hannoverschen Volk von Preußen zugefügt wurde.«
Das 1946 durch die Gründung des Landes Niedersachsen gesühnte »80 jährige Unrecht« sehen die Marsch- und Geest-Deutschen darin, daß Bismarck 1866 den blinden Hannoveraner-König Georg V. verjagte und dessen Königreich seinem expansiven Preußenstaat einverleibte.
Hellwege, der im Gegensatz zu manchen später hinzugekommenen DP -Freunden die Farben Schwarz-Weiß -Rot ablehnt, sieht in der 1866er-Liquidation des hannoverschen Königreiches durch Preußen die Wurzel aller zeitgenössischen Staatskünste, bei denen Macht vor Recht geht.
Die angestammte Treue zum angestammten Herrscherhaus blieb im Falle Hellwege nicht ohne Verfolgung: »Schon in frühester Jugend kam ich mit der preußisch eingestellten Lehrerschaft meiner Schule in Konflikt. Ich sah mich gezwungen, in mehreren Aufsätzen, die noch heute vorliegen, für das Recht und die Ehre unseres Vaterlandes einzutreten, was für mich aber ein weiteres Verbleiben auf der Schule unmöglich machte.«
Kommentierte zwanzig Jahre später, 1946, ein Historiograph der Niedersächsischen Landespartei die schwere Schulzeit seines Führers: »Für überzeugte Niedersachsen gab es auch im damaligen Deutschland keine. Entfaltungsfreiheit.«
Ein politischer Gegner aus Hellweges Heimat berichtete nüchtern über die Konsequenz solcher Umstände: »H. H. ... erreichte nicht das Abitur, obgleich dies unter seinen Anhängern allgemein angenommen wird.«
In der aufgeschlossenen Hanseatenstadt fand der Schulabgänger Hellwege Zuflucht als kaufmännischer Lehrling der Im- und Exportbranche. Hellwege: »Von hier aus bin ich, wie schon zwei
Generationen vor mir es getan haben, für die Errichtung eines freien Niedersachsens im Rahmen des deutschen Vaterlandes eingetreten.«
In der Deutsch-Hannoverschen Partei, die vor und nach 1918 für die Wiederherstellung eines souveränen Königreichs Hannover unter der Welfenkrone wirkte, erklomm der Jungpolitiker sein erstes Amt als Kreisvorsitzender und warb für seiner Väter Welfenglauben.
1933 verzog Hellwege sich in den niedersächsischen Untergrund. Er erinnert sich heute, daß er die Eingliederung der »Deutschen Legion« - der welfischen Jugend - in Hitlers SA »unter den Augen der Gestapo« verhindert habe. Am heimischen Herd in Neuenkirchen und hinter dem Tresen des vom Vater geführten Ladengeschäfts fand Hellwege die Muße, seine politische Konzeption durch Spezialstudien niedersächsischer Geschichte zu komplettieren.
In Langensalza, wo 1866 das Schicksal des - blinden - Welfenkönigs besiegelt wurde, gedachte der Neuenkirchner Kaufmann gemeinsam mit gleichgesinnten Konservativen - »den Männern der niedersächsischen Freiheitsbewegung« - im Jahre 1936 am 70. Jahrestag dieser Schlacht: Hitlers Diktatur schien dem Heimatpolitiker und bekennenden Christen die konsequente Fortsetzung des preußischen Unrechts an Hannover zu sein. Immerhin fand er damals privates Glück in der Verbindung mit seiner Gattin Lieschen, die ihm drei Kinder einen Sohn, zwei Töchter - schenkte. Sohn Johann ist heute freiwillig für 18 Monate bei der Bundeswehr, Tochter Gisela studiert in Köln slawische Sprachen, Tochter Erika dient dem Vater als Privatsekretärin.
Heinrich und Lieschen Hellwege besserten damals ihre anfänglich kargen Einkünfte der Gemischtwarenhandlung (Hellwege: »Ich habe auch Tage im Leben gehabt, wo ich nichts zu essen hatte") durch einen Obstversand aus dem niederelbischen »Alten Land« und den Handel mit Pflanzenschutzmitteln.
Bald mußte Frau Hellwege den Betrieb allein führen, weil Heinrich ins Feld zog. Rühmt der Gatte heute: »Sie hat die Arbeit ausgezeichnet fortgesetzt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß das schwer ist für eine Frau und Mutter. Sie wissen, solche Fässer sind ja nicht leicht zu bewegen.«
Obwohl Hellwege nur für a. v. (arbeitsverwendungsfähig) befunden worden war, hatte Hitler keinen Tag auf den Waffendienst des stämmigen Niedersachsen verzichten wollen. Zusammen mit seinem Lastwagen mußte der Handelsmann schon Ende August 1939 unter die Waffen treten. Sechs Jahre später, 1945, endete seine Militärkarriere: Stabsgefreiter. Hellwege, Schirrmeister der Flak, kehrte - ohne Lkw - nach Neuenkirchen zurück.
Das Land brauchte nicht lange auf den Appell zur heimatgebundenen Sammlung zu warten. Im Sommer 1945 war Hellwege, 37jährig, als Begründer der Niedersächsischen Landespartei der, jüngste Parteiführet im geschlagenen Deutschland.
Aus dieser Frühzeit der Bewegung stammt ein literarisches Porträt des alten Flak-Stabsgefreiten und neuen Heimatpolitikers: »Schwer ist sein Schritt, karg seine Geste. Nur der Blick des freundlichen Auges verrät die dauernde Spannung von Gefühl, Geist und Willen... Mit Worten aber geht Heinrich Hellwege sparsam um. Nur wenn es gilt, das Höchste zu bekennen oder zur entscheidenden Tat aufzurufen, dann scheint es, als ob in ihm Dämme brechen, und man fühlt sich an den Ausspruch eines niederdeutschen Dichters erinnert: 'Wenn aber das Urmaul dieses Landes zu reden beginnt, dann offenbart es dessen innerstes Wesen und dessen letzte Geheimnisse'.«
Parteichef Hellweges freundliches Auge blickte nach ersten schönen Erfolgen bei niedersächsischen Landtagswahlen (z. B. 1947: 17,9 Prozent der Stimmen) über die Grenzen der engeren Heimat hinaus und wurde gewahr, daß es dem neudeutschen Parteigefüge an einer Rechtspartei fehle. Die Treue zum angestammten Herrscherhaus ("Recht siegt, der Macht zum Hohne. Gott schütz unsere Welfenkrone"), die nichtniedersächsischen Konservativen kaum abzuverlangen war, trat in Reden und Schriften mehr und mehr in den Hintergrund. Neue Partei-Ideologie: Konservatismus schlechthin plus Föderalismus.
In der Heide- und Herzogstadt Celle wurde die Niedersachsen-Partei schon im Sommer 1947 - zwei Jahre nach ihrer Gründung - in »Deutsche Partei« umgetauft. Erste auswärtige Landesverbände bildeten sich in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein. Mühelos verdaute die Partei nun einen Schwarzweißroten wie Herbert Schneider aus Bremerhaven, vor dem die Altvorderen der Welfen-Partei ebenso erschrocken wären wie vor Hans -Joachim von Merkatz, der jenem Hause Hohenzollern anhing (und heute noch anhängt), das den letzten Hannover-König 1866 um Thron und Land gebracht hatte.
Am Grundgesetz arbeiteten die Deutschparteiler zwar mit: Hans-Christoph Seebohm brachte die Farben Schwarz-Rot -Gold in Vorschlag, in denen der Gesinnungs -Sudete (Adenauer: »Seebohm wurde im Sudetenland gezeugt") allerdings weniger die Farben der Paulskirchen-Bewegung von 1848 als die Couleur der habsburgischen Alt -Reichsfahne sah. Auf DP-Initiative ging auch damals die Abschaffung der Todesstrafe in Westdeutschland zurück.
In der Schlußberatung aber lehnten die Hellwege-Leute - wie auch die Bayern - das Grundgesetz ab, weil es ihnen zu zentralistisch war. Was seither aus der Partei geworden ist, wurde später deutlich sichtbar, als die neokonservativen Deutschparteiler um Herbert Schneider die Wiedereinführung der Todesstrafe forderten und das wichtigste im Grundgesetz verbürgte Recht der Bundesländer, die Kulturhoheit, auszuhöhlen suchten, indem sie die Schaffung eines Bundeskultusministeriums beantragten.
Bei der ersten Bundestagswahl (1949) erhielt die Deutsche Partei 17,8 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen in Niedersachsen, 18 Prozent in Bremen, 13,1 Prozent in Hamburg und 12,1 Prozent in Schleswig-Holstein.
Im Bundesdurchschnitt schrumpften diese achtbaren Erfolge zwar auf vier Prozent zusammen. Weil nach dem ersten Bundeswahlgesetz eine Partei aber schon dann ins Parlament kam, wenn sie in einem Bundesland fünf Prozent der Stimmen erreichte, zog Hellweges Partei mit siebzehn Abgeordneten in den ersten Bundestag ein.
Neben ihr saßen in der Bonner Volksvertretung von 1949 außer CDU/CSU, SPD und FDP noch andere Hintersassen der neudeutschen Parteien-Vielfalt.
- Bayernpartei (mit 17 Mandataren),
- Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung
(WAV), Tummelplatz bayrisch-sudetenländischer Zukurzgekommener unter dem Harlekin-Politiker Alfred Loritz (12),
- Zentrum, von Adenauer um die Anerkennung als alleinseligmachende katholische Partei gebracht (10),
- Deutsche Rechts-Partei, deren Fraktionsführer Richter (alias Rößler) sein Wahlvolk unter falschem Namen vertrat.
Drei Unabhängige und ein südschleswigscher Neu-Däne staken im hintersten Gestühl. Von links machte Heinz Renner namens seiner 14 kommunistischen Fraktionskollegen die bissigsten Zwischenrufe des Hohen Hauses.
Die DP aber wurde von Kanzler Adenauer - neben der FDP - für geeignet befunden, ins erste Bundeskabinett einzuziehen. Sie sollte sich, wie es ein prominenter Christdemokrat formulierte, »als Hauskatze der CDU die rechtsradikalen Nagetiere einverleiben«. Heinrich Hellwege wurde Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates, sein Parteifreund Seebohm Verkehrsminister.
Hellwege rückblickend: »Wir haben uns dem Ruf des Bundeskanzlers nicht versagt, weil der Ausschluß der Sozialdemokratie von der Regierungsverantwortung unser oberstes Wahlkampfziel gewesen war ... Wenn Sie von mir eine kurze Formel verlangen, so würde ich sagen: Wir waren die Korsettstange dieser Koalition. Es muß aber auch einmal gesagt werden, daß wir als Partei des rechten. Flügels Opfer über Opfer gebracht haben, als wir von Fall zu Fall dem Kanzler die Treue hielten.«
Kanzler-Eiche Hellwege, sturmfest und erdverwachsen: »Wir haben ihm die Treue gehalten, obwohl wir wußten, daß nicht alle Wechsel honoriert werden würden. Wir haben seine Politik oftmals konsequenter unterstützt, als es seine eigenen Freunde taten.«
Ein Wechsel freilich wurde honoriert: Das zweite Bundeswahlgesetz für die 1953er Wahl schrieb vor, wer künftig in den Bundestag wolle, müsse nicht mehr nur fünf Prozent der abgegebenen Stimmen in einem Bundesland, sondern fünf Prozent der Stimmen im gesamten Bundesgebiet (ersatzweise: 1953 ein Direktmandat und im dritten Bundestagswahlgesetz 1957 drei Direktmandate) erreichen.
Für die DP begann der ebenso traurige wie peinliche Handel: Mit dem immer weitergehenden Verzicht auf eigene Meinung erkaufte sie sich Wahlhilfe von Adenauers CDU/CSU. In neun Wahlkreisen traf die DP Absprachen mit der CDU, so daß sie, obgleich
sie nur 3,3 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen in Westdeutschland erzielte, zehn Direktmandate gewinnen und mit 15 Abgeordneten in den zweiten Bundestag einziehen konnte.
Per Wahlhilfe der CDU rückten auch. noch drei Zentrumsabgeordnete in den zweiten Bundestag; hinzu kam - aus eigener Kraft - der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), dessen 27 Abgeordnete von den zeitbedingten Habenichts-Gefühlen der Flüchtlinge ins Parlament geschwemmt. worden waren.
Konrad Adenauer war durchaus geneigt, Heinrich Hellwege auch in seinem zweiten Kabinett zu dulden, von Hans -Christoph Seebohm aber wollte er nichts mehr wissen. Parteichef Hellwege demonstrierte Mannesmut und Freundestreue: »Herr Bundeskanzler, Heinrich Hellwege allein können Sie nicht haben, nur Hellwege und Seebohm zusammen.« Adenauer gab nach
In dieser zweiten Wahlperiode des Bundestags zwischen 1953 und 1957 geschah es, daß FDP und BHE ausscherten, die von ihnen gestellten Minister aber ihren Parteiaustritt erklärten, um weiter in Konrad Adenauers Kabinettsgestühl sitzen zu können.
Schon 21 Monate nach dem Einzug von 27 zu allem entschlossenen BHE-Vertretern in den zweiten Bundestag hatten sich ihre beiden Hauptsprecher, Waldemar Kraft und Theodor Oberländer, so sehr an bundesministerielle Würden gewöhnt, daß sie sich von den schlichten Abgeordneten ihrer Partei absetzten. Zusammen mit einigen Gesinnungsgenossen formierten sie im Juli 1955 eine eigene Kraft/Oberländer-Gruppe im Parlament, womit die Keime des allmählichen Verfalls in den BHE gesenkt worden waren. Ihr Beispiel machte zwar Schule, ihnen selber aber hat es auf die Dauer nichts genützt: Heute sind beide nicht mehr im Kabinett.
Sieben Monate später, Februar 1956, zogen 16 liberale Volksvertreter aus der FDP-Fraktion aus, um sich fürderhin unter dem Namen »Freie Volkspartei« von ihrer alten politischen Heimstatt in einem einzigen Punkt zu unterscheiden: für Adenauer zu sein, indes die FDP seinerzeit, von ihren Düsseldorfer Jungtürken Weyer und Döring aufgestachelt, gegen den Kanzler war.
Die Bonner FDP-Minister Blücher, Preusker und Schäfer begnügten sich künftig, wie zuvor Kraft und Oberländer, mit dem Kanzlerdienst ohne nennenswerten Parteianhang. Minister ist auch von ihnen keiner mehr. Der liberale Wechselbalg FVP, den sie in die Welt gesetzt hatten, war nicht lebensfähig. In der Deutschen Partei fanden seine Erzeuger, an Parteiwechsel nun schon gewöhnt, bald die nächste Gelegenheit, fürs Vaterland zu wirken.
Die Deutsche Partei blieb damals von derlei Zerreißproben noch verschont, aber die Kernmannschaft der Partei, Niedersachsens Welfen, die im Kampf gegen die niedersächsische CDU herangewachsen waren, sahen doch mißtrauisch auf die überwältigende Eintracht ihrer Bonner Vertreter mit dem CDU -Kanzler, die eines Tages womöglich ähnliche Effekte würde haben können.
Mitten während der zweiten Legislaturperiode des Bundestags, 1955, wurde Heinrich Hellwege vom Kanzler ausersehen, nach Hannover zu gehen, um die sozialdemokratische Landesregierung des »roten Welfen« Hinrich Wilhelm Kopf abzulösen. Hellwege nahm alle antisozialistische Kraft zusammen: DP, CDU, FDP, BHE.
Die hannoversche Bürger-Regierung Hellwege hielt sich nur zwei Jahre an der Macht. Als die FDP es Ende 1957 für richtig hielt, sechs bräunliche Vertreter der Deutschen Reichs-Partei als Hospitanten in ihren sehr freidemokratischen Schoß aufzunehmen, fiel Hellweges Vier-Parteien-Kabinett auseinander: Er selbst hielt sich indes auf den Beinen und zog - einst von Bonn zur Ablösung Kopfs in Marsch gesetzt - den sozialdemokratischen Welfen als seinen Stellvertreter und Innenminister ins Regierungslager.
Das Gelingen dieses Kabinettstückchens weiß Hellwege mit der »Moralischen Aufrüstung« zu erklären. Durch regelmäßige Reisen nach Caux wappnete er sich für die Tagespolitik: »Diese Regierungsbildung 1957, da hat nun jeder gedacht, der Mann hat mit Hinrich Kopf gekungelt. Ich führe das - bei mir jedenfalls - auf den Einfluß von Caux zurück, daß wir uns so schnell fanden, daß wir uns offen und ehrlich begegneten. Und nur so war das möglich. Jeder hat gestaunt, in einem Tag war die Regierung da.«
Obwohl die CDU auch an dieser neuen Regierung Hellwege beteiligt war, verübelte der Kanzler seinem ehemaligen Bundesratsminister Hellwege das Bündnis mit den Roten. Adenauer: »Seit der Herr Hellwege nach Niedersachsen gegangen ist, ist er nicht mehr der alte.«
Im gleichen Jahr standen die dritten Bundestagswahlen an, und der Kanzler hatte Mühe, die niedersächsische CDU zu überreden, der Deutschen Partei Wahlhilfe zu gewähren. Die Christdemokraten in der Provinz verstanden kaum noch, welchen Nutzen das DP -Hilfsvölkchen für sie haben könnte.
Die CDU machte zunächst zur Bedingung, sie könne nur helfen, wenn die DP weder Frau Margot Kalinke noch den Abgeordneten Elbrächter wieder aufstelle. Hellwege, treu und bieder, setzte die beiden schließlich doch durch.
Die DP konnte nur 3,4 Prozent aller Zweitstimmen auf sich vereinen, aber sie errang sechs Direktmandate, fünf davon freilich nur mit Kanzlers Hilfe. Die Fiktion, Chef einer Mehrparteienregierung zu sein, schien dem Kanzler derlei Manipulation wert.
Unverdrossen boxte Hellwege - zusammen mit Fraktionschef Schneider - den Parteifreund Seebohm wieder bei Adenauer als Verkehrsminister durch.
Seebohm verehrte seinem Parteichef Hellwege ein Seebohm-Porträt in Kohle, das heute in Hellweges Haus in Neuenkirchen zwischen den Konterfeis toter und lebender Welfen sowie einem Stich, der die Schlacht von Langensalza darstellt, an der Wand der Hausveranda hängt. Widmung: »Herrn Bundesminister Hellwege in Freundschaft und Dankbarkeit zur Erinnerung an ein gemeinsames Ringen für Deutschland.« Dazu Heinrich Hellwege letzte Woche: Sie sehen, wir haben es noch nicht abgenommen.«
Trotz seiner Erfolge bei Konrad Adenauer wurde Heinrich Hellwege allmählich der Tatsache inne, daß mit der DP unter den obwaltenden Verhältnissen - Abhängigkeit von der CDU, schrumpfende Anhängerschaft - auf die Dauer kein Staat zu machen war. Überdies bemächtigte sich der Bonner DP -Bundestagsfraktion die nackte Angst.
Seit Ende 1958 war sie nur noch fünfzehn Mann stark - die Kollegen Elbrächter, dessen Kandidatur die CDU hatte verhindern wollen, und Eisenmann traten damals zur CDU beziehungsweise FDP über. Jeder weitere Austritt mußte die DP-Mannen ihre Fraktionsrechte kosten.
In dieser Dauer-Nervenkrise wurden die Abgeordneten, von denen jeder also nicht nur ein gewöhnlicher Parteiüberläufer, sondern jeden Tag Bruder Kain für alle sein konnte, von Heinrich Hellwege praktisch alleingelassen. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Margot Kalinke: »Hellwege führt nicht. Er schweigt, wo er reden und handeln müßte.«
Die Frage ist allerdings, wie Heinrich Hellwege wohl hätte handeln sollen, ohne die Parteieinheit zu gefährden. Ideologische Fragen spielten dabei schon keinerlei Rolle mehr. Es ging um die nackte Existenz. Die Bonner DP-Leute sahen ihr Heil in weiterer Verklammerung mit der CDU, den niedersächsischen Deutschparteilern schwebte eine Art »dritte Kraft«, eine Sammlung der Kleinen vor. Was Hellwege auch immer tun würde, einen Teil seiner Partei hätte er aufs Spiel gesetzt.
Von SPD-Kopf, der sich in Hannover mit FDP und EHE gegen DP und CDU verbündete, im Mai 1959 in die Opposition geschickt, hat der Welfen-Chef das vergangene Jahr, in dem sich das Schicksal seiner Bonner Fraktion, wenn nicht seiner Partei, entschied, im abseits gelegenen Neuenkirchen verbracht; im Wald und auf der Heide ("Schießen macht mir nicht so viel Freude, vor allem beobachte ich das Wild") sann er über Lösungsmöglichkeiten nach.
In Neuenkirchen machte er allerdings Versuche, die politische Existenz seiner Parteifreunde nicht mehr in der Gewalt der Wähler zu lassen, sondern in die Hand von Mächtigeren zu geben: Vor acht Monaten, im vergangenen Oktober, begann er mit dem - inzwischen entschlafenen - niedersächsischen CDU-Führer Adolf Cillien über eine Fusion von DP und CDU zu verhandeln.
CDU-Oberkirchenrat Cillien hatte das Ansinnen Hellweges abgelehnt, der Deutschen Partei durch eine Änderung des Wahlgesetzes oder noch einmal - wie bei der Bundestagswahl 1957 - per Wahlkreisabsprache über die Fünf-Prozent-Hürde vor den Türen des Hohen Hauses am Rhein hinwegzuhelfen. Die Christdemokraten weigerten sich, die Fünf-Prozent-Klausel in eine 2,5-Prozent-Klausel umzuwandeln, weil das nicht nur der DP, sondern auch dem BHE zugute gekommen wäre.
Cillien machte den Gegenvorschlag, die Organisationen der beiden »doch auf dem gleichen Boden stehenden« Parteien miteinander zu verbinden, wobei für Hellwege ein hohes Amt in der CDU-DP-Gemeinschaft abfallen sollte. Alle niedersächsischen DP-Parlamentarier sollten überdies ihre Bundestags-, Landtags- und Kommunalmandate behalten dürfen.
DP-Boß Hellwege und sein hannoverscher Generalstäbler Bockenkamp waren nicht abgeneigt, wenn auch noch nicht, entschlossen, den Handel zu wagen. Bockenkamp damals: »Ein Bauer hat uns einen Ochsen angeboten, und wir haben ihn weder angenommen noch zurückgewiesen.«
In Heinrich Hellweges guter Stube zu Neuenkirchen im Alten Land wurde der Ochsen-Handel am 3. Oktober vergangenen Jahres bei Schinken und Korn (Cillien: »So einen Frühstückstisch habe ich noch nicht gesehen") beschnackt. Cillien schied guter Hoffnung.
Vier Wochen später aber mangelte es dem DP-Chef - von Freunden »Heinrich Cunctator"* genannt - an der Entschlußkraft, die mit Cillien angeknüpften Verhandlungen über eine Fusion mit der CDU vor dem in der Reiterstadt Verden zum Landesparteitag versammelten Fußvolk durchzusetzen. Nie robust genug, notfalls auch einmal seine Freunde zu brüskieren, ließ Hellwege dem Übermut der Parteitagsdelegierten die Zügel schießen, statt mit ihnen ernsthaft und konsequent die schmerzliche, aber notwendige Diskussion über die Zukunft der Partei zu führen.
Die an diesem Herbsttag noch bestehende Chance, den widerstrebenden niedersächsischen Landesverband und die zur CDU drängende Bundestagsfraktion der DP ungespalten als Hausmacht in ein Arrangement mit den Christdemokraten einzubringen, ging in schwächlicher Kraftmeierei unter.
Parteitags-Gast Herbert Schneider, der als bremischer DP-Landesvorsitzender mit der CDU gerade einen scharfen Wahlkampf um die bürgerlichen Hanseatenstimmen austrug, putschte
die Versammlung in »Höltje's Gesellschaftshaus« auf. Im kleinen Kreis empfahl Frontflieger Schneider, »das Buschmesser zwischen die Zähne« zu nehmen. Die Delegierten stauchte er zusammen: »Meine Herren, starren Sie doch nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange.«
Der zweite Mann der Niedersachsen -DP, Richard Langeheine, der mitgefrühstückt hatte, als Cillien in Neuenkirchen mit der DP ins Geschäft hatte kommen wollen, spürte in Verden, wem die Stunde schlug. Dem behenden Anwalt Langeheine aus Peine gelang es, an die Spitze des Gefühlsstroms zu rudern, von dem die Versammlung glaubte, er werde die Partei in eine bessere Zukunft tragen - in eine Zukunft ohne die Krücken der CDU.
Die Delegierten machten sich in ihren Reden Mut: »Warum haben wir nicht die Courage, aus der Bonner Koalition auszutreten?« - »Unsere Zeit, die kommt.« - »Wir können uns gar nicht weit genug von der CDU entfernen. - »Cilliens Angebot ist eine maßlose Ungezogenheit.«
DP-Bundesminister von Merkatz, des Kanzlers bequemstes Kabinettstück, hielt sich bei solchen Kraftsprüchen unruhig am Schlips fest, nachdem ihm der Kragenknopf abgesprungen war: »Aus der Umklammerung der gegenwärtigen Koalitionspolitik herauszugehen, ... das ist doch pure Romantik, meine Freunde.«
Heinrich ("Der Wagen bricht") Hellwege aber orakelte wie der Hahn auf dem Mist: »Zeiten, wie wir sie jetzt durchleben, vermögen uns entweder größer oder kleiner zu machen.«
Rückblickend konstatierte die Abtrünnigen-Chefin Margot Kalinke in der vergangenen Woche, im »Rausch von Verden« sei der Grund für den Kater von jetzt zu suchen: »Wenn man den Parteifreunden damals die Gespräche mit Cillien richtig erläutert hätte, dann wäre es auch zur Fusion mit der CDU gekommen und wir wären alle noch zusammen. Cilliens Angebot war fair, und er hat doch auch klar gesagt, daß ein besseres nicht kommen würde.«
Kalinke bitter: »Nach Verden wurde das Mißtrauen in unserer Partei so groß, daß keiner dem anderen mehr über den Weg traute.«
Angesichts solcher Umstände richteten sich Margot Kalinke und ihre DP -Männer in Bonn darauf ein, daß ihre Fraktion das Ende der Legislaturperiode unter keinen Umständen mehr erleben würde.
Am 8. Februar dieses Jahres suchten Fraktionschef Herbert Schneider - damals noch im Anti-Hellwege-Boot - und seine Stellvertreterin Kalinke zum letzten Male gemeinsam das Palais Schaumburg auf, um mit Konrad Adenauer über eine CDU-Wahlhilfe für die DP zu verhandeln. Freiwillig angebotene Gegenleistung der Parlamentäre: Kanzlertreue immerfort. Des Kanzlers Angebot: Huckepack durch Überlassung von Wahlkreisen wie 1957 oder sogar was für die DP weniger peinlich gewesen wäre - eine Änderung des Wahlgesetzes, sofern es ihm, Adenauer, gelingen sollte, die CDU-Bundestagsfraktion dafür zu erwärmen.
Schneider und Kalinke wollten mit diesem Gespräch dem niedersächsischen DP-Landesverband den Wind aus den Segeln nehmen, der seit seinem Oktoberfest in Verden der Bundestagsfraktion immer wieder ultimativ Termine setzte, bis zu denen eine Milderung der Wahlgesetz-Härten vom Kanzler bindend zugesagt werden müsse - ein Winkelzug des Niedersachsen-Advokaten Langeheine, der darauf baute, daß es den CDU-Freunden in der Bonner DP-Fraktion nicht gelingen werde, das Garantieversprechen nach Hause zu bringen. Deshalb werde, so spekulierte Langeheine, sein geplanter Marsch zur »dritten Kraft« unter dem Beifall der gesamten Partei zuverlässig gelingen. Langeheine wollte sich nicht mit der CDU, sondern mit der FDP zusammentun.
Obwohl die Fraktionsboten vom Kanzler nicht mit ganz leeren Händen zurückkehrten, hielt Langeheine - Hellweges linke und rechte Hand in Niedersachsen - die Zeit für reif, um über einen bundeshauptstädtischen Vermittler vertraulichen Kontakt mit Bonner Freidemokraten aufzunehmen. Am Abend des 9. März trafen sich in der Bonner Wohnung des Vermittlers der FDP-Bundesvorsitzende Erich Mende, dessen Parteifreund Thomas Dehler und die aus Hannover angereisten DPs Langeheine und Pastor Schönfelder zum ersten Palaver.
In der DP-Fraktion zu Bonn tuschelte man darüber, was die inkognito gebliebenen Herren aus Hannover mit Mende und Dehler vorbereitend erörtert hätten: Eine Fusion von DP und FDP zwecks besserer Wahlchancen - und zwar dergestalt, daß die in Niedersachsen stärkere DP korporativ als »Niedersächsischer Landesverband DP/FDP« in die Bundespartei (FDP) aufgenommen werden sollte, analog der autonomen Demokratischen Partei Saar innerhalb der FDP. Im übrigen Bundesgebiet würde die DP namenlos in der FDP aufgehen. Genaues erfuhren die DP-Parlamentarier in Bonn allerdings nicht:.
Die partei-üblich gewordene Geheimniskrämerei feierte in diesen Märztagen Triumphe: Wenige Tage nach dem FDP-DP-Tête-à-Tete vom 9. März versammelte sich der niedersächsische DP-Landesvorstand in Hannover Langeheine berichtete über seine Bonner FDP-Gespräche.
Von den beiden zum hannoverschen Vorstand gehörenden Bundestagsabgeordneten Logemann und Steinmetz konnte nur Logemann an der Sitzung teilnehmen. Der verhinderte Steinmetz fragte seinen nach Bonn zurückgekehrten Vorstandskollegen am nächsten Tag, worüber denn gesprochen worden sei. DP-Vorstandsmitglied Logemann zu DP-Vorstandsmitglied Steinmetz: »Das kann ich nicht sagen, das war geheim.«
Der verschwiegene Parlamentarier vertröstete den wißbegierigen Kollegen auf die bevorstehende Sitzung des DP -Direktoriums am 18. März in Bad Godesberg. Bundesvorsitzender Hellwege aber, den der informationshungrige Steinmetz schließlich in einer Pause der Beratungen am Rheinufer traf, beschied den Abgeordneten ebenfalls: »Ich kann es dir nicht sagen.« Die gewöhnlich gutunterrichtete Margot Kalinke hielt es nach diesem eklatanten Beweis gegenseitigen Vertrauens in der DP-Spitze für angebracht, auf der nächsten Fraktionssitzung zu enthüllen, was die Freunde Hellwege und Logemann über die hannoversche Sitzung partout nicht hatten sagen wollen: Langeheine hatte dort über sein Treffen in Bonn mit Mende und Dehler berichtet.
Kalinke, bei anderer Gelegenheit, zu Hellwege: »Heinrich, du traust deinem Hintern nicht, auf dem du sitzt.«
Vergebens bat Fraktionschef Schneider den niedersächsischen Parteifreund Langeheine per Einschreiben um genaueren Aufschluß.
Herbert Schneider präparierte sich in diesen Vorfrühlingswochen auf den Bundesparteitag der DP, der Anfang Mai in Heilbronn am Neckar mühsam über die Bühne ging: Wie in der vorvergangenen Woche die Bonner Deutschparteiler den Welfen endlich davonliefen, so hätten in Heilbronn umgekehrt die Niedersachsen gedroht, ihren Repräsentanten im Bundestag den Rücken zu kehren.
Im Mai waren die Niedersachsen entschlossen, einen Trennungsstrich zu ziehen, falls es dem schwarzweißroten Herbert Schneider gelingen sollte, sich in Heilbronn anstelle von Heinrich Hellwege zum Parteichef aufzuschwingen. DP-Generalsekretär Wilderich von Galen: »Wenn Schneider gewählt wird, packe ich meine Sachen und gehe meinen Kohl bauen.« Hellwege-Intimus Ernst-August Runge aus Hannover: »Dann fliegt der ganze Laden auseinander.« Und Niedersachsen-Delegationschef Bockenkamp: »Wir schießen mit Ratsch-bumm, und dann liegt alles flach.«
Mendes Freidemokraten - vor ein paar Jahren in ähnlicher Ausverkaufsstimmung - sahen den Vorbereitungen für das DP-Gemetzel gelassen zu. Ihr ehemaliger liberaler Weggenosse Victor-Emanuel Preusker, der über die FVP in die DP gerutscht war, hatte einen Tag vor Heilbronn dem FDP - Chef Mende ausrichten lassen: Wenn
man ihn fragen sollte - er wäre bereit, in seine alte Partei zurückzukehren. Mende, der am 7. Mai seinen FDP -Vorstandskollegen über Preuskers Anzapfung berichtete: »Die Herren quittierten meine Mitteilung mit Gelächter.«
Der Selbstmord wurde in Heilbronn noch einmal vertagt. Herbert Schneider unterlag Heinrich Hellwege, der unter dem Feuerschutz seiner hannoverschen Ratsch-bumms zum Bundesvorsitzenden wiedergewählt wurde, mit 130 gegen 144 Stimmen. Hellwege nach der Wahl: »Wenn es nicht so lustig wäre, könnte man die ganze Nacht heulen.«
Vorausschauende Politiker - wie Verkehrsminister Seebohm - fanden an diesem Tag schon keinen Geschmack mehr an DP-Ämtern. Der Minister, als ihm der Posten des Parteischatzmeisters angetragen wurde: »Herzlichen Dank, nee!«
Immerhin: Die Wiederwahl Hellweges machte den Niedersachsen Mut, auf ihrer Landesversammlung vier Wochen später (am 9. Juni) in Peine einen Schritt weiter auf die FDP zu- und von der CDU wegzugehen. Richard Langeheine, der unter dem Repräsentativ-Vorsitz Hellweges in Peine die Führung des niedersächsischen DP -Verbandes antrat: »Drei Jahre lang hat uns die CDU vorgehalten, wir seien nur auf ihren Krücken in den Bundestag gekommen. Ich stelle fest: Wir in Niedersachsen werden das nicht länger hinnehmen.«
Attackierte der Hellwege-Freund die Bundestagsfraktion seiner eigenen Partei: »Die niedersächsische DP hat seit Verden geschwiegen, und zwar auf Wunsch der Bonner Fraktion. Sie sagte uns, man verhandle mit der CDU über eine Wahlgesetzänderung. Im April werde ein Bescheid der. CDU auf dem Tisch des Hauses liegen. Wir haben schon damals nicht an ein Ergebnis geglaubt, und weder im April noch im Mai noch jetzt im Juni haben wir von einem Ergebnis gehört.«
Zwischen Langeheine, dem wütenden Apostel der DP-Unabhängigkeit von dem allzu großen CDU-Partner ("Wir wollen nicht im Anhänger, sondern im Zugwagen reisen. Wir fahren lieber im eigenen Wagen und wenn er noch so holperig ist"), und der Bonner DP-Dame Kalinke kam es in Peine zu dem Disput, der in aller wünschenswerten Deutlichkeit die nun unüberbrückbar gewordenen Fronten markierte.
Langeheine: »Es gibt auch einen anderen Weg, 1961 in den Bundestag zu kommen, als über die CDU. Für uns ist jede Partei willkommen, die meint, daß die Zeit für ein Zweiparteien -System noch nicht reif ist.«
Kalinke: »Wir können der CDU nicht den Fehdehandschuh hinwerfen. Es besteht kein Anlaß für die DP-Bundestagsfraktion, die Koalition in Bonn aufzukündigen.«
Langeheine: »Wir wollen hier doch keine Schleppenträgerdienste für andere Parteien leisten.«
Kalinke mit überschnappender Stimme: »Wenn Sie von Schlappenträgerdiensten reden, dann trifft das auf die zu, die hier Fusionsverhandlungen geführt haben.«
Margot Kalinke und Minister von Merkatz reisten zusammen vorzeitig aus Peine ab. Kalinke: »Herr von Merkatz und ich waren uns einig, daß nun alles nur noch eine Frage der Zeit sein würde. Langeheine hatte zu hoch gespielt.«
Die FDP-Führung hielt die Zeit für gekommen, um auf einer Vorstandssitzung am 15. Juni in Frankfurt eine bevollmächtigte Kommission für die Verhandlungen mit der niedersächsischen DP zu bestimmen. Der liberale Hesse Kohut, in dessen Bundesland schon seit Ende letzten Jahres kleinere Absetzbewegungen von der DP zur FDP im Gange waren, der ehemalige FDP-Vorsitzende Dehler und zwei weitere Freidemokraten (Achenbach und Schäfer) wurden ausgewählt.
Kommissionsmitglied Schäfer und Richard Langeheine vereinbarten im hannoverschen Landtag den nächsten Treff. Auf halbem Weg zwischen Borin und Hannover - telephonisch wurde später Bad. Salzuflen bestimmt - wollten die Herren am Mittwoch, dem 29. Juni, zusammenkommen.
Langeheine bot an, seinen obersten Chef Hellwege mitzubringen, um die ernsten Absichten der DP glaubhaft zu machen. FDP-Verhandlungsführer Kohut ließ durch seinen Beauftragten Schäfer abwinken: So weit sei man noch nicht, die Buhdesvorsitzenden wolle man zunächst aus dem Spiel lassen.
Die niedersächsische DP beschloß, sich zum Rendezvous in Salzuflen ohne Hellwege mit den Herren Langeheine, Hasemann und Neddenriep - Ersatzmann: Lagerhausen - einzufinden.
Die Existenz dieser Verhandlungskommission leugneten die Niedersachsen-DPs bis zum bitteren Ende. Will Margot Kalinke wissen: »Als die Kommission benannt wurde, ging Hellwege hinaus, damit er behaupten konnte, er wisse von nichts.«
Während so die nächste Runde vorbereitet wurde, widerfuhr dem Fliegerhauptmann Herbert Schneider das Mißgeschick, sich durch Unbedachtsamkeit - vorerst - von der Kalinke-Gruppe zu isolieren. Am 21. Juni veröffentlichte sein bremischer DP - Landesverband eine Erklärung, in der die »klare Entscheidung von Peine« begrüßt wurde, »bei künftigen Wahlen auf Wahlkreisabsprachen mit der CDU zu verzichten«.
Kalinke-Freund Heinrich Schild zog noch am selben Tag auf einer Fraktionssitzung in Bonn den Trennungsstrich: »Herr Schneider, Sie sind ein gescheiter Politiker.«
Der Kanzler räumte am 24. Juni die Schwierigkeiten beiseite, die einer kurzfristigen Entscheidung der DP -Dissidenten hätten im Wege stehen können. Nach einer Kabinettssitzung nahm Adenauer die beiden DP-Minister Seebohm und Merkatz beiseite, um mit ihnen die Lage in ihrer Fraktion zu besprechen. Der alte Herr, der sich nicht mehr gern an neue Gesichter gewöhnt, ließ erkennen, daß ihm die Dienste der Minister auch ohne Fraktionsanhang angenehm sein würden.
Beruhigt konnte Hans-Joachim von Merkatz, bevor er als Bonner Repräsentant zur Unabhängigkeitsfeier nach Somaliland reiste, seinem Kabinettskollegen Seebohm freie Hand für eine allfällige - optisch günstige - Rücktrittserklärung auch in seinem Namen geben.
Die Ereignisse hatten überholt, was noch am 13. April im Gespräch mit Parteifreunden in Bremervörde Merkatzens Meinung gewesen war: »Wenn ich jemals wegen politischer Meinungsverschiedenheiten aus der DP ausscheiden müßte, dann würde ich in jedem Fall mein Ministeramt und mein Bundestagsmandat aufgeben. Und aus innerer Überzeugung könnte ich dann niemals zur CDU übertreten.«
Am 26. Juni kam der Stein aus Versehen ins Rollen. FDP-Unterhändler Kohut plauderte nach einer Klausurtagung seiner hessischen Freidemokraten in Lauterbach vor Zeitungsleuten sorglos über die für den kommenden Mittwoch anberaumte Verhandlung mit den Langeheines.
Am nächsten Morgen rief Margot Kalinke im Bundeshaus FDP-Dehler an: »Wir kennen uns doch nun schon so lange. Ist es richtig, was in den Zeitungen über Kohut steht?« Dehler: »Leider, leider hat Kohut den Mund nicht halten können. Es stimmt.«
Als tags darauf DP-Kommissionsmitglied Nedenriep aus Hannover in Bonn Besuch machte und gegenüber Parteifreundin Kalinke immer noch alles bestritt, hatte die resolute Fraktionsdame endlich das Alibi, das sie nach dem Knall als Entschuldigung für ihr Kulissenspiel vorwies. An diesem Nachmittag sagte Langeheine - keine 24 Stunden vor dem Termin in Salzuflen - die. Begegnung ab.
Am 29. Juni setzte sich die ungespaltene DP-Fraktion zum letztenmal unter dem Vorsitz des verzweifelten Schneider zusammen. Schneiders Gang zum Kanzler am Vortage war ergebnislos geblieben. Adenauer, von Seebohm und Merkatz informiert, hatte seine alten Wahlzusagen für die Deutsche Partei nicht mehr wiederholt. CDU-Fraktionsgeschäftsführer Rasner an diesem Tag zum DP-Abgeordneten Schneider (Lollar): »An eine Wahlgesetzänderung ist überhaupt nicht zu denken.«
Margot Kalinke rief am nächsten Abend ihre Verschworenen zu sich. 24
Stunden später hatte die Deutsche Partei ihren Schwarzen Freitag, ihre Bundestagsfraktion war liquidiert. Das CDU-Kabinett war um zwei nun gänzlich ohnmächtige Minister stärker, die CDU-Fraktion um neun Abgeordnete gewachsen, wenn deren Übertritt auch formell noch nicht vollzogen werden konnte. Sechs Abgeordnete blieben - vorläufig noch - als DPs ohne Fraktionsrecht zurück.
Heinrich Hellwege aber versammelte seine niedersächsischen Unterführer an dem Ort, an dem vor acht Monaten die Weiche gestellt worden war: In »Hoeltje's Gesellschaftshaus« zu Verden an der Aller sprachen die Niedersachsen einander, wie im Oktober 1959, unbeirrt Mut zu. Krakeelten die Heidjer: »Überläufer sind Wildschweine!«
Und das niedersächsische Urmaul Hellwege orakelte: »Ich möchte den Herrn Bundeskanzler an dieser Stelle erinnern: Es kann vielleicht wieder einmal so weit kommen, daß er, wie 1949, seine Abgesandten zu uns nach Niedersachsen schicken muß, um Unterstützung für die Kanzlerwahl zu erhalten.«
Die Frage ist, ob die neun Bonner DP-Dissidenten ihre parlamentarische Zukunft durch die Flucht zur CDU gesichert haben. Selbst der profilierteste Flüchtling, Margot Kalinke, die sich wegen ihrer unbestrittenen Fachkenntnisse auf sozialpolitischem Gebiet am ehesten ihre Unentbehrlichkeit für das Hohe Haus am Rhein hätte ausrechnen können, bekam schon einen Dämpfer. Hans Katzer, Vorsitzender der christlichdemokratischen Sozialausschüsse, die sich mit Margot Kalinkes Fachgebiet befassen, gab zu erkennen, an einer Mitarbeit der neuen Parteifreundin sei ihm nichts gelegen.
* Kurfürst Georg Ludwig von Hannover
bestieg 1714 nach dem Tode der Königin Anna als Georg I. den britischen Königsthron. Nach dem Tode Wilhelms IV. wurde 1837 die Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover aufgehoben.
* Lat.: Zauderer
Frankfurter Allgemeine »Entschuldigense, Herr Hellwege, wir setzen lieber jetzt schon aufs Mutterschiff über«
Abgefallene DP-Abgeordnete Kalinke »Dem Vaterland zuliebe ...
Merkatz
Preiß
Seebohm
Steinmetz
Preusker
Probst
Ripken
Schild
... in den Rahmen der großen Partei": Abgefallene DP-Abgeordnete
Zurückgebliebene, DP-Abgeordnete Schneider (Lollar), Logemann, Tobaben, Matthes, Schranz: »Frau Kolinke ware ...
DP-Fraktionsführer Schneider (Bremerhaven)
... ohnehin nicht mehr aufgestellt worden«
Althannoveraner Hellwege (vorn rechts in Altländer Tracht, 1928): 1000jährige Mission ...
Luftwaffengefreiter Hellwege (1940)
... der Niederdeutschen ...
... als Brücke zu England: Lieschen Hellwege, Gatte
Hellwege-Vertrauter Langeheine
Schleppentragerdienste?
CDU-Abwerber Cillien
Beim Schinkenfrühstück ...
FDP-Abwerber Kohut
... ein Zukunftsgespräch
Hannover im Kampf gegen Preußen (Langensalza 1866): Aus dem Geiste Althannovers die konservative Erneuerung?