Tanzhäuser sind nicht mehr nur Ort des Zeigens, sondern auch des Denkens. Das Tanzquartier Wien ist ein solcher Ort; er verbindet künstlerische Praxis mit theoretischem Diskurs.
Manchmal schleicht sie dahin, manchmal rast sie davon – die Zeit. Es fällt uns schwer, ihre Eigentümlichkeit zu verstehen, geschweige denn, sie zu beschreiben. Aber schliesslich sind wir dazu befähigt, jederzeit neue Vokabeln zu kreieren für Dinge und Sachverhalte, die noch keine Bezeichnungen tragen. Beispielsweise für das sonderbare Gefühl, das sich mitunter beim Zugfahren einstellt. Denn während die Zeit innerhalb des Waggons im gewohnten Tempo fortschreitet, scheint sie ausserhalb und mit dem Vorüberziehen der Landschaft nur so dahinzusausen. Das Zeitgefühl ist diffus und unentschlossen.
Mit diesem und anderen menschlichen Zeitempfindungen hat sich die Maska-Research Group beschäftigt und schlägt «in-out-betweenness» als eine neue Wortschöpfung vor, welche besagtes Zeitgefühl im Zug möglichst treffend benennen soll. Das slowenische Kollektiv hat sich künstlerisch und wissenschaftlich mit dem Phänomen «Zeit» auseinandergesetzt und reiht sich damit in die sogenannt künstlerische Forschung ein, wie sie mittlerweile an zahlreichen Kunsthochschulen und kulturellen Institutionen praktiziert wird. So auch im Tanzquartier in Wien, wo die Maska-Research Group ihr phantasievolles Zeitglossar im Rahmen der «Scores No. 8» präsentieren konnte.
Die «Scores» sind künstlerisch-theoretische Parcours, die sowohl künstlerische Werke als auch theoretische Vorträge umfassen. Sie sind immer mehrtägig angelegt und stehen unter einer bestimmten Thematik oder Fragestellung, mit der sich die Teilnehmenden in Workshops, Vorträgen, Lectures und Aufführungen auseinandersetzen. «In den ‹Scores› möchten wir die Idee des griechischen Symposions als feierliches Gelage mit philosophischem Diskurs ernst nehmen und weiterdenken», erklärt Walter Heun, der das Tanzquartier seit 2009 leitet. Diese Idee scheint zu fruchten, denn mittlerweile sind die «Scores» zu einem Begegnungsort für einen gesellschaftspolitischen Diskurs geworden, bei dem es nicht nur darum geht, Kunst zu konsumieren, sondern sich aktiv mit ihren Möglichkeiten auseinanderzusetzen.
«Der Theatergänger will natürlich in erster Linie unterhalten werden. Aber das ist nicht alles, denn schliesslich besteht in den Künsten die einzige Möglichkeit, das menschliche Dasein spielerisch zu hinterfragen.» Heun und sein Team haben es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die gesellschaftliche und politische Relevanz von Tanz und Performance zu erkunden. Dass dieses Experiment nicht nur für Tanzspezialisten anregend ist, wird bei einem Besuch im Tanzquartier Wien schnell klar. In allen Veranstaltungen innerhalb der Scores No. 8, die diesmal unter dem Motto «Lures of Speculation» laufen, finden sich nebst Tanzschaffenden auch Vertreter aus der Wirtschaftswissenschaft, dem Journalismus und der Philosophie. Sogar Studentengruppen füllen die Stuhlreihen. Hier tauscht man sich aus, hier wird man herausgefordert.
Diese bunte Mischung von Interessierten hat das Tanzquartier Wien nicht zuletzt seiner einmalig ausgeprägten internationalen Vernetzung zu verdanken. Das Haus vergibt einerseits Produktionsaufträge an österreichische und ausländische Künstlerinnen und Künstler, gibt ihnen andererseits aber auch die Gelegenheit, sich ihren eigenen Projekten zu widmen. Dafür werden den Künstlern Räumlichkeiten zur Verfügung und Experten zur Seite gestellt. «Manchmal lassen wir die betreffende Person aber auch bewusst allein», führt Walter Heun fort, «denn es geht nicht darum, es dem Künstler möglichst bequem zu machen, sondern darum, eine interessante Mischung zu erzeugen. Wie bei einem Fest, wo ich entscheiden muss, ob die Gäste ihren Teil zum Buffet beitragen oder ob ich ein Essen für ausgewählte Personen veranstalte. Letztlich geht es darum, Gemeinschaft zu organisieren und Gastfreundschaft zu pflegen.»
Trotzdem versteht sich das Wiener Tanzquartier nicht als vermittelnde Instanz zwischen den Kulturen. «Interkulturell bedeutet immer eine Abgrenzung von fremd und eigen; das ist zu einfach. Schliesslich besteht ein Künstler aus viel mehr als seiner Nationalität», betont Walter Heun. In den letzten Jahren ist es ihm und seinem Team gelungen, viele Künstler aus dem arabischen Raum einzuladen. Und während gewisse Tanzfestivals diesen Fokus als interkulturellen Austausch betiteln und damit ein bestimmtes Publikum ansprechen, geht es dem Wiener Haus vielmehr darum, einen Dialog zu schaffen. «Dabei müssen wir uns als Institution unbedingt immer wieder reflektieren und uns fragen, ob es das Richtige ist, was wir für die Künstler tun.»
Bis jetzt scheint das Konzept jedenfalls aufzugehen, denn im Tanzquartier herrscht ein reger Dialog, was auch bei den «Scores No. 8» zum Ausdruck kommt. In einem vollen Saal, der tagsüber noch als Trainingsraum gedient hat, lauscht man beispielsweise Christian Felber, der über unseren zukünftigen Umgang mit Geld referiert und dafür bewunderndes Kopfnicken und schnippisches Lächeln erntet. Oder man schaut der Performerin Saška Rakef zu, die sich an einem Tisch sitzend beinah abstruse Gedanken zu ihrer finanziellen Situation macht. Oder man findet sich an einem Kasinotisch wieder und hilft, einen überdimensionalen Hunderteuroschein zu zerreissen. Egal ob Vortrag oder Performance, man ist immer bestens unterhalten. Aber das ist eben nicht alles. Diese Veranstaltungen hinterlassen mehr als blosse Eindrücke, man macht sich Gedanken. Zu einem allumfassenden Thema, in einem Haus für Tanz. An einem Ort wie dem Tanzquartier in Wien wird klar, dass man die Vorstellung vom Tanz als einer reinen Bühnenkunst hinter sich lassen sollte, denn in dieser Kunstform schlummert noch viel mehr.