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Auf dem Weg zu einer Theorie der digitalen Gesellschaft

Dirk Baecker | Rezension |

Auf dem Weg zu einer Theorie der digitalen Gesellschaft

Rezension zu „Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“ von Armin Nassehi

Armin Nassehi:
Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft
Deutschland
München 2019: C. H. Beck
352 S., EUR 26,00
ISBN 978-3-406-74024-4

Es gibt einen Widerstand der Gesellschaft gegen die Digitalisierung. Aber er ist aussichtslos. Er ist aussichtslos, weil er ein Widerstand der Gesellschaft gegen sich selbst ist. So oder so ähnlich könnte man Armin Nassehis „Theorie der digitalen Gesellschaft“ zusammenfassen. Dieser Widerstand ist nur ein „Muster“, so der Leitbegriff von Nassehis Arbeit, mit der die Gesellschaft auf ein sehr viel mächtigeres Muster reagiert, nämlich die Digitalisierung selbst. Trägheit reagiert auf Trägheit. Die Trägheit unserer Vorstellung, dass menschliches Leben im Kern nicht technisierbar ist, trifft auf die sehr viel größere Trägheit, die darin besteht, dass unser Verhalten vorhersehbaren Mustern – Nassehi spricht mit Peter Felixberger auch von „Drehbüchern“ (S. 51) – folgt, die sich auszählen und verwerten lassen. Die Digitalisierung ist nur die Form, in der diese zweite Trägheit Fakt wird.

Die dritte Entdeckung der Gesellschaft

Die wichtigste These, die Nassehi mit seinem neuen Buch aufstellt, ist damit bereits eingelöst. Wer die Digitalisierung verstehen will, muss Gesellschaftstheorie treiben. Es ist die Gesellschaft, die mustert, niemand sonst. Wie sie das tut, bleibt offen. In der Tat verzichtet Nassehi auf jede Handlungs- oder Kommunikationstheorie, die beschreiben oder erklären könnte, wie es zu diesen „wirkmächtigen“ (S. 52) Mustern kommt. Gesellschaft „typisiert“ (S. 53) individuelles Verhalten, das somit „nicht-zufällig“ (S. 55) ist. Diese Aussage muss genügen. Für soziologische Theorien, die sich seit Auguste Comte, dann mit den soziologischen Klassikern und erst recht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darum bemühen, die Typisierung individuellen Verhaltens durch die Gesellschaft aus dem Handeln, Erleben, Orientierungsbedarf und Erwartungsmanagement der Individuen selbst abzuleiten, hat Nassehi nur den Spott übrig, dass sie den freien Willen überschätzen, den sich die Theoretiker gerne selbst zuschreiben. Die Gesellschaft ist ein überindividuelles Faktum und Datum, wie es mit der Digitalisierung zum dritten Mal entdeckt wird.

Die erste Entdeckung der Gesellschaft datiert Nassehi auf die Zeit der Aufklärung und Französischen Revolution, in der „die Gesellschaft“ zu einer Referenzgröße wurde, die sowohl die Revolution als auch die Restauration auf ihrer Seite glaubten, einmal als williges Subjekt und Objekt der Gestaltung und einmal als träger, aber auch kluger Widerstand gegen jede Gestaltung. Die zweite Entdeckung datiert er auf die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, als zusammen mit der Komplexität der Industriegesellschaft auch die Schwierigkeiten entdeckt wurden, sie zu planen, zu steuern und die Inklusionserwartungen zu erfüllen, die mit ihr einhergehen. Frühere Entdeckungen der Gesellschaft etwa in der Ethik der Antike oder in der Klugheitslehre der frühen Neuzeit zählen für Nassehi nicht, da hier noch nicht mit einem eigenen Begriff der Gesellschaft gearbeitet wurde.

Die dritte Entdeckung der Gesellschaft besteht in einer Digitalisierung, die letztlich nur vollendet, was die Sozialstatistik seit François Quêtelet in die Wege geleitet hat. Mit der Digitalisierung liegt offen zutage, was Statistik und empirische Sozialforschung längst wussten. Wer in der Lage ist, die soziale Vielfalt in zählbaren Einheiten zu sortieren und durch Korrelation Abhängigkeiten zwischen diesen Einheiten zu entdecken, dem ordnet sich die Vielfalt zur „Einfalt“ (S. 176f.). Partnerwahl, Berufswahl, kulturelle Einstellungen und Freizeitvorlieben sind milieubedingt, pfadabhängig und umso robuster, je identitätsstiftender sie sind. Unser eigenes Verhalten trainiert die Algorithmen, die uns im Netz verfolgen, und schnell bin ich überrascht, wie sehr die Empfehlungen dieser Algorithmen meine Lesegewohnheiten, meinen Musikgeschmack und meine Partnerpräferenzen treffen. Widerstand ist zwecklos. Ich bestätige damit nur meine Herkunft, mein Umfeld und meinen Bildungsstand.

Die dritte Entdeckung der Gesellschaft rechnet nach wie vor mit einem Latenzfaktor. Im Alltagsverhalten werden die treffenden Empfehlungen der Algorithmen auf eine intelligente Technik zugerechnet und nicht mit dem eigenen Verhalten in Beziehung gesetzt. Diese Technik zu durchschauen, gelingt nur Experten, so wie es Experten waren, die in der Zeit der Aufklärung für Revolution oder Restauration stritten und es Experten waren, die sich in der Industriegesellschaft den Kopf über deren Komplexität zerbrachen. Im Vergleich mit der ersten und zweiten Entdeckung der Gesellschaft sind wir jedoch einen Schritt weiter. Wir verfügen über den Begriff des Mediums, der lose gekoppelten Menge von Möglichkeiten der Konstitution von Formen. Mithilfe dieses Begriffs kann man jene Medien identifizieren, vor allem Geld und Macht, aber auch Wahrheit, Glauben, Kunst und Liebe, die die Gesellschaft bereits in früheren Zeiten wiederhol- und erwartbar konstituiert haben. Besonders wertvoll wird der Begriff des Mediums jedoch in dem Moment, in dem man den Prozess der Digitalisierung mit seiner Hilfe beschreiben kann.

Technisierung durch binäre Codierung

Das Medium der Digitalisierung ist für Nassehi die Einrichtung der Zählbarkeit und Berechenbarkeit von Ereignissen aller Art mithilfe der binären Unterscheidung von 0 und 1. Etwas liegt entweder vor oder nicht vor. Unter dieser Voraussetzung seiner Unterscheidbarkeit kann das Ereignis mit anderen Ereignissen verknüpft werden, die ebenfalls entweder vorliegen oder nicht vorliegen. Zählbarkeit und Verknüpfbarkeit begründen eine Kombinatorik, deren Reichweite nur in der Menge der verfügbaren Daten, den Rechenkapazitäten und dem erforderlichen Energieaufwand ihre Grenzen findet. Seine Formen findet dieses Medium in der verwendeten Software und in Schnittstellen, an denen Inputs und Outputs bereitgestellt werden können (S. 154). Aus diesem Ansatz entwickelt Nassehi seine Kernthese, dass die Digitalisierung nur wiederholt, was die Differenzierung der modernen Gesellschaft in binär codierte Funktionssysteme bereits ins Werk gesetzt hat. Die „digitale Gesellschaft“ ist die moderne Gesellschaft im Medium ihrer selbst. Diese These erlaubt es Nassehi, die Frage zu beantworten, die sein Buch motiviert, nämlich die Frage danach, warum die Digitalisierung auf so wenig Widerstand stößt. Die Digitalisierung realisiert nichts anderes als die moderne Gesellschaft selbst. Insofern die moderne Gesellschaft zählt und das Gezählte untereinander in Beziehung setzt, war sie immer schon digital.

Nassehi sichert diese These durch zwei weitere Beobachtungen ab. Zum einen ist die Digitalisierung eine Form der Technisierung und profitiert damit von der Funktion, Kommunikation zu entlasten, die jede Technik erfüllt, insofern sie funktioniert. Indem sie als Technik funktioniert, muss sie nicht thematisiert werden. Indem sie funktioniert, entzieht sie sich dem Streit. Indem sie funktioniert, wird sie nur von Spezialisten beobachtet. Die Digitalisierung profitiert von dieser Funktion der Entlastung von Kommunikation auch dann, wenn sie dank der Entwicklung einer künstlichen Intelligenz nicht mehr so ganz die Voraussetzung einer trivialen kausalen Kontrollierbarkeit erfüllt (S. 216f.), sondern zunehmend dort einrückt, wo thematisiert, gestritten und beobachtet wird. Und zum anderen erfüllt die Digitalisierung, insofern sie als Massenmedium beschreibbar ist, eine Synchronisationsfunktion innerhalb der komplexen Gesellschaft. Sie ermöglicht der Gesellschaft auch und gerade dann eine Selbsterfahrung, wenn diese Synchronisation ihrerseits auf einem Dauerzerfall aller Kommunikationsereignisse beruht (S. 280).

Zweifel habe ich an Nassehis Konstruktion erst in dem Moment, in dem er die Digitalisierung der Gesellschaft mit einer Schließung gleichsetzt, die er „kybernetisch“ (S. 88) nennt und wiederum mit der Schließung binär codierter Funktionssysteme gleichsetzt. Er folgt einem Verdacht, für den er sich sowohl auf Husserl als auch auf Heidegger beruft und der besagt, dass die Digitalisierung – wie bereits Mathematik und Technik vor ihr – auf ein selbstreferenzielles Spiel der Daten zurückzuführen sei, das funktionierende Rückkopplungen an die Stelle jeder Repräsentation setzt: Information, Steuerung und Berechnung beziehen sich nur noch auf sich selbst (S. 83f.). Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Nassehi zitiert (S. 76) eine eindrückliche Stelle aus Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, die sehr schön zeigt, dass ein Bewusstsein, das Töne im Medium der Tonalität unterscheidet und identifiziert, nicht nur mit sich selbst, sondern mit der von ihm gesetzten Differenz zur Umwelt beschäftigt ist. Und Heideggers Kritik des Ge-stells in seiner „Frage nach der Technik“ endet nicht umsonst mit der Erinnerung daran, dass jede Technik immer auch eine Kunst sei und damit „geheimnisvoll“ bleibe. Auch die moderne Technik sei eine Form des Entbergens, Erkennens und Herausforderns. Sie erschöpft sich nicht im Ausbuchstabieren bereits bekannter Kausalität.

Form und Medium der Digitalisierung

Was also hat es mit der Schließung auf sich, die Nassehi der Digitalisierung unterstellt? Ich denke, es lohnt sich, über die Verwendung der Differenz von Form und Medium noch einmal genauer nachzudenken. Der Medienbegriff gehört in der Fassung, die Fritz Heider ihm gegeben hat, zu den analytisch schärfsten Werkzeugen, über die die soziologische Theorie gegenwärtig verfügt. Aber er birgt Tücken, weil er nicht nur so beobachterrelativ ist wie jeder Begriff, sondern zudem davon abhängig ist, was man als „Ding“ in der Fassung von Heider beziehungsweise als „Form“ in der Fassung von Niklas Luhmann, der damit George Spencer-Browns Formbegriff übernimmt, zu beobachten geneigt ist. Der einzige Anhaltspunkt, auf den man sich berufen kann, ist die Unterscheidung loser („Medium“) und strikter Kopplung („Ding“ beziehungsweise „Form“). Nassehi beschreibt das digitale Medium wegen seiner binären Codierung als „strikt gekoppelt“ (S. 154). Vielleicht liegt hier der Fehler. Wenn man hingegen dabei bliebe, dass erst die Formen strikt gekoppelt sind, wären Programme, Algorithmen und Software die Formen der Digitalisierung im Medium nicht der 0/1-Unterscheidung, sondern der elektrischen und elektronischen (elektrisch gesteuerten) Verknüpfung von Impulsen, die ihre Anlässe jeweils erst noch finden müssen. Das führt informationstheoretisch auf die 0/1-Unterscheidung, doch ihr vorgelagert sind analoge Schnittstellen, die digital abgetastet werden müssen, um Daten zu generieren. Diesen Schritt des Abtastens, der Erfassung physischer Ereignisse an den Schnittstellen der elektronischen Medien, überspringt Nassehi. Für ihn errechnen sich Daten aus Daten. Und die Daten sind „gegeben“ (S. 77), sie müssen nicht erst konstruiert, gewonnen oder getestet werden.

Geht man jedoch davon aus, dass Daten Fakten sind, die ihren Informationswert erst daraus erhalten, dass sie einen Unterschied „machen“ (Gregory Bateson), der sich auf die Welt zurückrechnen lässt und nur für einen Beobachter ein Unterschied ist, kann man die Selbstreferenz der Daten durch ihre Fremdreferenz ergänzen. Digitale Medien sind analog eingebettet. Input wie Output verstehen sich nicht von selbst. Die Schließung ermöglicht eine Öffnung. Erst das verdient den Namen einer Kybernetik. Kybernetisch zu sehen, wie Nassehi im Anschluss an Ernst Cassirers glückliche Formel, dass wir nicht Gegenstände sehen, sondern gegenständlich sehen, zu formulieren vorschlägt (S. 88), gelingt erst dann, wenn die „digitale“ Rückkopplung im Prozedere der Daten in ein Verhältnis zur „analogen“ Rückkopplung zwischen System und Umwelt gesetzt wird.

Es lohnt sich daher, noch einmal darüber nachzudenken, was man als die „Formen“ der Digitalisierung im „Medium“ der Digitalisierung bezeichnen, beschreiben und erklären möchte. Wenn das Medium lose Kopplungen möglicher elektronischer Verknüpfungen sind, also Schaltkreise auf der Basis von elektrischen Impulsen, dann ist eine Form in diesem Medium jede strikte Kopplung, die Input und Output, Eingabe und Ausgabe, mithilfe von Wenn/Dann-Programmen oder lernfähigen Algorithmen verknüpft. Das gilt für Textverarbeitungsprogramme, Datenbanken, Plattformen, künstliche Intelligenz. Ohne ein Material, in dem sich die Verknüpfungen bewähren, und einen Nutzer, für den die erhobenen und berechneten Daten einen Sinn machen, hat man noch keine Form. Von Spencer-Brown ist zu lernen, dass diese Formen sowohl einschließen als auch ausschließen. Sie erfassen und gestalten ihre Verknüpfung zugunsten des Ausschlusses möglicher anderer Verknüpfungen, können jedoch diesen Ausschluss, je lernfähiger sie sind, in die Form wieder einführen und ihrerseits bearbeiten. Formen, so Spencer-Brown, bestehen aus Strukturen, die aus Argumenten Funktionen errechnen. Diese Funktionen bewähren sich oder bewähren sich nicht. Sie sind keine Selbstläufer. Selbst wenn sie, wie Nassehi zu Recht schreibt, die Welt, in der sie funktionieren, nicht repräsentieren können und in diesem Sinn kein Bewusstsein ihrer selbst haben, so sind sie doch darauf angewiesen, dass sie passen und dass sie interessieren. Beides liegt außerhalb ihres Zugriffs. Zumindest soziologisch sind digitale Medien daher nicht als System eigenen („autopoietischen“) Rechts zu analysieren, sondern als Medien des Systems „Gesellschaft“.

Mit Luhmann muss daher auch die Einsicht gelten, dass nicht das Medium, sondern nur die Formen variierbar sind. Das Medium ist reine Potenzialität, die sich immer wieder neuen Aktualisierungen entweder fügt oder nicht fügt. Luhmann hat darauf hingewiesen, dass mit dieser Einsicht eine zweite korreliert: Das Medium ist stabil, die Formen sind instabil. Wir bemühen uns laufend um Formen, aber wirklich verlassen können wir uns nur auf Medien, die jedoch nur in Formen greifbar werden. Das gilt für alle Medien, für die Sprache, die Schrift, den Buchdruck, die elektronischen Medien und die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Aber es ist eine irritierende Einsicht, da sie die Robustheit und Resilienz einer Gesellschaft ausgerechnet dort lokalisiert, wo ein direkter Zugriff so wenig möglich ist wie im Ton auf den Schall oder im Bild auf das Licht.

Die Theorie einer digitalen Gesellschaft ist die Theorie einer sich im Medium der Digitalisierung zugunsten eines neuen Materials und zugunsten veränderter Nutzungen öffnenden und reproduzierenden Gesellschaft. Wenn dieses neue Material und diese veränderten Nutzungen auf der Linie dessen liegen, was auch im Medium des Buchdrucks bereits möglich war, gibt es in der Tat keinen Grund, sich von der Idee der modernen Gesellschaft als Kontext auch der Digitalisierung zu verabschieden. Die Rede von einer „nächsten“ Gesellschaft wäre erst gerechtfertigt, wenn die Digitalisierung über bisherige statistische Zugriffe auf die Gesellschaft hinausgeht und Formen des Handelns, Erlebens und der Kommunikation möglich werden, die unter den Gesichtspunkten Granularität, Konnektivität und Interoperabilität neue Verhaltensdimensionen erschließen.

Dazu müsste man jedoch genauer wissen, wie Interaktion, Organisation, verschiedene Funktionssysteme und Protestbewegungen in je unterschiedlichen Formen mit elektronischen Medien experimentieren. Es geht nicht nur um das Verhältnis von Mensch und Maschine. Es geht darum, wie das soziale Format der Interaktion unter Anwesenden in Chats auch für Abwesende zugänglich wird, wie Organisation im Medium von Datenbanken aus ihrem Silo entlassen wird, wie Geld, Macht, Wahrheit, Liebe, Kunst durch Reputationswährungen, Exklusionspraktiken, Datenmodelle, Flüchtigkeitstoleranzen und Enthumanisierung reformatiert werden und wie Protestbewegungen das Netz nutzen, um ebenso überraschend aufzutauchen wie auch wieder zu verschwinden. Es genügt nicht, sich mit Statistiken auszukennen. Soziologen müssen sich mit der Vielfalt sozialer Formen auskennen, um die Lösungen auch nur würdigen zu können, die Designer und Nutzer für verschiedene Problemstellungen zu finden in der Lage sind.

Verdopplung durch Daten?

Zu bestreiten ist daher, dass eine weitere These von Nassehi zutrifft. Die Erfassung von Welt und Gesellschaft in digitalen Daten sei im Wesentlichen eine „Verdopplung“ der Welt (S. 108ff.). Selbst wenn der Befund stimmt, führte die Verdopplung als Dopplung der Welt in einem Bild eine Differenz zwischen Welt und Bild ein, die wie jede Reflexion vermutlich nicht nur beunruhigend, sondern auch wirkungsvoll wäre. Eine Gesellschaft, die mit dem Bild ihrer selbst konfrontiert wird, ist nicht mehr dieselbe Gesellschaft. Bilder verstärken Identitäten, legen Abweichungen nahe und rücken durch ihr Wiedererkennen Alternativen in Reichweite. Die Verdopplung wäre bereits eine Wiederholung, eine Verschiebung ins Nichtidentische. Aber die digitalen Daten verdoppeln die Welt nicht nur, sondern sie machen neue Sachverhalte zugänglich, erschließen neue Zusammenhänge und Abhängigkeiten, lösen vertraute Annahmen, Begrifflichkeiten und Semantiken auf und stellen mit all dem die Gesellschaft in einen neuen Horizont ihrer selbst. In genau dieser Hinsicht sind digitale Medien disruptiv.

All dies ist bereits der Fall, wenn man noch nicht einmal auf die auffälligste Neuerung hinweist, mit der uns die elektronischen Medien und digitalen Apparate konfrontieren. Erstmals werden Information, Mitteilung und Verstehen als die konstitutiven Akte einer Kommunikation so weit zeitlich, sachlich und sozial auseinandergezogen, dass Rechner intervenieren und den Sinn der Kommunikation nach eigenen Programmen verändern können. Erstmals, so bereits Luhmann, nehmen „unsichtbare Maschinen“ an der Kommunikation unter den Menschen teil und man kann nur froh sein, dass der Kommunikationsbegriff zumindest in der Systemtheorie bereits weit genug gefasst ist, um dieser Veränderung Rechnung zu tragen.

Die nächsten Schritte

Nassehi hat ein gutes Drittel einer vollständigen Theorie der digitalen Gesellschaft vorgelegt. Dieses Drittel besteht in der These, dass digitale Medien durch ihre Erfassung statistischer Muster menschlichen Verhaltens und natürlicher Ereignisse eine stochastische Struktur der Gesellschaft spiegeln, die seit Anbeginn der Moderne vertraut ist. Diese These ist hilfreich, weil sie die Schnelligkeit zu erklären vermag, mit der diese Medien in der Gesellschaft adaptiert worden sind. Aber zwei weitere Drittel wären anzuschließen.

Erstens wäre zu untersuchen, ob es Semantik und Struktur der digitalen Gesellschaft weiterhin gelingt, von einer Differenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme auszugehen. Immerhin steht deren am Bild der Bibliothek orientierte Sachordnung auf dem Prüfstand, seit sich Netzwerke von Identitäten bilden, die sich freizügig aus der Kombinatorik von Funktionssystemen, Organisationen, Interaktionsmilieus und sogar Protestbewegungen bedienen. Nach wie vor sind wirtschaftliche als wirtschaftliche, politische als politische, wissenschaftliche als wissenschaftliche und so weiter Sachverhalte gut zu erkennen und gut zu unterscheiden. Aber das Bewusstsein nicht nur für Interdependenzen, sondern vor allem für wechselseitige Konstitutionszusammenhänge wächst und stellt ein spezifisch modernes Rationalitätsmuster in Frage. Möglicherweise werden Ausdifferenzierung und Reproduktion sozialer Systeme anhand von Identitätsclustern und Kontrollprojekten im Sinne von Harrison C. White wahrscheinlicher als die dynamische Ordnung von Gesellschaft durch die Zuordnung von Individuen auf Konstellationen symbolisch generalisierter Medien, wie sie Talcott Parsons der hierarchischen Struktur traditioneller Gesellschaften gegenübergestellt hat. In diesem Zusammenhang wäre der Rolle von Organisation, Interaktion und Protestbewegung, immerhin Elemente einer Gesellschaft als Insgesamt aller Kommunikation, mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als es Nassehi in diesem Buch für nötig hält. Alle drei Ebenen der Systembildung operieren per se außerhalb der Ordnung der Funktionssysteme, wenn auch in wechselnder Strenge auf diese Ordnung bezogen und von ihr angeregt. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Eigendynamik dieser Ebenen außerhalb der Funktionssysteme verstärkt und die Funktionssysteme im Sinne von Luc Boltanski und Laurent Thévenot auf Kriterien der Urteilskraft zurückgenommen werden.

Und zweitens wäre zu untersuchen, welche Formen der Kommunikation sich zwischen Mensch und Maschine und nicht zuletzt auch zwischen den Maschinen herausbilden. Wenn wir weder in der Gesellschaft noch in den elektronischen Medien und digitalen Apparaten von einem Selbstlauf ausgehen können, sondern von Formen der Ausdifferenzierung, die strukturelle Kopplungen, wechselseitige Übernahmen von Komplexität, Intelligenz oder auch Ko-Evolution im Umgang miteinander voraussetzen, dann wird es wichtig, die Gestaltung von Schnittstellen, die Struktur von Daten, die wechselseitige Zurechnung von Kontingenz zu untersuchen, die diese Formen ermöglichen und einschränken. Nassehi geht davon aus, dass die Digitalisierung keine Grenzen kennt. Das mag sein. Die digitale Gesellschaft ist ein runaway system, wie es bereits die industrielle Gesellschaft der Ausbeutung fossiler Energien gewesen ist und weiterhin ist. Für einen Prozess der Technisierung gibt es keine Stoppregeln. Die Maschine sei ohne Vernunft, schreibt Nassehi (S. 247). Aber nach allem, was wir wissen, sind nicht die Systeme vernünftig, sondern ihre Orientierung an einer Umwelt, von der sie sich abgrenzen. Deswegen muss die Theorie der digitalen Gesellschaft zugleich eine Theorie des menschlichen Bewusstseins, der technischen Medien und der natürlichen Umwelt sein. Sie muss, mit einem Wort, eine Theorie der postdigitalen Gesellschaft sein, wenn es nicht mehr nur darum geht, bereits vorhandene Prozesse zu automatisieren, sondern neue Prozesse zwischen Mensch, Gesellschaft, Technik und Natur zu ermöglichen.

Das heißt jedoch nicht zuletzt, dass auch Nassehis Ausgangsthese der Gesellschaft als überindividuelle Ordnung der Musterbildung individuellen Verhaltens noch einmal geprüft werden muss. So wenig es darum gehen kann, statistische Korrelationen zu bezweifeln, so wenig genügen diese bereits als Inhalt einer soziologischen Theorie. Eine soziologische Theorie beginnt meines Erachtens mit der Frage danach, wie und warum sich welche Muster erhalten. Die Trägheit der Muster ist kein Explanans, sondern wäre selbst das Explanandum. Handeln und Erleben wären als situationsgebundenes („mikro“) und situationsübergreifendes („makro“) Orientierungsverhalten zu erklären. Je variabler die Situation und je ungewisser ihr Horizont, desto mehr Material liefert dieses Orientierungsverhalten für stochastische Modelle und desto dringlicher wird die soziologische Erklärung der individuellen, sozialen und kulturellen Fähigkeit zur Orientierung.

Diese Dringlichkeit steigt, wenn Displays, Datenbanken, Plattformen und intervenierende Algorithmen die Unterscheidung zwischen Situation und Horizont unscharf werden lassen, ohne dass der Bedarf an einer Unterscheidung dieser Art verschwinden würde. Die Unterscheidung zwischen Situation und Horizont spannt den strukturellen Rahmen auf, in dem Vergleich, Kritik und Affirmation als Grundlage individuellen Verhaltens möglich werden. Ohne diesen Rahmen bleibt nur die Drift beziehungsweise die digitale Sucht.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Gesellschaft Digitalisierung Systemtheorie / Soziale Systeme

Dirk Baecker

Professor Dr. Dirk Baecker ist Soziologe und lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.

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