Kampf gegen die Epidemie: Gebete und Mundschutz
Grippe-Katastrophe von 1918/19 "Nehmen Sie alle Tischler und lassen Sie Särge herstellen"
"Eine merkwürdige Krankheit mit epidemischem Charakter ist in Madrid aufgetreten", kabelte die Presseagentur Fabra im Mai 1918 in die Welt. "Die Epidemie ist von einer milden Form, Todesfälle wurden bisher nicht gemeldet." Der dürre Zweizeiler aus Madrid ging als eine der größten Falschmeldungen des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein.
Denn die "merkwürdige", aber angeblich harmlose Krankheit war ein Killer: eine Influenza, ausgelöst vom Vogelgrippe-Virus-Typ A, hochaggressiv und extrem vermehrungsfreudig, wie Forscher dem 2005 im Labor rekonstruierten Erreger bescheinigten. Mindestens 25 Millionen Tote, nach neueren Hochrechnungen von Medizinhistorikern sogar fast 50 Millionen Menschenleben, forderte die Seuche in den folgenden zwei Jahren - das wäre mehr als das Dreifache der 15 Millionen Weltkriegstoten und vergleichbar nur noch mit der großen Pest von 1348, die 570 Jahre zuvor ein Drittel der Bevölkerung Europas ausgelöscht hatte.
Gebannt starrte die Welt im Sommer und Herbst 1918 auf den letzten Akt des großen Dramas, das sich in den Gräben der Westfront abspielte. Dort metzelten sich Deutsche, Franzosen, Briten und Amerikaner gegenseitig nieder, doch im Rücken der Front begann derweil ein noch weitaus größeres Sterben - ein leiser Tod diesmal, der nicht mit Explosionsdonner und MG-Rattern daherkam, und der Zivilisten ebenso gnadenlos anfiel wie Soldaten. Nicht wenige Berühmtheiten waren unter den Opfern: der französische Dichter Guillaume Apollinaire und der österreichische Maler Egon Schiele, Siegmund Freuds Tochter Sophie ebenso wie der berühmte Soziologe Max Weber.
Die Killer-Krankheit kam aus Kansas
Ihren Anfang nahm die Pandemie in den USA. Amerikanische Soldaten, die ab 1917 nach Europa verlegt wurden, um auf Seiten der Entente zu kämpfen, brachten die Krankheit über den Atlantik. Historiker haben Haskell County im US-Bundesstaat Kansas als Ursprungsort der tödlichen Influenza ausgemacht - dort hatte der Arzt Loring Miner im Januar/Februar 1918 Patienten mit ungewöhnlich schweren Grippesymptomen behandelt. Sein Alarmruf an die Behörden verhallte ungehört, und nachdem Ende Februar drei Haskeller zur US-Army eingezogen worden waren, brach die Krankheit im Ausbildungslager Camp Funston westlich von Kansas City aus. Drei Wochen später waren 38 Rekruten tot und 1100 schwer erkrankt.
Wegen der Pressezensur wurde in den kriegführenden Staaten über die anschwellende Grippewelle kaum berichtet - im unbeteiligten Spanien galt das nicht. Dort ließ sich die Nachricht auch schwer unterdrücken, denn in Madrid war im Mai 1918 bereits jeder dritte Einwohner erkrankt, einschließlich des Königs und seines Kabinetts. So hatte die neue Seuche ihren Namen weg: "Spanische Grippe". Allerdings kursierten auch alle möglichen anderen Bezeichnungen: "flandrisches Fieber" bei den Briten, "Blitzkatarrh" bei den Deutschen, "Knock-me-down-fever", sagten die Amerikaner, und die Italiener sprachen in Verkennung der medizinischen Ursachen vom "Sandfliegen-Fieber".
Kampf gegen die Epidemie: Gebete und Mundschutz
Bald meldeten die Armeen an der Westfront Krankenstände, die die kriegsbedingten Ausfälle durch Verwundungen übertrafen. Die britische Marine etwa hatte bald über 10.000 Kranke und konnte nicht mehr auslaufen. "Die Grippe griff überall stark um sich", erinnerte sich Erich von Ludendorff, der deutsche Generalquartiermeister, dem die täglichen Krankenstandsmeldungen seiner Kommandeure den letzten Nerv raubten. Als nach dem Krieg Bilanz gezogen wurde, hatte die US-Army genauso viele Soldaten durch den tückischen Virus verloren wie durch Kampfhandlungen. Mit den Grippetoten in den USA selbst starben 675.000 Amerikaner an der Influenza, zehn Mal so viele wie im Krieg; die durchschnittliche Lebenserwartung der US-Bürger nahm um zehn Jahre ab.
Hochkonjunktur für Bestattungsunternehmen
Die deutschen Behörden reagierten auf die ersten Meldungen aus Spanien zuerst gelassen. Die Gesundheitslage in der Stadt sei "günstig", meldete die Verwaltung aus Nürnberg noch am 22. Juni 1918 - nur wenig später brachen plötzlich Menschen auf offener Straße zusammen. Es war seltsam: Anders als üblich tötete diese Form der Grippe vorrangig Menschen zwischen 20 und 40, also im besten Alter - nicht etwa Alte, Kranke, Kleinkinder. Die Behörden machten die Lage durch halbherzige Maßnahmen nicht gerade besser. So wurden zwar Schulen geschlossen, um die Ausbreitung der Grippeviren zu erschweren - Kinos und Theater allerdings blieben geöffnet, weil die Regierung fürchtete, dass ohne solche Ablenkung Unruhen ausbrechen könnten.
Doch der erste Grippeschub im Mai/Juni 1918 war nur der Anfang. Schon im Oktober überrollte eine zweite, noch weitaus heftigere Welle Europa und den Globus. Jetzt begannen die ersten zu begreifen, was vor sich ging. In den USA schickten Ärzte von der Ostküste eine düstere Mahnung an ihre Kollegen am Pazifik: "Finden Sie jeden verfügbaren Tischler und Schreiner und lassen Sie sie Särge herstellen. Dann nehmen Sie die Straßenarbeiter und lassen Sie sie Gräber ausheben. Nur dann haben Sie eine Chance, dass die Zahl der Leichen nicht schneller steigt, als Sie sie beerdigen können." Selbst der Krieg rückte in den Hintergrund: "Die städtische Bevölkerung steht gegenwärtig noch mehr unter dem Eindruck der bösartigen Grippe als unter dem der großen Niederlagen", notiert der Heidelberger Geschichtsprofessor Karl Hampe am 20. Oktober 1918 in sein Tagebuch. Eine dritte Welle folgte Anfang 1919.
Die "Spanische Grippe" war ein globales Ereignis: Sie trat in den USA auf und in Europa, in entlegenen Regionen Russlands ebenso wie in Indien, wo es allein schon geschätzte 17 Millionen Opfer gab, in Westafrika und auf den Philippinen. Auf Samoa starben 20 Prozent der Bevölkerung. Die Zahl derer, die sich damals mit dem Virus infizierten, schätzen Experten auf 500 Millionen Menschen - das entspräche einem Drittel der damaligen Weltbevölkerung. Die Todesrate unter ihnen lag 25 Mal höher als bei anderen Influenza-Epidemien.
Das Kriegsende beschleunigte die Katastrophe
Über den Ursprung der Krankheit rätselten die Zeitgenossen. Dass es sich um Influenza-Viren handelte, war damals noch nicht bekannt - diese wurden erst 1933 wissenschaftlich nachgewiesen. Und so griff vielerorts die Irrationalität um sich, machten Verschwörungstheorien die Runde. Die Deutschen hätten zu biologischer Kriegführung gegriffen und spanische Konservendosen vergiftet, lautete eine These. Für Lungenpest hielten manche Ärzte die Krankheit, für eine Strafe Gottes viele Frömmler - bei Gottesdiensten wurde für die Errettung vor der tödlichen Plage gebetet, Quacksalber hatten Hochkonjunktur.
Die Behörden setzten mehr auf handfeste Maßnahmen. In New York wurden 500 Personen verhaftet, die entgegen eines polizeilichen Verbots auf der Straße ausgespuckt hatten. Wer keine Gesichtsmasken trug, musste mit einer Geldbuße rechnen. Ironischerweise war gerade das bejubelte Kriegsende aus Sicht der Seuchenbekämpfung eine Katastrophe: Auf der ganzen Welt lagen sich am "Armistice Day" fremde Menschen jubelnd in den Armen - und steckten sich gegenseitig an. Bei Siegesparaden kamen Hunderttausende zusammen - der Erreger konnte sich unter ihnen ungehindert ausbreiten.
Vor allem führte das Ende der Kämpfe zu gigantischen Truppenverschiebungen. Soldaten aus aller Herren Länder kehrten aus Europa in ihrer Heimat und brachten den Virus als tödliches Souvenir mit. Zuletzt traf die "Spanische Grippe" selbst abgelegene Staaten am anderen Ende der Welt: Neuseeland etwa, das 8600 Tote durch die Influenza zu beklagen hatte - doppelt so viele wie Gefallene im Weltkrieg.