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Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) Vgl. meine ausführliche Biographie: H. Kennedy, Karl Heinrich Ulrichs (1988), dt. Ausgabe: Karl Heinrich Ulrichs. Sein Leben und sein Werk (Beiträge zur Sexualforschung 65, 1990). war der erste, der eine wissenschaftliche Theorie zur Homosexualität formuliert hat, und diese schloß – wie Klaus Müller betont Klaus Müller, Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut. Homosexuelle Autobiographien und medizinische Pathographien im 19. Jahrhundert (Homosexualität und Literatur 4, 1991). – »die erste wissenschaftliche Theorie der Sexualität überhaupt« mit ein. Seine Theorie hat Ulrichs dargelegt und weiterentwickelt in den fünf Schriften, die in diesem Band versammelt sind. Es handelt sich um die ersten von insgesamt zwölf Schriften mit »Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe«, die zwischen 1864 und 1879 erschienen.
Das Neuartige an seinen Schriften zeigt sich allein schon darin, daß er darauf hinweisen konnte, den Begriff der ›mannmännlichen Liebe‹, der uns heute sehr vertraut klingt, als erster benutzt zu haben K. H. Ulrichs (Hg.), Alaudae S. 358.. Seine bedeutsamste sprachliche Neuprägung aber war der ›Urning‹, der männerliebende Mann, mit dem er den abwertenden Begriffen seiner Zeit einen positiven Begriff gegenüberstellte. Angeregt wurde er zu seiner Neuschöpfung durch die Rede des Pausanias in Platons Symposion Den entsprechenden Abschnitt zitiert Ulrichs als programmatischen Vorspann zu Prometheus (1870), dem ersten Heft einer unter dem Titel Uranus geplanten Zeitschrift für Urninge.. Der heute so geläufige Begriff ›Homosexualität‹ wurde ebenfalls in diesen Jahren von dem ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny geprägt Ulrichs und Kertbeny standen in Briefwechsel miteinander. In einem Brief vom 6. 5. 1868 taucht der von Kertbeny geprägte Begriff bereits auf, den er dann 1869 in einer anonym erschienenen Schrift zum Preußischen § 143 verwendet. Vgl. Manfred Herzer, Das Jahr 1869, in: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag, Kultur (1984) S. 10-12 und ders., Ein Brief von Kertbeny in Hannover an Ulrichs in Würzburg, in: Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte, Jg. 1 (1987) Nr. 1, S. 25-35., doch Ulrichs hat das Wort nie benutzt; er blieb beim ›Urning‹, der für ihn eine positive Bedeutung hatte. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden ›Homosexueller‹ und ›Urning‹ parallel benutzt – daneben noch andere Bezeichnungen wie ›Konträrsexueller‹ inzwischen hat sich der Begriff ›Homosexualität / homosexuell‹ längst durchgesetzt.
Ulrichs wollte mit seinen Schriften nicht nur aufklärend wirken, sondern auch – und das ganz besonders – zur Emanzipation der Urninge beitragen. In dieser Hinsicht war er der erste in einer Reihe von Forschern, die der Überzeugung waren, daß mit dem Nachweis der ›Natürlichkeit‹ der Homosexualität, d. h. mit dem Nachweis ihrer biologischen Grundlage, der Weg für eine gesellschaftliche Gleichbehandlung von Heterosexuellen (für Ulrichs: Dioninge) und Homosexuellen (Urninge) geebnet sei. Wenn uns das heute auch ein wenig naiv erscheint, so ist der Versuch doch von großer historischer Bedeutung, und wir lernen ihn besser verstehen, wenn wir die Schriften Ulrichs’ lesen.
Am 28. August 1825 kam Karl Heinrich Ulrichs als zweites von fünf Kindern des Landbaumeisters Hermann Heinrich Ulrichs und seiner Ehefrau Anna Elise, geborene Heinrichs, auf dem väterlichen Gut Westerfeld bei Aurich (Ostfriesland) zur Welt. Sein Vater starb 1835, und bald darauf zog die Mutter mit ihm und seiner jüngeren Schwester Ulrike nach Burgdorf, wo bereits die ältere Schwester Louise bei dem Vater seiner Mutter, dem Superintendenten Johann Heinrichs, wohnte. Von ihm wurde Ulrichs in der Burgdorfer lutherischen Kirche konfirmiert. Bis 1842 besuchte er das Gymnasium in Detmold, wo der Bruder seiner Mutter, Dr. Karl Heinrichs, Pastor war. Zunächst beabsichtigte Ulrichs, sich dem Baufach zu widmen, studierte dann aber von 1844 bis 1846 in Göttingen und von 1846 bis 1847 in Berlin Rechtswissenschaft. Er bestand 1848 das Amtsauditor-Examen und war von 1848 bis 1852 Amtsauditor im Königreich Hannover. 1852 bestand er das Amtsassessor-Examen und blieb bis Dezember 1854 im Hannoverschen Verwaltungs- und Justizdienst tätig, bis er auf eigenen Wunsch ausschied, um einem drohenden Disziplinarverfahren wegen seiner Homosexualität zuvorzukommen. Es wurde ihm gestattet, weiterhin den Titel eines Amtsassessors zu führen.
Ulrichs lebte nun für einige Zeit bei seinem Schwager Pastor Grupen in Dassel, dann wieder bei seiner Mutter in Burgdorf, reiste durch mehrere deutsche Städte, ließ sich für ein knappes Jahr in Mainz nieder, kehrte aber nach dem Tod seiner Mutter im Dezember 1858 nach Burgdorf zurück. Die einzige ernste Krankheit, unter der er je zu leiden hatte, eine Lungenentzündung, befiel ihn in diesem Jahr 1858. Schon im Sommer 1859 bereiste er wieder mehrere deutsche Städte und hielt sich dann von Oktober 1859 bis März 1863 fast ohne Unterbrechung in Frankfurt am Main auf, wo er Studien zur Poetik, zur germanischen Mythologie und zum Öffentlichen Recht betrieb. Wohl wegen seiner Kenntnisse auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts erhielt er eine Anstellung als Sekretär von J. T. B. Linde, der als Gesandter von Liechtenstein, Reuss ältere Linie und Hessen-Homburg beim Bundestag in Frankfurt tätig war.
Die ersten fünf Schriften seiner »Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe« schrieb Ulrichs in den Jahren 1863 bis 1865 und veröffentlichte sie unter dem Pseudonym »Numa Numantius«. Er hat die Studien später unter seinem richtigen Namen fortgesetzt; die zwölfte und letzte erschien 1879.
Nachdem Hannover 1866 von Preußen annektiert worden war, sprach sich Ulrichs öffentlich gegen das neue Regime aus und wurde zweimal verhaftet. Im Juli 1867 aus der Haft entlassen und aus Hannover ausgewiesen, reiste er nach München zum Deutschen Juristentag, auf dem er am 29. August 1867 versuchte, eine Resolution gegen den preußischen Antihomosexuellen-Paragraphen zu verlesen. Er wurde niedergeschrien und daran gehindert, seine Rede zu beenden. Ein zweiter Versuch, seine Resolution schriftlich einzubringen, wurde im Juni 1868 zurückgewiesen.
Ulrichs lebte bis etwa 1870 in Würzburg und siedelte dann nach Stuttgart über, wo er zehn Jahre blieb. 1880 verließ er Deutschland und verbrachte die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens in Italien. Nach drei Jahren in Neapel zog er nach Aquila (Abruzzen), wo er sich durch Sprachunterricht ernährte. Seit 1889 scheint er davon gelebt zu haben, daß er alleine eine Zeitschrift ( Alaudae) Zwischen Mai 1889 und Februar 1895 erschienen 33 Ausgaben. herausgab, die er vollständig in lateinischer Sprache schrieb und die das Ziel haben sollte, Latein als internationale Sprache wiederzubeleben.
Ulrichs starb am 14. Juli 1895 an einer Nierenentzündung und wurde neben dem Grab seines Förderers und Gönners, des Marquis Niccolò Persichetti, in Aquila beigesetzt.
Ulrichs erinnerte sich zwar in späteren Jahren daran, daß er als Fünfzehnjähriger an sich Anzeichen seiner Homosexualität gespürt habe, doch sei er sich ihrer erst in seinem 22. Lebensjahr als Student in Berlin vollständig bewußt geworden. Von 1854 an gewann er die Überzeugung vom Angeborensein seiner sexuellen Orientierung. Johann Ludwig Casper, der 1850 in Berlin die Praktische Unterrichtsanstalt für forensische Medizin begründet hatte, hatte bereits 1852 behauptet, die ›Päderastie‹ sei in vielen Fällen angeboren J. L. Casper, Ueber Nothzucht und Päderastie und deren Ermittelung Seitens des Gerichtsarztes. Nach eigenen Beobachtungen, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 1 (1852) S. 21-78. Wenige Jahre zuvor hatte bereits der französische Arzt Claude François Michéa die ›griechische Liebe‹ als ›passion instinctiv‹ bezeichnet. Vgl. Manfred Herzer, Zum Ursprung des Angeborenseins, in: Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte, Jg. 1 (1987) Nr. 1, S. 20-24.; Ulrichs nahm diese Äußerung aber erst 1864 zur Kenntnis. Er scheint allein durch Selbsterforschung zu seiner Überzeugung gelangt zu sein: eigene Lebenserfahrungen verwendet er in seinen Schriften immer wieder zur Illustration und Abstützung seiner Argumente.
Der wesentliche Punkt in seiner Theorie der Homosexualität ist die Überzeugung, daß der männliche Homosexuelle eine weibliche Seele in einem männlichen Körper besitze. Ein autobiographischer Text, den er 1861 dem Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt einreichte, zeigt, daß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu dieser Auffassung gelangt war; vielmehr versuchte er hier die Anziehung, die Männer auf ihn ausübten, noch als »passiven animalischen Magnetismus« zu erklären. Die Existenz eines solchen Magnetismus war im 18. Jahrhundert von F. A. Mesmer angenommen worden, später aber war diese Lehre in Mißkredit geraten. Mesmers Idee wurde 1831 in Frankreich von Alexandre Bertrand wieder aufgegriffen und fand auch in Deutschland stärkere Beachtung, als K. L. Reichenbach die Entdeckung einer magnetischen Kraft verkündete, die er »Od« nannte. Obwohl Ulrichs auch später sexuelle Anziehung als tierischen Magnetismus auffaßte, kam er doch bald zu der Überzeugung, er habe eine naturwissenschaftlich besser begründete Theorie über die Ursachen der Homosexualität gefunden, die er der Literatur über Hermaphroditismus entnahm. Danach waren die Menschen zwar entweder mit männlichen oder mit weiblichen Sexualorganen geboren, doch zuweilen gab es Ausnahmen von diesem Naturgesetz, die wissenschaftlich beschrieben wurden. Entsprechend nahm nun Ulrichs an, daß es auch Ausnahmen von dem Naturgesetz gebe, nach dem Personen mit männlichen Sexualorganen (Männer) von Frauen angezogen werden. Da die Richtung der sexuellen Anziehung nicht einheitlich und eindeutig ist, folgerte er, daß dies nicht durch den Körper, sondern durch die Seele bewirkt werde. Die auf einen Mann gerichtete sexuelle Anziehung war für ihn immer weiblicher Natur, deshalb mußte die Seele der Männer, die von Männern angezogen wurden, weiblich sein. Seine Formel dafür lautete: eine weibliche Seele, eingeschlossen in einem männlichen Körper (›anima muliebris in corpore virili inclusa‹).
Da in den frühen Entwicklungsphasen des Embryo die Sexualorgane nicht unterschieden sind, glaubte Ulrichs, daß in diesen Phasen noch beide Möglichkeiten der Entwicklung gegeben seien, was er durch die Existenz von Hermaphroditen bestätigt sah. Er postulierte, daß es einen »Keim« geben müsse, der bestimmt, ob sich die Sexualorgane männlich oder weiblich herausbilden. Um erklären zu können, warum der Geschlechtstrieb nicht unbedingt mit den Sexualorganen eines Individuums übereinstimmt, postulierte er die Existenz eines weiteren »Keims«, der die Richtung des Geschlechtstriebs bestimme. Zwar sei es ein Naturgesetz, daß diese beiden Keime in einem Individuum in die gleiche Richtung weisen, doch gebe es zuweilen Ausnahmen von dieser Regel, durch die Menschen wie er selbst hervorgebracht würden, die weder vollständig Männer noch vollständig Frauen seien, sondern eher ein »drittes Geschlecht« bildeten (so die Formulierung in Vindex S. 5). Er erwog auch die Existenz eines »vierten Geschlechts«, also eines weiblichen Körpers mit männlicher Seele, doch waren ihm zu dieser Zeit solche Individuen noch nicht bekannt.
Den Ausdruck »drittes Geschlecht« hatten bereits verschiedene andere Autoren verwendet, von Plato ( Symposion) bis zu Théophile Gautier ( Mademoiselle de Maupin, 1835/36), allerdings mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen, die alle nicht dem Konzept von Ulrichs entsprachen. Wie er später anerkennend bemerkte, war die Möglichkeit einer weiblichen Seele in einem männlichen Körper schon in der »rabbinischen Seelenwanderungslehre« vorformuliert. Heinrich Hössli hatte darauf im ersten Band seines Eros. Die Männerliebe der Griechen (1836) hingewiesen, ohne jedoch darin eine Erklärung für die Männerliebe zu sehen. Offensichtlich hat Ulrichs seine Theorie eigenständig entwickelt; denn Hösslis Buch hat er nicht vor 1866 gelesen.
Ulrichs glaubte, die Befreiung der Menschen seiner Art von rechtlicher, religiöser und sozialer Verurteilung eher erreichen zu können, wenn er mit seiner Terminologie auf die Natur der Individuen abzielte und nicht auf deren sexuelle Betätigung. Wenn Casper und andere beispielsweise vom ›Päderasten‹ sprachen, so verwendeten sie zwar den griechischen Begriff für ›Knabenliebhaber‹, doch dieses Wort war längst mit dem lateinischen ›paedicatio‹ (Analverkehr) in Verbindung gebracht worden, so daß beide Ausdrücke als synonym empfunden wurden.
Zur Bestätigung seiner Theorie berief sich Ulrichs anfangs auch auf den ›weiblichen Habitus‹, der den Urningen eigentümlich sei. Doch schon gegen Ende des Jahres 1864 überzeugte ihn seine zunehmende Erfahrung, daß die Dinge nicht so einfach lagen: Es gab Männer, die sowohl Männer als auch Frauen liebten; es gab Männer, die andere Männer »zartschwärmerisch« liebten und Frauen sinnlich begehrten usw. Um auch diese Möglichkeiten berücksichtigen zu können, erweiterte er seine Theorie und nahm nicht nur einen, sondern zwei Keime für den Geschlechtstrieb an: einen für die »zartschwärmerische« und einen für die sinnliche Liebe. Seine Terminologie erweiterte er durch ›Uranodioning‹, ›konjunktiver Uranodioning‹, ›disjunktiver Uranodioning‹ und andere Begriffe. Der entscheidende Gedanke war, daß alle Arten der Liebe für die jeweiligen Individuen natürlich und folglich weder sündhaft oder gar ein Verbrechen waren, wie dies die meisten deutschen Strafgesetzbücher behaupteten.
In Memnon (1868) formuliert Ulrichs seine Theorie in endgültiger Gestalt: Es gab danach keine grundsätzlichen Änderungen mehr, sondern nur eine größere Ordnung und Vollständigkeit der einzelnen Aspekte. In den Jahren danach erörterte er in seinen Schriften zur Homosexualität fast nur noch rechtliche und soziale Fragen.
Obwohl Ulrichs' Theorie eigenständig ist, war sie doch auch beeinflußt vom wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit und spiegelt »das Erkenntnisinteresse der neuen Wissenschaften vom Menschen«, die um 1800 »gerade dabei sind, die Art der Verbindung zwischen körperlichen Anlagen und psychologischem Vermögen näher zu bestimmen« Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850 (1991) S. 56.. Ulrichs stand unter dem Einfluß der neuen Erkenntnisse in der Biologie, insbesondere der Embryologie, und wie beim Philosophieprofessor Joseph Hillebrand ( Die Anthropologie als Wissenschaft, 1822) kann man auch bei Ulrichs von einer »keinesfalls untypischen Mischung von dezidierter Eklektik und Übersystematisierung« Honegger ebd.S. 123 sprechen.
Ulrichs war ein Mann seiner Zeit. Thomas Laqueurs These, daß Sexualität als einzigartiges und umfassendes Attribut eines Menschen mit seinem spezifischen Objekt, nämlich dem entgegengesetzten Geschlecht, keine natürliche Gegebenheit, sondern eine ›Erfindung‹ des 18. Jahrhunderts sei Thomas Laqueur, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud (1990), dt. Ausgabe: Auf den Leib geschrieben (1992) S. 172., hätte für Ulrichs keinen Sinn gemacht: Es war gerade die ›Natürlichkeit‹, von der er am stärksten überzeugt war. Laqueur spricht von dem neuen Slogan (neu um 1800!), daß Gegensätze sich anziehen: für Ulrichs war gerade diese These ein Punkt, der ihm bei seiner Theorie große Schwierigkeiten bereitete, den er aber nie in Frage stellte.
Ulrichs' Interessen waren äußerst vielfältig, und seine Talente zeigten sich auf mehreren Gebieten (so war er auch ein Meister der lateinischen Sprache), doch seine größte Energie setzte er ein, um für eine aufgeklärte und humane Behandlung der Urninge zu kämpfen. Treibendes Motiv hinter seinem langandauernden Bemühen war seine Empörung über jede Art von Ungerechtigkeit. Er verglich seine Anstrengungen mit denen früherer Jahrhunderte, als es darum ging, Folter und Hexenverfolgung abzuschaffen. Wenn einzelne Urninge verfolgt wurden, versuchte er, durch schriftliche Eingaben zu intervenieren und durch gezielte Verbreitung seiner Schriften auf die Öffentlichkeit und auf die Verfolgungsbehörden einzuwirken. Zumeist stieß sein Bemühen auf taube Ohren, und falls seine Theorie überhaupt einmal kommentiert wurde, handelte es sich meist um spöttische Zurückweisungen, wobei als Argument stets angeführt wurde, Ulrichs könne allein schon deshalb nicht ernst genommen werden, weil er sich selbst als Urning bezeichne und folglich pro domo spreche. So gelang es ihm nicht, auch nur eines der antihomosexuellen Strafgesetze ins Wanken zu bringen, vielmehr mußte er erleben, daß das strenge preußische Gesetz 1871 auf ganz Deutschland ausgeweitet wurde.
Obwohl Ulrichs' Theorie so wissenschaftlich war wie irgendeine andere zeitgenössische Theorie, verlor sie doch die Kraft ihrer ursprünglichen Einfachheit, als immer wieder neue Beobachtungen die Berücksichtigung neuer Varianten erforderten, so daß sie bald in ihrer Kompliziertheit den Epizyklen der späteren ptolemäischen Theorie des Weltalls immer ähnlicher wurde. Grundsätzlich kann gegen seine Theorie eingewendet werden, daß die Liebe, die sich auf Männer richtet, durchaus nicht weiblich sein muß, und tatsächlich wurde dieser Einwand noch vor dem Ende des Jahrhunderts erhoben.
Ulrichs trug dazu bei, daß im 19. Jahrhundert der Homosexuelle zunehmend als eigenständiger Typus wahrgenommen wurde, der in der Bevölkerung häufiger vorkommt, als man bis dahin geglaubt hatte. Seine Schätzung, wonach von 500 Männern in Deutschland einer ein Urning sei, wurde immer wieder als zu hoch zurückgewiesen, doch trug sie dazu bei, daß man die Homosexuellen mehr und mehr zur Kenntnis nahm. Statt jedoch den Urning als natürlichen und gesunden Menschen zu akzeptieren, wie Ulrichs erwartet hatte, blieben Ärzte und Psychiater, auch wenn sie den Begriff Urning übernahmen, dabei, solche Individuen als Kranke anzusehen. Ironischerweise räumte Richard von Krafft-Ebing ein, allein durch Ulrichs Schriften zum Studium der Homosexualität gekommen zu sein; er wurde in der Folgezeit zum führenden Vertreter einer Psychiatrie, die Homosexualität als Merkmal der Pathologie und Degeneration ansah. Zugleich übernahm er aber auch von Ulrichs das Engagement für die Abschaffung des ›Paragraphen‹ in Deutschland und Österreich. In vielen seiner Schriften kritisierte er, daß Sexualität zwischen Männern (in Österreich auch zwischen Frauen) als Verbrechen galt.
Ulrichs, dessen Theorie später Magnus Hirschfeld in veränderter Form aufgriff, hat die von ihm angestrebte Emanzipation der Homosexuellen nicht erlebt, ja selbst heute ist dieses Ziel noch nicht voll erreicht. So bleibt sein mutiges Engagement für die Rechte der Homosexuellen Verpflichtung auch für die heutige Schwulenbewegung.