Bei allem Nostalgieverdacht, wenn's ums endgültige Abschiednehmen geht: Die Basler Komödie kann nach den 50 Jahren, die sie heute auf dem Buckel hat, auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Nachdem Ende des vergangenen Jahres der letzte Vorhang gefallen ist, geht er schon bald, nur einen Steinwurf weit entfernt, im neuen Schauspielhaus wieder auf - nicht zuletzt dank «Ladies First», einer anonymen Gruppe von privaten Basler Spenderinnen, die 20 Millionen Franken zum Neubau beitrugen.
Helmuth Lohner erinnert sich noch genau: Hocherfreut war er 1961 erstmals nach Basel gekommen, gerufen vom Komödiendirektor Egon Karter, um zur Eröffnung des neuen Hauses die Titelfigur im «Hamlet» zu spielen. Dass auf dem Bauplatz, den er vorfand, zum vorgesehenen Termin Theater gespielt werden sollte, das allerdings konnte er sich nicht recht vorstellen. Man probte nachts, manchmal bis morgens früh um fünf, um dem Baulärm etwas zu entgehen. Aber noch «während der Generalprobe», blickt er heute amüsiert zurück, «begann knapp vor dem ‹Sein oder Nichtsein›-Monolog der obligatorische Presslufthammer».
40 Jahre später, und nicht ganz zufällig, das gleiche Szenario: Das neue Schauspielhaus erzittert unter den Endproben zu «Hamlet» - und unter dem Hämmern und Bohren der Bauarbeiter. Die Titelrolle spielt diesmal das Jungtalent Katharina Schmalenberg, die Regiefäden zieht der Schauspieldirektor Stefan Bachmann. Und alle bangen: Reicht die Zeit, wird alles fertig bis zur Eröffnung Mitte Januar?
Was der junge Lohner damals mit eröffnete, war allerdings schon der Ausbau zur Komödie III, die Erweiterung des intimen Plüschtheaters auf 600 Plätze. Elf Jahre davor war mitten in der Kinomeile diese erste Basler Sprechbühne gegründet worden, ein rotdamastiges Schmuckkästchen mit knapp 260 Sitzplätzen und einer Nudelbrettbühne von gerade mal 4,6 Metern Tiefe. Mit dabei im Gründungsensemble die 24-jährige Maria Schell, die in der ersten Spielzeit unter anderem als Nora brillierte. Der Komödiengründer Egon Karter war, wie sie in ihren Memoiren schreibt, ihre erste Liebe, und bei der Eröffnung hat sie natürlich «bis zehn Minuten vor Premierenbeginn den Zuschauerraum gestaubsaugt und geputzt». Alle machten (fast) alles - das war eines der Prinzipien in den ersten 18 Jahren, in denen diese Bühne als Privattheater betrieben wurde. Maximilian Schell war hier in den Anfangsjahren Schauspieler, Regisseur und Dramaturg; Horst Statkus, der spätere Theaterdirektor in Basel und Luzern, fungierte (wie in Reinhardt Stumms akribisch-amüsantem Buch «Komödie Basel - 50 Jahre Ach und Krach» nachzulesen) in den frühen Sechzigern gleichzeitig als Dramaturg, Disponent, Inspizient, Presseverantwortlicher, stellvertretender Direktor, Leiter des Betriebsbüros und Buchhalter - und alles für eine Gage von 1000 Franken im Monat.
Ein zweites Prinzip der Komödienbühne: Sie funktionierte als Sprungbrett für junge Talente. Egon Karter hatte eine ausgeprägte Nase für Schauspielerbegabungen. So hatten auch Ulrich Wildgruber oder Vera Tschechowa erste Engagements in der Basler Komödie. Und als Gäste paradierten in den fünfziger und sechziger Jahren zahlreiche Stars übers schmale Nudelbrett: Maria Becker, Margrit Winter, Barbara Rütting, Albert Bassermann (in einer seiner letzten Rollen als Lessings Nathan) und Leopold Biberti, Leonard Steckel, Will Quadflieg. Wer aber ist der heute 90-jährige Egon Karter? Schauspieler, Sänger, Regisseur, Impresario - ein Tausendsassa mit österreichischem Charme, spielerischer Leidenschaft und einer guten Portion Geschäftstüchtigkeit. Im Zweiten Weltkrieg gelang dem Sohn jüdischer Eltern die Flucht von Wien nach Basel. Sofort erkannte er: Wohl gab's hier das 1834 gegründete Stadttheater für Oper, Operette und Ballett, aber keine für das Schauspiel wirklich geeignete Bühne. Das wussten zwar alle, nur war Karter der erste, der konkret etwas dagegen unternahm - und viel erreichte.
Karters Verdienste für die Etablierung des Sprechtheaters in der Musikstadt Basel können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als seine Komödie bereits in der ersten Saison ein voller Erfolg war, mietete sich das Stadttheater mit seinem Schauspiel bei ihm ein. Weil er aber innert dreier Jahre die Zuschauerzahl mit 65 000 Besuchern fast verdreifachte, empfand man ihn doch wieder als Konkurrenten und legte ihm zahllose Steine in den Weg. Unterkriegen liess er sich dadurch nicht, eher machte es seine Spielpläne mutiger und griffiger. Bis 1968 wurde hier in einer publikumsfreundlichen Mischung aus Klassikern, gehobener Unterhaltung und neuen Stücken vieles gespielt, was Rang und Namen hatte - oder eben zu gewinnen suchte: Osborne, Pinter und Beckett neben Shakespeare; Schiller, Brecht und Dürrenmatt; Curt Goetz neben Sartre, «Hello Dolly» und Edward Albee; Molière, Vitrac und Camus. Es müssen theaterverrückte Zeiten gewesen sein: Pro Saison jagte man bis zu 27 Produktionen über die Bühne; heute sind es noch 9.
Nach dem Rücktritt von Egon Karter und mit dem Amtsantritt von Werner Düggelin als Direktor des Basler Theaters im Jahre 1968 wurden Stadttheater und Komödie fusioniert. Die Zusammenlegung war eine Forderung Düggelins gewesen. Ohne den Spielort Komödie hätte er sein Konzept, das die Stadt theatralisch ganz neu aufmischen sollte, nicht verwirklichen können. Bereits die erste Produktion, Horváths «Kasimir und Karoline» mit der unvergesslichen Hilde Ziegler und inszeniert von Hans Hollmann, setzte einen Markstein. Als erste Basler Inszenierung überhaupt wurde sie ans Berliner Theatertreffen eingeladen, und für Basel markierte sie den Einstand des sogenannten Regietheaters, gleich auf höchstem Niveau.
Wenn man aus den 33 Jahren unter sieben verschiedenen Intendanten (siehe Kasten), die diesem elektrisierenden Auftakt folgten, nur drei weitere Theaterereignisse herausgreifen dürfte, dann müssten Hans Bauers «Warten auf Godot» (1969) mit Hubert Kronlachner, Horst Beckmann und Peter Brogle als Lucky dazugehören genauso wie Frank Castorfs zauberhaft dekonstruierter «Aias» nach Sophokles (1989) und Andreas Kriegenburgs luzid bedrückende «Maria Magdalene» (1998) mit Katharina Schmalenberg. Was diese Bühne unvergesslich macht, sind die Schauspieler, die sie mit Leben füllten, zum Blühen brachten: Regine Lutz, Norbert Schwientek, Nikola Weisse, André Jung, Désirée Meiser, Inka Friedrich - stellvertretend für die Schauspielergenerationen aus fünf Jahrzehnten. Auch Christoph Marthaler inszenierte hier seine ersten Stücke und schnarchte sich im Kollektiv durch sein «Prohelvetia».
Als Raum ist die Basler Komödie in mehrfacher Hinsicht ein Unikum. Wahrscheinlich kann man ein Theater gar nicht besser verstecken. Ausser dem unscheinbaren Schriftzug weist nichts in der Kino- und Shoppingmeile der Steinenvorstadt auf einen Theaterbau hin. Das irritiert nicht nur auswärtige Besucher. Zwischen einem Geschäft für Braut- und Umstandsmode und einem Plattenladen zwängte man sich jahrzehntelang durch einen nüchternen, schmalen Gang. Im Innern des Neubaus empfängt den Besucher ein auf alt getrimmtes Rokokotheater, was ihm auch schon den Namen Plüschbunker eingetragen hat.
Unvergleichlich aber ist die Kompaktheit des Zuschauerraumes, die unmittelbare Nähe zur Bühne. Da kann der Schauspieler, wie ein Journalist nach der Eröffnung der Komödie schwärmte, einem Zuschauer in der hintersten Reihe etwas ins Ohr flüstern. Die Kehrseite dieser wunderbaren Intimität sind die unglaublichen Beengtheiten und Beschränktheiten für die Künstler und Techniker. Es fehlen Hinter-, Vorder-, Seitenbühnen, die Garderoben sind enger als Hundezwinger, in der Requisite kann sich bestenfalls eine Person knapp drehen. Die feuerpolizeilichen Auflagen entsprechen etwa jenen in einer Schiesspulverfabrik. Seit über dreissig Jahren hat man deshalb immer wieder nach Alternativen gesucht. Neubau am alten Ort? Umbau des benachbarten «Kinos Küchlin» oder des ehemaligen Ganthauses? Oder doch lieber ein neues Schauspielhaus auf dem Theaterplatz vor dem grossen Haus?
Durchgesetzt hat sich schliesslich die vielfach modifizierte Ganthaus-Variante. Die Initialzündung aber kam wieder von privater Seite. Das Basler Tabakskollegium, ein exklusiver Herrenklub um den Publizisten und Historiker Markus Kutter, garantierte 1996 private Beiträge in der Höhe von 5 Millionen Franken für eine Ganthaus-Schauspielbühne, wenn die übrigen 20 Millionen von den beiden Basler Halbkantonen aufgebracht würden. Der Rest tönt wie glückliches Bürger-Pokern und ist dennoch wahr. Die Basler Regierung steigt auf das Angebot ein und bietet selber 11,5 Millionen - falls 9,5 Millionen von privater Seite hinzukämen. Nun schlägt die Stunde der Stiftung «Ladies First», eines neu gegründeten Vereins anonymer Spenderinnen, die den Neubau ermöglichen wollen. Im Nu haben sie 7 Millionen zusammen, bald auch die geforderten 9,5; und weil sie sich mit einer Sparlösung nicht zufriedengeben wollen, sammeln sie weiter, um den Innenausbau zu optimieren. Von 1998 bis heute haben die anonymen «Ladies», wie ihre Sprecherin Gisela Kutter bestätigt, sagenhafte 20 Millionen fürs neue Schauspielhaus gesammelt, inklusive einer 2-Millionen-Spende einer einzelnen Lady für das benachbarte Theaterrestaurant.
Über 800 Einzelspenden sind bei der Stiftung eingegangen, auch von rund 300 Männern und Firmen. Privates Engagement für öffentliche Kultur hat in Basel Tradition. Die breite Verankerung des Schauspielhausneubaus in der Bevölkerung erinnert an die Beteiligung der Öffentlichkeit beim Ankauf des Ursula-Reliquiars 1956 und der Picasso-Bilder 1967. Den Kern der anonymen Stiftungsgründerinnen aber bildet eine Gruppe von etwa einem halben Dutzend Frauen. Was hat sie motiviert, für einen Theaterneubau so tief in die eigene Tasche zu greifen? «Das sind alles keine Golf spielenden und Hermès-Täschchen schwingenden Luxusdamen», betont Gisela Kutter. «Alle sind im sozialtherapeutischen Bereich berufstätige Frauen, deren Vermögen sich durch den Börsenboom, ohne ihr Zutun, gewaltig vermehrt hatte. Das ist ihnen direkt unheimlich geworden. Dieses geschenkte Geld wollten sie reinvestieren - wohin, wenn nicht in ein Projekt für die Allgemeinheit?» Und warum anonym? «Weil ihnen der ganze Schenkungsfetischismus mit Gedenktafeln und Sponsorenlisten höchst zuwider ist.» Deshalb wird auch im neuen Schauspielhaus nirgendwo eine Schenkungstafel an «Ladies First» erinnern. Nicht mal anonym.
Das neue Schauspielhaus der Architekten Schwarz-Gutmann-Pfister versteckt sich nicht. Man sieht es, und man wird darin gesehen. Durch die grosszügige Glasfassade spielt es - für ein Publikumsgebäude wie das Theater durchaus reizvoll - mit dem Aquarium-Effekt. Die Zahl der Sitzplätze im Theaterraum lässt sich je nach Bühnenanordnung flexibel variieren, von rund 300 bis maximal 500. Um den Detailausbau im Innern gab's einige Querelen mit den spendablen «Ladies», die das gesammelte Geld sehr zielgenau bis in Geschmacksfragen hinein eingesetzt wissen wollten. Daraus wird für beide Seiten, private Gönner und staatliche Organe, einiges zu lernen sein für die Zukunft. Noch wichtiger aber scheint, dass ins neue Haus das mitgezügelt werden kann, was die alte Komödienbühne beflügelte und zu einer eigentlichen Erfolgsgeschichte machte: die unbändige Leidenschaft aller Beteiligten - und dazu gehören glücklicherweise ja immer auch wir Zuschauer -, Theater zu einem öffentlichen Forum zu machen, wo auf sinnlichste Weise unsere wichtigsten Fragen verhandelt werden.
1961 war der «Hamlet» mit Helmuth Lohner trotz allen Proben-Umbau-Schwierigkeiten ein Riesenerfolg und brachte es auf 24 praktisch immer ausverkaufte Vorstellungen. Man wünscht sich, dass sich die Duplizität der Fälle auch hierin erfülle. Theaterleute spucken sich zu diesem Zweck dreimal über die linke Schulter: toi, toi, toi!
Alfred Schlienger