Trainer Schlicht absurd
Die Lippen pressen sich zusammen, und die Handknöchel werden weiß. Immer wenn ein Spiel zu Ende geht, scheint Carlos Alberto Parreira, 51, in eine mortale Starre zu fallen. Der Trainer der brasilianischen Nationalelf muß vor die Journalisten treten, »die mich schlachten wollen«.
Parreira zerrt an seiner Goldkette wie an einem Halsband. Brasilien hat das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft erreicht, aber hätte der Sieg nicht höher ausfallen müssen? 5:0, 6:0, mindestens?
Der Trainer senkt den Blick und schaut Sekunden später wieder über seine Zuhörer hinweg. Fußball sei »nun einmal so«, sagt er; unkalkulierbar, als wäre jedes Spiel eine Naturkatastrophe. »Was kann ich tun?« fragt Parreira, wo doch der Sieg immer dem Stürmer Romario und die wenig berauschende Leistung immer ihm zugeschrieben werde. Selten haben sich Nationaltrainer derart machtlos gefühlt wie bei der WM in den USA. Es scheint, als seien mit dem Wandel des Fußballs zur größten Show der Erde ausgerechnet die Trainer, die jahrelang den Mythos des Feldherrn am Spielfeldrand kultivierten, wieder zu Fußballehrern geschrumpft. Der Nationalmannschaft, jener Ballung von Starkult und Patriotismus, haben sie nicht mehr viel entgegenzusetzen.
Ähnlich wie Tennisprofis oder US-Basketballer - durch Zigmillionen-Dollar-Verträge dem wirklichen Leben entrückt - Forderungen nach regelmäßigem Training belächeln und mitunter die Entlassung ihrer Vorgesetzten betreiben, haben inzwischen auch Fußballer die Übungsleiter degradiert. Der Star kommandiert, der Trainer reicht die Wasserflasche.
Den Bulgaren Dimitar Penew, 49, konnte nicht einmal der Einzug ins Halbfinale zum Erfolgstrainer machen. Nach Einschätzung heimischer Reporter, die mit den Spielern an der Hotelbar Bier und Grappa tranken, ist er »in Wahrheit ein Waschlappen«. Penew, sagt Stürmer Christo Stoitschkow, sei »kein guter Taktiker und kein guter Psychologe«, er habe »gute Spieler«.
Nachmittags lagen die Bulgaren in der Sonne und rauchten, während ihr Trainer auf seinem Zimmer Videos guckte. Mannschaftssitzungen wurden ohne den Coach abgehalten, weil die Taktik oder die Elfmeterschützen Stoitschkow bestimmte; »sollten wir um zwölf Uhr ins Bett«, berichtet Kollege Petr Alexandrow, »sind wir um halb eins langsam gegangen«. Oder sie blieben gleich die ganze Nacht weg.
In vielen Nationalteams spielt der Mann von der Bank inzwischen eine ähnliche Rolle wie ein Referendar vor einer pubertierenden Schulklasse: Erzählt er Witze, wird hingehört; will er unterrichten, beginnt die Anarchie.
Als der Holländer Dick Advocaat, 46, seinen Spieler Frank Rijkaard fragen wollte, ob er nicht aus dem Mittelfeld in die Abwehr zurückrücken könne, trat dem hektischen Trainer der Schweiß auf die hohe Stirn, und die Haare, die er sich quer über den Kopf gelegt hatte, flatterten im Wind. Die Spieler lächelten milde: Sollte der Trainer wirklich umstellen wollen, drohte Rijkaard, würde er den Mannschaftsrat einberufen.
Die Pein der Trainer ist bei manchen dauerhaft sichtbar. Mit zuckenden Mundwinkeln und eingezogenem Kopf, die Hände nur durch die zusammengepreßten Oberschenkel gebändigt, durchlitt Parreira die Spiele. Danach leckte sich der Brasilianer minutenlang die Lippen, als ob er zu keiner anderen Regung mehr fähig wäre. Ob er gern Trainer sei? »Bin ich wahnsinnig?«
Ein moderner Fußballprofi läßt sich nichts gefallen. Spieler wie die Deutschen Andreas Möller oder Andreas Brehme beschwerten sich im WM-Trainingslager, weil »nicht mal das Fleisch richtig auf dem Teller« lag. In solchen Nationalteams, hat Bundestrainer Berti Vogts erkannt, sammeln sich »22 Stars mit allen möglichen Sensibilitäten«.
So versuchen viele Coachs, um Ruhe und Erfolg zu haben, ihre Ohnmacht als Kalkül zu verkaufen. »Ich lasse«, doziert Penew selbstbetrügerisch, »meine Stars eben frei laufen.« Vogts probierte es mit einer Gegenrevolution, als er Stefan Effenberg nach Hause schickte. Italiens Trainer Arrigo Sacchi, 48, möchte »unpopulär sein« und sich mit ständigen Wechseln der Mannschaftsaufstellung zu einer Art »Fellini des Fußballs« (New York Times) stilisieren - der Regisseur allein bestimmt die Besetzungsliste.
Sacchi, Sonnenbrille auf der Stirn und Lässigkeit in jedem Wort, pflegt ein stärkeres Macho-Gehabe, als es seine Spieler tun. Während des Trainings steht er auf einem Hügel und blickt, den rechten Fuß auf einem Ball, auf seine Kicker herab, als probe er für einen Auftritt als Napoleon.
Star möchte er selbst sein, und er war es auch als Vereinstrainer beim AC Mailand. So wie er dort das Pressing, den ständigen Druck auf den Gegner, perfektionierte, versuchte Sacchi nun, im Namen Italiens den Weltfußball taktisch zu prägen. Doch der wahre Anführer beim Marsch ins Finale von Los Angeles hieß Roberto Baggio.
Als Sacchi den Spielmacher in der Vorrunde einmal auswechselte, heulten drei Sportzeitungen, Italiens Stimmen des Volkes, im Chor. »Noch achte ich Sacchi«, sprach Baggio. Sollte er ähnliches noch einmal wagen, erkannte der Trainer aus dem Unterton, würde sein Star ihn feuern lassen.
Was ein Trainer auch tut, alles kann gutgehen, und alles kann verheerend wirken. Vergnügen sich Spieler in Bikini-Bars, ist der Trainer bei Siegen auf dem Platz der umsichtige Koordinator mündiger Profis - bei Niederlagen gilt er als Weichling. »So ist das im Fußball. Wir siegen, der Trainer verliert«, sagt der Bulgare Alexandrow und wendet seinen Körper auf der Sonnenliege, um gleichmäßig braun zu werden.
Längst haben Medien, die schon ein Augenzwinkern bewerten, den gläsernen Trainer geschaffen. Jede Schwäche wird öffentlich, jeder Versprecher zur Blamage.
Schleichend hat sich der Souverän zu einem Teil der Mannschaft gewandelt. Als suche er Schutz vor Intrigen, muß er sich selbst an die Seilschaft seines Superstars anhängen. Scharf wie ein Offizier redete etwa der Rumäne Angel Iordanescu, 54, mit seinen Ersatzspielern. Wenig später saß er schweigend im Bus: Kapitän Gheorghe Hagi mußte telefonieren, die Abfahrt verzögerte sich.
Der Autoritätsverlust war bei vielen Trainern auszumachen. Hatte Sacchi den Spielern nicht verboten, in Amerika Verträge auszuhandeln? »Es geht um meine Zukunft«, entgegnete Mittelfeldspieler Dino Baggio und machte seinen Wechsel von Turin nach Parma perfekt. Dem Trainer Kameruns, Henri Michel, 46, diktierte Staatspräsident Paul Biya die Aufstellung. Gern, klagte Michel, »hätte ich meine Arbeit getan«. Die Situation mancher Fußballehrer, pflichtet der Schwede Tommy Svensson, 49, bei, sei »schlicht absurd«.
Die Trainer leiden darunter, daß die kickenden Millionäre ihren Einsatz für die Nationalelf nur als Nebentätigkeit begreifen. Die Halbfinalteams von Bulgarien, Schweden und Brasilien bestanden weitgehend aus Profis, die im Ausland ihr Geld verdienen. Zwei der Torjäger dieser WM, Romario und Stoitschkow, unterstehen beim FC Barcelona dem Holländer Johan Cruyff - selbst ein Star, als Spieler wie als Trainer.
Es gehört offenbar zum Verständnis von Profifußballern, daß sie Kritik nur von dem annehmen, der mehr Ruhm, Länderspiele und Werbeverträge hat als sie selbst. Sie bewundern die Legenden wie Cruyff oder Franz Beckenbauer, doch sie belächeln den klassischen Nationaltrainer, der sich wie ein Verbandsbeamter hochgedient hat und »einfach viel kleiner ist« (Stoitschkow).
Zudem herrscht in den Vereinen ein anderer Ton. Deren Zuchtmeister kontrollieren ihre Stars mit Praktiken, die sie Konzernen abgeschaut haben. Cruyff oder Fabio Capello, Coach des AC Mailand, führen ihre Teams nach »Funktionsplänen": Verteidiger sind »Buchhalter«, die das positive Punktekonto wahren sollen, Spielmacher heißen »Manager«, weil sie die Strategien umsetzen. So entstanden Klubs mit dem Charme amerikanischer Autofabriken, die Versager knallhart austauschen.
In Länderteams greifen solche Praktiken nicht - der Coach kann Nationalspieler nicht kaufen und verkaufen, sondern die treten selbst zurück.
Als relativ angenehm gilt dagegen die Tätigkeit für eine bislang erfolglose Fußballnation. Ist das Team unerfahren, dann wird ein Trainer, der aus der ersten Fußballwelt kommt, selbst wieder zum Star. Ein Sieg reicht für bleibenden Ruhm, und nach dem Achtelfinale beginnt der Urlaub. So feiern die Iren den Engländer Jack Charlton, 59, wie einen Nationalhelden, so verehren die saudiarabischen Fußballfreunde den Argentinier Jorge Solari, 52, der, wie das Königshaus lobt, den »Professionalismus« einführte und nach Siegen trotzdem Allah dankte.
Auch der Serbe Bora Milutinovic, 49, Coach der US-Mannschaft, wurde bewundert wie ein Regenmacher. Milutinovic trägt eine übergroße Brille und Haare, die wie selbstgeschnitten aussehen. So pflegt er sein Image: zur Hälfte Clown, zur Hälfte Magier. Am Vatertag machte Bora blau.
Seinen Jüngern brachte Milutinovic im Trainingslager in Mission Viejo Körpertäuschungen bei: »Wenn ihr den Ball nicht berührt, rollt er auch nicht weg.« Bei Zitronenlimo und Schokoriegeln erklärte er Reportern die Taktik, wobei er schon mal in minutenlanges Schweigen versank, das Assistenztrainer Steve Sampson behend zu überbrücken wußte: »Ich glaube, Bora überlegt.« Y