Die öffentliche
Verarbeitung eines islamistischen Mords:
Oder: Was "Israelkritik" und
"Islamkritik" gemeinsam haben
Von Susanne Bressan
Gibt
man die Wörter "Israelkritik" und "Israelkritiker" in verschiedenen
Variationen in die Internet-Suchmaschine Google ein, so erhält man 14.900
Treffer. Für die Wörter "Islamkritik/Islamkritiker" zeigt Google 5.630
Seiten an. Damit führen Israel und Islam deutlich vor denselben
Kombinationen mit den Wörtern Amerika, Deutschland, Christentum oder Europa.
Weit abgeschlagen rangiert China (356 Treffer), und Russland kommt nach
diesem Suchkriterium ganz ohne Kritik aus.
Auch wenn die Kritik an Israel auf deutschsprachigen
Internetseiten, in Presse und Rundfunk fraglos dominiert – seit dem Mord am
niederländischen Regisseur Theo van Gogh bekommt sie ernsthafte Konkurrenz.
Quer durch die Medienlandschaft waren sich Journalisten schnell darin einig,
in dem Filmkünstler und Kolumnisten einen "Islamkritiker" zu sehen.
Zweifellos verdient dieser Mord keinerlei Rechtfertigung. Zu recht macht es
zudem Angst, dass die Tat höchstwahrscheinlich nicht nur aus individuellen
religions-fanatischen Motiven begangen wurde, sondern aus der Unterstützung
eines islamistischen Umfelds heraus. Auch ich teile das Entsetzen darüber,
dass ein Mensch vermutlich deshalb getötet wurde, weil er in einem Film
Frauenfeindlichkeit und Gewalttätigkeit anprangerte, die sich auf den Koran
beruft. In welcher Form dieses Entsetzen jedoch in der Öffentlichkeit
verarbeitet wird, hat streckenweise nur noch wenig mit der Tat selbst zu
tun: Im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht nicht eine Analyse "des"
Islamismus, seines Gefahrenpotenzials und möglicher Gegenstrategien.
Stattdessen werden "westliche" Werte wie Toleranz, Pluralismus und Offenheit
zur Zielscheibe.
Ebenso, wie sich hinter der Formulierung, es müsse doch erlaubt sein, Israel
zu kritisieren, zumeist ganz andere Motive erkennen lassen, wird "Islamkritik" nicht immer in einem
Zusammenhang verwendet, in dem es um die Auseinandersetzung mit einer
Religion geht. Dies zeigt sich daran, wie Feuilleton-Autoren die Begriffe
"Islamkritik", Meinungsfreiheit, Toleranz, Integration und
Multikulturalismus in Beziehung zueinander setzen, um den Mord an dem
niederländischen Filmemacher einzuordnen. So wird als "islamkritisch" nicht
nur der Film charakterisiert, den der Mörder als Anlass für seine Tat nahm.
Unter dem Etikett "Islamkritik" erfahren auch Theo van Goghs Diffamierungen
gegenüber Muslimen und anderen Minderheiten, die er außerhalb seines
filmischen Schaffens äußerte, eine erstaunliche Verharmlosung, ja sogar
Aufwertung – ebenso wie seine Freundschaft mit dem vor zwei Jahren ebenfalls
in den Niederlanden ermordeten Rechtspopulisten Pim Fortuyn und schließlich
Fortuyn selbst. Und dies geschieht selbst dann, wenn nicht die politische
Debatte um den Mord im Mittelpunkt steht, sondern das künstlerische Werk des
Ermordeten.
Der "Tod eines
Meinungsfreien" und die "Grenzen der Toleranz"
Unter der Überschrift "Tod eines Meinungsfreien" beschreibt die
niederländische Filmkritikerin Dana Linssen in der "tageszeitung" Theo van
Gogh als einen Menschen, der es liebte "zu provozieren, Situationen auf die
Spitze zu treiben, zu schockieren – er nannte Muslime ständig Ziegenficker.
Alles Eigenschaften, die ihm als Filmemacher mehr Nuancen entlockten als
seiner Arbeit als Kolumnist." Und weiter: "Am rechtspopulistischen Politiker
Pim Fortuyn bewunderte er die Schamlosigkeit, mit der dieser das Scheitern
der sozialdemokratischen Kulturdominanz anprangerte. Dass Fortuyn am 6. Mai
2002 ermordet wurde, verhärtete seine Haltung. Van Gogh polemisierte und
politisierte. Neben der muslimischen (sic!) Bedrohung (sic!) sah er auch ein
Linkskomplott, das darauf aus war, die demokratischen Werte der Niederlande
zugrunde zu richten, vor allem den einen: die Meinungsfreiheit."
Hier wird nicht nur die Diffamierung von Muslimen als "Ziegenficker" als
nuancierte künstlerische Eigenschaft verharmlost, darüber hinaus werden
typische rechtspopulistische Verschwörungstheorien und
Bedrohungs-Argumentationen als Kampf für Demokratie und Meinungsfreiheit
gedeutet.
Mit den Begriffen Meinungsfreiheit und demokratische Werte argumentiert auch
die Berliner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in der Süddeutschen
Zeitung: "In den Niederlanden herrscht
Meinungsfreiheit, und wer das nicht akzeptieren will, sollte gehen. Wer sich
nicht anpasst an den hier herrschenden Wertekanon, der hat hier eben nichts
verloren. Wer sich von van Gogh beleidigt fühlt, der soll eben gegen ihn
prozessieren." (...) "Über (den niederländischen Schriftsteller, S.B.) Leon
de Winter, dem er vorwarf, sein Jüdischsein zu vermarkten, sagte van Gogh
einmal, er wickle sich wohl Stacheldraht um den Penis beim Sex und schreie
'Auschwitz, Auschwitz'. De Winter ging vor Gericht. So macht man das in
einem Rechtsstaat oder man schreibt dagegen an."
So sehr Amirpur Recht damit hat, nicht irgendwelche Schuldmotive beim Opfer
zu suchen, und nicht von dem Täter und dem Verbrechen abzulenken – warum ist
es ihr dabei nicht möglich, diffamierende Stereotype und antisemitische
Äußerungen des Opfers wenigstens als solche zu benennen? Oder, wenn dies
pietätlos erscheint, auf diese Zitate zu verzichten? Die deutliche
Zurückweisung des Versuchs, ein Kapitalverbrechen mit einem
Rassismus-Vorwurf an das Mordopfer zu relativieren, ist wichtig. So ist es
hier aber nicht formuliert. Stattdessen werden stereotype Diffamierungen als
"Gefühl" der Beleidigung abgetan und ausschließlich als Beispiel dafür
angeführt, wie man korrekt mit Meinungsfreiheit umzugehen hat. Gegen den
"hier herrschenden Wertekanon" scheinen antisemitische Äußerungen
jedenfalls nach dieser Logik nicht zu verstoßen, ansonsten hätte die Autorin
feststellen müssen, dass auch van Gogh "hier eben nichts verloren" habe und
hätte "gehen sollen". Was der "hier herrschende Wertekanon" eigentlich ist,
bleibt unklar. Klar ist nur, dass Meinungsfreiheit dazugehört. Doch auch
"herrschende" Werte konfligieren miteinander, und werden von
unterschiedlichen Akteuren verschieden interpretiert. Und selbst Gesetze,
die sich auf Werte berufen, bedürfen immer der Auslegung. Deshalb ist in
Deutschland beispielsweise der Spielraum in der Auslegung, wo
Meinungsfreiheit aufhört und Volksverhetzung anfängt, an besonders sensiblen
Punkten gesetzlich sehr genau festgelegt. Dennoch gibt es dazu immer wieder
juristische Streitfälle. Amirpurs Argumentation ist hier widersprüchlich, da
sie für diejenigen, die sich als Moslems beleidigt fühlen, zunächst die
juristischen Grenzen von Meinungsfreiheit negiert (wer Meinungsfreiheit und
damit einen "herrschenden" Wert nicht akzeptieren will, hat hier nichts
verloren und soll gehen). Wenn sie im nächsten Satz jedoch auf die
juristische Auseinandersetzung zwischen de Winter und van Gogh verweist,
räumt sie die Möglichkeit ein, dass Meinungsfreiheit durchaus mit dem Gesetz
in Konflikt geraten kann – ohne dies freilich so zu formulieren. Dann ist
die Alternative auf einmal nicht mehr, (aus dem Land) zu "gehen", sondern
vor Gericht zu ziehen.
Nun kann man Amirpur gewiss nicht vorwerfen, sie hege
antisemitische, rechtspopulistische oder gar islamfeindliche Sympathien.
Ihre Publikationen zeichnen sich im Gegenteil dadurch aus, dass sie sich
differenziert und reflektiert mit den Themen "Islam", islamischer
Extremismus und Menschenrechte auseinandersetzen. Das spricht dafür, dass
vieles, was zum Mord an van Gogh so kurz danach gesagt und geschrieben
wurde, unter einer großen emotionalen Verstörung geäußert wurde. Das ist
verständlich. Doch ist die Tendenz, in Zusammenhang mit den Begriffen
"Meinungsfreiheit" und "demokratische Werte" auf diffamierende Stereotype
und rechtspopulistische Argumentationsmuster zu rekurrieren, um positive
Eigenschaften des Ermordeten und/oder demokratische Werte zu unterstreichen,
so häufig und so lang anhaltend, dass man darin ein grundlegendes Muster
vermuten muss.
Auch Siggi Weidemann nimmt in der Süddeutschen Zeitung auf den Rechtsstreit
zwischen van Gogh und dem Schriftsteller de Winter Bezug: "Van Gogh hatte de
Winter beschuldigt, den Verkauf seiner Bücher durch die Instrumentalisierung
seiner jüdischen Identität und der Shoa zu fördern. Auch prangerte er den
Missbrauch des Namens Anne Frank für internationale Interessen an."
Weidemann hinterfragt hier nicht einmal ansatzweise den Vorwurf der
"Instrumentalisierung jüdischer Identität". Vielmehr scheint es für den
Nachweis von Vorurteilsfreiheit schon zu genügen, wenn jemand "anprangert",
dass etwas für "internationale Interessen" "missbraucht" wird. Entsprechend interpretiert er dieses
Beispiel so: "Van Gogh konnte sehr gut Vorurteile durchbrechen und war gegen
jede Art von Fundamentalismus. Er agierte gegen Juden, Calvinisten,
Katholiken und Muslime gleichermaßen provokativ."
Schade nur, dass wir in diesem Artikel (wie in den anderen zitierten
Artikeln auch) kein Beispiel für anti-calvinistische oder anti-katholische
"Provokationen" präsentiert bekommen, sondern nur anti-muslimische,
anti-jüdische und anti-linke.
Wie im Falle des Rekurses auf das Stereotyp "Ziegenficker" in den oben
genannten Beispielen, werden auch hier Stereotype relativiert oder gar in
ihr Gegenteil verkehrt, als eigentliche Loslösung von Vorurteilen. Und
schließlich spannt auch Weidemann den Bogen zu den Themen Toleranz und
Einwanderung: "Toleranz, so van Gogh, könne man nur innerhalb bestimmter
Grenzen ausüben: Wenn ich jemanden schon einlade, so erwarte ich auch, dass
der Gast die Hausregeln akzeptiert und mich nicht bestiehlt oder
zusammenschlägt."
Das erinnert an die oben zitierte Einstellung Amirpurs: "In den Niederlanden
herrscht Meinungsfreiheit, und wer das nicht akzeptieren will, sollte gehen.
Wer sich nicht anpasst an den hier herrschenden Wertekanon, der hat hier
eben nichts verloren."
Beide Zitate geben ziemlich genau wieder, wie Multikulturalismus- und
Einwanderungsdebatte von denen geführt werden, die entweder immer schon
wussten, dass Multikulti kein "friedliches Gartenfest" sei, oder von
denjenigen, die in einer multikulturellen Gesellschaft tatsächlich die
Chance einer besseren Welt sahen und nun feststellen, dass sie damit falsch
lagen. Beiden Perspektiven, der von der Utopie
getäuschten wie der von vornherein problematisierenden, liegt die Annahme zu
Grunde, Einwanderer seien prinzipiell anders und daher auch anders als
Alteingesessene zu behandeln – nämlich entweder als prinzipiell bessere
Menschen, die allenfalls aus ihrer Marginalisierung oder aus einem
"Kulturkonflikt" heraus böse werden, oder als nicht gleich berechtigte
"Gäste", für die andere "Erwartungen" und Maßstäbe gelten, und die vor allem
ein gewisses kriminelles Potenzial qua natura mitbringen. Dass jede
Gesellschaft ein Sanktionssystem zunächst einmal für die eigenen Landsleute
entwickelt hat, wird dabei ebenso vergessen, wie die Tatsache, dass dieses
Sanktionssystem für Einheimische wie Hinzugekommene gleichermaßen gilt.
Warum sind die "Grenzen der Toleranz" nicht auch dann erreicht, wenn ein
"Einheimischer" mich "bestiehlt oder zusammenschlägt"? Aus dieser
Perspektive werden je nach Kontext entweder die "Gäste" oder die
Alteingesessenen zu einem soziokulturellen Ganzen vereinheitlicht. Wenn
Migranten Normen verletzen, wird dies als "kulturelle" Eigenschaft "der"
Migranten gesehen, während die Differenzierung nach Herkunftsmilieu und
Motiven bei den "Einheimischen" selbstverständlich ist, wenn sie Straftaten
begehen, Frauen verachten, gewalttätig sind etc. Umgekehrt werden
Differenzen unter den Einheimischen immer dann ignoriert, wenn der "hier
herrschende Wertekanon"
ins Feld geführt wird. Dass dieser "Wertekanon" ständig auch von
Einheimischen verletzt wird, dass der "Wertekanon" auch unter säkularen
Demokraten umstritten ist, das geht in der Gegenüberstellung
christlich-europäisch-normal versus muslimisch-migrantisch-abweichend unter.
Konflikte werden nicht als jeder Gesellschaft immanente soziale, politische
und ökonomische Auseinandersetzungen gesehen, sondern als Begleiterscheinung
einer multikulturellen Gesellschaft wahrgenommen und "kulturalisiert".
Diese Kulturalisierung von Konflikten praktizieren Gegner des
"Multikulturalimus" ebenso wie Befürworter. In der Auseinandersetzung damit,
wie Einwanderung politisch und gesellschaftlich gestaltet werden kann,
werden von beiden Seiten "kulturelle" oder "ethnische" Besonderheiten
zunächst festgeschrieben und dann entweder positiv exotisiert oder – und das
auch von den Multikulturalisten, und zwar mit zunehmender Tendenz –
problematisiert. Welchen Platz Migranten bestimmter Herkunft
in den ökonomischen und sozialen Strukturen der Einwanderungsgesellschaften
einnehmen, das wird dann allenfalls als Folgeerscheinung der "mitgebrachten"
und in der "Fremde" "natürlich" verstärkten kulturellen Andersartigkeit
gedeutet, als bedingende Faktoren werden diese Strukturen aber nicht
gesehen. Selbst wenn die multikulturalistische Perspektive dabei auch die
Mehrheitsgesellschaft als kulturell heterogen erkennt, bleibt nach aller
Differenzierung die Dichotomie zwischen einem unproblematischen "Wir" und
den problematischen und/oder "bereichernden" "Anderen". Und für diese
"Anderen" fordern die unterschiedlichen Lager dann entweder "Toleranz" oder
"Grenzen der Toleranz", selten jedoch Respekt oder Interesse für deren
Lebensumstände jenseits ihrer kulturellen Besonderheit.
Der feuilletonistische Abgesang auf den
Multikulturalismus
Wenn Dirk Schümer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung davon redet, die
"Eskalation dieser Tage (habe) dazu beigetragen, die Lebenslügen des
europäischen (...) Multikulturalismus an die Oberfläche zu bringen",
dann kritisiert er allerdings nicht dieses Fundament der kulturalisierenden
und problematisierenden Dichotomisierung zwischen "Wir" und "den Anderen".
Auch hinterfragt er nicht das gängige Verständnis von "Toleranz". Vielmehr
reiht er sich ein in den feuilletonistischen Chor des Abgesangs auf den
Multikulturalismus, der in dem Mord an Theo van Gogh und dem Attentat auf
den Rechtspopulisten Pim Fortuyn ein und das selbe Motiv ausmacht:
"(...) (B)ereits damals musste jeder zur tristen Analyse kommen, dass hier
ein Politiker sein Leben verlor, weil er die Tabus des Multikulturalismus
überhaupt nur ausgesprochen hatte."
Im Unterschied zu manch anderem Kollegen weist Schümer zwar darauf hin, dass
hier ein "Veganer"am Werk war. Dass der vegane Mörder aber kein
niederländischer Islamist marokkanischer Herkunft war, dass muss sich der
Leser selbst dazu denken. Doch selbst wenn er diesen Unterschied erwähnt
hätte – das hätte sein Argument auch nicht besser gemacht. Schümer spielt
hier mit denjenigen Denkmustern, mit denen rechtspopulistische Politiker auf
Stimmenfang gehen: Wie Jürgen W. Möllemann sich in Szene setzte als einer,
der es wagte, das angebliche Tabu der Israelkritik zu brechen, und endlich
einmal offen ausspricht, was "das Volk" denkt; wie Barnabas Schill den
Volkswillen für sich reklamierte als einer, der die angebliche Toleranz oder
das Vertuschen von "Ausländerkriminalität" nicht länger dulden wollte. Die
Denkmuster sind dieselben wie die eines Pim Fortuyn: Es gibt eine
Verschwörung der korrupten Politikerklasse, die Tabus oder Denkverbote
verhängt, und so verhindert, etwas gegen die "wirklichen Probleme" zu tun.
Die "wirklichen" Probleme sind für die rechtspopulistischen Demokraten dann
vorzugsweise der Staat Israel und die Juden, Muslime oder andere "Fremde" in
den Staaten der Europäischen Union.
Mit derartigen Denkmustern wird nun paradoxerweise versucht, Pim Fortuyn
ebenso wie Theo van Gogh vom Rassismus-Vorwurf freizusprechen. Schümer nimmt
Fortuyn ab, er sei nicht rassistisch gewesen, weil er sagte, er "habe nichts
gegen Muslime" und "gehe sogar mit denen ins Bett." Dass sich Rassismus und
die Behandlung der für minderwertig befundenen Zielgruppe als Sexualobjekt
trefflich miteinander vertragen, diesen Gedanken erwägt der Autor hier
nicht. Vielmehr interpretiert er diese Haltung so: "Damit war dem Rassismus
die Spitze genommen, und es ging nur mehr um die lange tolerierte Verletzung
demokratischer Regeln – Frauenrechte, Trennung von Staat und Kirche,
Gewaltmonopol, Hasspredigten in Gotteshäusern. Diese Dunkelsphäre
zu benennen, gar einen Film mit sexistischen und gewaltverherrlichenden
Koranpassagen zu drehen, hat nach Fortuyn jetzt auch van Gogh das Leben
gekostet."
So wird die Tugend freier Meinungsäußerung und der Anprangerung von
Missständen vermischt mit rassistischen Äußerungen der beiden Mordopfer. Die
Diffamierung von Muslimen als "Ziegenficker" wird nach dieser Lesart in
berechtigte "Islamkritik" umgewendet, und Theo van Gogh wird attestiert, ein
"Garant eines vielstimmigen und bunten Europas"
gewesen zu sein.
Nach all diesen Vermischungen und Verdrehungen kommt
dann am Ende heraus: In einem Land, in dem Toleranz und die Idee einer
"multikulturellen" Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat(te), wurden
innerhalb von zwei Jahren zwei prominente Gegner des Multikulturalismus
ermordet, die Toleranz für diskriminierende Haltungen einforderten. Und da
der zweite der Morde von einem "integrierten" niederländischen Islamisten
nordafrikanischer Herkunft begangen wurde, ist nun das Konzept der
multikulturellen Gesellschaft gescheitert. Wie hier Zusammenhänge assoziiert
werden, das lässt sich an einem "Schwerpunkt" zum Thema in der Süddeutschen
Zeitung gut illustrieren: Unter der Überschrift "Multikulturelle
Gesellschaft – Das schwierige Zusammenleben" wird die Frage formuliert:
"Nach dem tödlichen Anschlag auf den islamkritischen (sic!) Filmemacher Theo
van Gogh brennen in den Niederlanden Moscheen und Kirchen. Können Menschen
aus verschiedenen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Religionen nicht
friedlich zusammenleben?" Der Schwerpunkt ist in einer Reihenfolge in
Unterthemen unterteilt, die sich als Assoziationskette lesen lassen:
"Multikulturalismus – Organisierte Verweigerung – Schwierige Integration –
Gegen den Fanatismus – Toleranz in den Niederlanden - Missglücktes Modell –
Mord an van Gogh."
Die Frage, inwiefern in der Mehrheitsgesellschaft überhaupt die Bereitschaft
vorhanden war, das Konzept eines gleichberechtigten "multikulturellen"
Zusammenlebens ernsthaft umzusetzen, findet in dieser Debatte kaum
Beachtung.
Europäischer "Wertekanon" und
Einwanderung
Ebenso wie bei "israelkritischen" lohnt es sich bei "islamkritischen"
Argumenten, nicht nur genau auf den Kontext zu horchen, sondern auch die
Verhältnismäßigkeit der Kritik zu beachten. Während Kritik an Israel oft
einhergeht mit der Wahrnehmung, der jüdische Staat sei der Haupt- oder gar
einzige Verantwortliche für Gewalt im Nahen Osten,
werden aus europäisch-christlicher "islamkritischer" Perspektive religiöser
Fanatismus, Anti-Säkularismus, anti-demokratische Einstellungen,
Diskriminierung von Frauen, Fehdemord und "Illegalität" zum Monopol
muslimischer Gesellschaften und Migranten. Dass all diese Erscheinungen
fester Bestandteil auch europäischer Gesellschaften sind, gerät dabei aus
dem Blickfeld. Allenfalls rekurrieren Vergleiche mit Europa auf die lang
zurückliegende Geschichte der Kreuzzüge, Hexenverfolgungen und
Glaubenskämpfe, selten aber auf die Gegenwart. Freilich gibt es in der europäischen
Gegenwart einen Unterschied zu den meisten "islamischen" Staaten: Werte wie
Gleichberechtigung, Religionsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat sowie
Menschenrechte sind in den Staaten der Europäischen Union größtenteils
verfassungsrechtlich verankert. Damit besteht theoretisch die Möglichkeit,
diese Werte auf institutionellem Wege einzuklagen. Wie wichtig dieser
Unterschied ist, darf keinesfalls unterschätzt werden. Es gibt jedoch eine
Kluft zwischen Anspruch und Praxis, nicht zuletzt deshalb, weil einer
beträchtlichen Zahl von Menschen in Europa ein rechtlicher Status und damit
die Einforderung von Rechten vorenthalten werden.
Die eigene unzulängliche Einlösung von Werten, Normen und Eigenschaften auf
"Andere" zu projizieren, dieses Prinzip hat, in unterschiedlichen
Ausprägungen, eine lange Tradition im christlichen Europa. Hierfür boten
sich anfangs die in Europa lebenden Juden als wichtigste "Andere" an. Im
Jahr 1199 erließ Papst Innozenz III ein "Edikt zugunsten der Juden", in dem
folgende Passage zu finden ist: "Obwohl die Heimtücke der Juden in jeder
Hinsicht verdammenswert ist, sollen sie dennoch von den Gläubigen nicht hart
unterdrückt werden, weil durch sie die Wahrheit unseres eigenen Glaubens
erwiesen wird."
Im Verlauf der europäischen Geschichte wurde das Prinzip der Spiegelung des
"eigenen Anderen" im Fremden immer komplexer. Mit der Entdeckung der Neuen
Welt und der darauf folgenden Kolonisierung der "Wilden" begann die globale
Wirksamkeit dieses Prinzips. Die "Eingeborenen" der einverleibten fremden
Territorien mussten ebenso wie die "Anderen" auf dem eigenen Kontinent –
insbesondere Zigeuner – nicht mehr nur als Projektionsfläche für das Böse,
Wilde, Heidnische und Unzivilisierte herhalten, sondern auch für
exotistische Phantasien und Sehnsüchte. Dem technologischen Fortschritt
Europas ebenso wie dem ideengeschichtlichen Prozess der Rationalisierung,
Aufklärung, Emanzipation und der Herausbildung von Nationalstaaten ist
dieser Dualismus zwischen der Assoziationskette
Wir-Kultur-Zivilistaion-Dynamik und Die-Anderen-Natur-Wildheit-Statik
eingschrieben.
Freilich kam dieser Dualismus nicht ohne Nuancen, Widersprüche und
Anpassungen aus. Um in die Kategorie der "Anderen" auch Andere zu fassen,
die selbst aus der europäischen Sicht über "Kultur" verfügten, wurden
Akzente anders gesetzt. Kultur und Zivilisation wurde in der Mehrzahl
gedacht und in eine Wertehierarchie gebracht, in der sich die
europäisch-christliche Zivilisation weiterhin überlegen fühlen konnte. Als
wichtiges Kriterium hierfür dienten die Werte der Aufklärung, als Spiegel
des Irrationalen der Orient und der Islam.
Die komplexe Praxis der wechselhaften Abgrenzung und Vereinnahmung
unterschiedlichster "Anderer" – als Abspaltung entweder des eigenen
Unerwünschten und Schwachen oder als Projektion der eigenen Sehnsüchte und
Phantasien auf die "Anderen" – hatte nicht nur für die Bewohner der Kolonien
und Minderheiten in Europa die bekannten Konsequenzen der Ausbeutung, der
Unterdrückung und des Genozids. Diese Abspaltungspraxis wirkte immer auch
auf die europäischen Gesellschaften zurück und wirkt im heutigen Europa
fort. Ich sehe hierin einen Faktor für das Unbehagen der EU-Staaten mit
ihren nicht-europäischen und nicht-christlichen Einwanderern.
Wenn etwa die spanische Regierung in den 90ern in einer Kampagne für die
"Legalisierung" von Arbeitsmigranten die Aufforderung "Komm ans Licht. Regle
Deine Angelegenheiten"
auf Plakate drucken ließ, dann hätte sich eigentlich eine große Gruppe der
Einheimischen angesprochen fühlen müssen, insbesondere die Betreiber der
riesigen Gemüseplantagen unter Plastik sowie die Immobilienunternehmer an
den südspanischen Küstenstrichen. In der dortigen Land- und Bauwirtschaft
sowie in der Tourismus-Industrie ist Schwarzarbeit und Schattenökonomie fest
in den ökonomischen Beziehungen verankert, und war es schon, bevor
Arbeitsmigranten aus dem Ausland benötigt wurden. In Spanien ist es kein
Geheimnis, dass die Gewächshaus-Landwirtschaft ohne das System von
Schwarzarbeit, Bezug von Arbeitslosengeld und EU-Subventionen auf dem
europäischen Markt kaum konkurrenzfähig wäre. Ebenso weiß man darum, dass
die dort beschäftigen Arbeitsmigranten, seit Ende der 80er zum Großteil
nord- und zentralafrikanischer Herkunft, in dieses System mit eingebunden
sind, also schwarz arbeiten, und dass man auf die Arbeit dieser
Migrantengruppe angewiesen ist.
Dennoch zielte die Kampagne unverkennbar alleine auf die nicht-europäischen
Arbeitsmigranten, von denen die Mehrheit wiederum
tatsächlich einen großen Vorteil davon hätte, dokumentiert zu arbeiten. Denn
für die meisten ist dies der einzige Weg, um eine Aufenthaltserlaubnis und
damit überhaupt einen rechtlichen Status zu erhalten. Die Inkompatiblität
des "Legalisierungs"-Programms für Einwanderer mit der ökonomischen Praxis
der Einheimischen wird jedoch in der Öffentlichkeit wie in der Politik als
Problem der "illegalen", "papierlosen" Migranten dargestellt und nicht als
Problem der spanischen Wirtschaft. Mit der "Legalisierungskampagne" und dem
Versuch vieler Migranten, von ihren Arbeitgebern Arbeitsnachweise zu
erhalten, verstärkten sich Ressentiments und offene Vorurteile gegen
Migranten zunehmend auf der Ebene des Zusammenlebens ebenso wie im
öffentlichen Diskurs.
Freilich ist dieses Muster der Kriminalisierung und
Diskriminierung von Einwanderern keine spanische Besonderheit. Es zeigt sich
an der südlichen EU-Außengrenze zu Afrika, wo es zusammengeht mit dem
verbreiteten Stereotyp "moros" ("Mauren") für Marokkaner, nur besonders
eindrücklich. Dabei gilt für Spanien ebenso wie für andere EU-Staaten, dass
Diskurse und Praktiken der Diskriminierung nicht von einem homogen
vorzustellenden kollektiven Akteur ausgehen, sondern dass daran
unterschiedliche Gruppen der Mehrheitsgesellschaften in unterschiedlicher
Weise beteiligt sind. Welche Lücke zwischen Anspruch und Praxis einer
säkularen Demokratie, sich den Menschenrechten zu verpflichten, klafft, das
wird auch regelmäßig dann deutlich, wenn die Europäische Kommission gegen
Rassismus und Intoleranz (ECRI) ihre Länderberichte vorlegt. Unter denen für
institutionelle Diskriminierung und rassistische Vorfälle am meisten
gerügten Ländern hatte Deutschland bislang immer einen sicheren Platz.
Wenn in der Auseinandersetzung um den Mord an Theo van Gogh "der Islam" (nicht:
der Islamismus )
als Bedrohung der Toleranz und Offenheit europäischer
Einwanderungsgesellschaften dargestellt wird, dann bekräftigt dies die
dichotomische Perspektive zwischen dem aufgeklärten (christlichen-säkularen
einheimischen) "Wir" und den unaufgeklärten (islamisch-antisäkularen
migrantischen) "Anderen". Die Alternative wäre eine Perspektive, die das
"Wir" erweitert, um Themen wie die Unterdrückung von Frauen, Diskriminierung
von Minderheiten, religiös und rassistisch motivierte Gewalt als Probleme zu
erkennen, die alle hier lebenden Menschen betreffen, und sich diesen
gemeinsam zu stellen. Freilich würde dieses Umdenken nicht nur eine
rechtliche Gleichstellung, sondern auch ein ernsthaftes Anerkennen und
Annehmen der Gleichwertigkeit von Migranten erfordern, anstatt einer
scheinheiligen Toleranz auf der Basis eines Schein-Säkularismus. Nicht
zuletzt würde ein solches Fundament die seriöse wissenschaftliche und
politische Auseinandersetzung mit "dem" Islamismus erleichtern. Und wie
dringend es ist, diese Auseinandersetzung zu befördern, das sollte schon vor
dem Mord an Theo van Gogh deutlich geworden sein.
Zitierte
Zeitungsartikel und Internetseiten :
Al-Mozany, Hussain. Niederlande: Das rote Auge. Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 11.11.2004,
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E038795AD31
D54B3D9530060B77522F45~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Amirpur, Katajun. "Prozessiert! Demonstriert! Aber bekennt euch endlich!
Süddeutsche Zeitung v. 12.11.2004;
http://www.sueddeutsche-zeitung.de/ausland/artikel/791/42749/, Zugriff
am 12.11.2004
Bax, Daniel. "Die Tat eines Einzelnen", Interview mit Thijl Sunier, die
tageszeitung v. 6.11.2004,
http://www.taz.de/pt/2004/11/06/a0180.nf, Zugriff am 10.11.2004
Bax, Daniel. Kampf der Unkulturen. Die Tageszeitung v. 12.11.2004,
http://www.taz.de/pt/2004/11/12/a0369.nf/text, Zugriff am 12.11.2004
Bokern, Anneke. "911 Tage später": Der Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh
muss in den Niederlanden für Verknüpfungen aller Art herhalten. Frankfurter
Rundschau v. 12.11.2004;
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=587883&,
Zugriff am 12.11.2004
Frankfurter Allgemeine Zeitung. "FAZ.NET Spezial" – Der Multikulturalismus
nach dem Mord,
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~
E2A7D9E1D11F9444A8CAC73DB69BBAD52~ATpl~Ecommon~Sspezial.html
Geisler, Astrid. "Die NPD hat null Chancen", Interview mit Eckhard Jesse,
die tageszeitung vom 30.10.2004,
http://www.taz.de/pt/2004/10/30/a0151.nf/text, Zugriff am 15.11.2004
Kanter, Jan. Dschihad in Amsterdam, Die Welt v. 9. 11.2004,
http://www2.welt.de/data/2004/11/09/357814.html, Zugriff am 16.11.2004
Leggewie, Claus, McJesus, Inc., die tageszeitung v. 11.11.2004,
http://www.taz.de/pt/2004/11/11/a0204.nf/text, Zugriff am 15.11.2004
Linssen, Dina. Tod eines Meinungsfreien, die tageszeitung v. 11.11.2004,
http://www.taz.de/pt/2004/11/11/a0231.nf/text.ges,1, Zugriff am
11.11.2004
Nutt, Harry. Identität und Toleranz. Was folgt nach Multi-Kulti?,
Frankfurter Rundschau v. 16.11.2004,
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=589820,
Zugriff am 16.11.2004
Schümer, Dirk. Multikulturalismus: Europas Lebenslüge. Frankfurter
Allgemeine Zeitung (online) v. 10.11.2004,
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~
E2A7D9E1D11F9444A8CAC73DB69BBAD52~ATpl~Ecommon~Sspezial.html, Zugriff am
11.11.2004
Schweighöfer, Kerstin. Niederlande: Das Ende einer Idylle, Focus (online) v.
15.11.2004 (Heft 47),
http://www.focus.msn.de/F/2004/47/Ausland/niederlande/niederlande.htm,
Zugriff am 16.11.2004
Süddeutsche Zeitung. "Schwerpunkt": Multikulturelle Gesellschaft – Das
schwierige Zusammenleben,
http://www.sueddeutsche.de/ausland/schwerpunkt/987/42945/; Zugriff am
17.11.2004)
Weidemann, Siggi. Ein Land in Angst: Die Hinrichtung eines Filmemachers.
Süddeutsche Zeitung (online) v. 04.11.2004,
http://www.sueddeutsche-zeitung.de/kultur/artikel/369/42327/, Zugriff am
12.11.2004
Anmerkungen:
Stand vom 11.11.2004. Da sich nicht alle Begriffe gleichermaßen für
derartige zusammengesetzte Wörter eignen, habe ich die Suche zusätzlich mit
den Variationen "Kritik(er/in) am..." und Kritiker(er/in) des..."
durchgeführt. Ausgeschlossen wurden Wort-Kombinationen mit Doppelpunkt oder
Schrägstrich.
Vgl. Lars Rensmann 2004, Demokratie und Judenbild: Antisemitismus in der
politischen Kultur der Bundesrepublik Deuutschland. Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften, sowie Nea Weissberg-Bob (Ed.) 2002 , "Was ich den
Juden schon immer mal sagen wollte...", Berlin: Lichtig-Verlag.
die tageszeitung vom 11.11.04
Dieses Beispiel stammt nicht aus dem Feuilleton, sondern aus dem
Ausland-Ressort der Zeitung. Ich habe es mit herangezogen, weil es
vergleichbare Argumentationsmuster aufweist.
Süddeutsche Zeitung v. .12.11.2004
Süddeutsche Zeitung v. 4.11.2004
Weidemann wirft hier die (angebliche) Instrumentalisierung eigener
jüdischer Identität (de Winter) und die Instrumentalisierung
nicht-eigner jüdischer Identität (Anne Frank) durch Nicht-Juden zusammen.
Die unterschiedlichen Hintergründe beider von van Gogh geäußerter Vorwürfe
blendet er völlig aus. So bleibt es dem Leser überlassen, hier zu vermuten,
dass mit dem "Missbrauch" jüdischer Identität im zweiten Fall die
Beanspruchung der niederländischen Staatsbürgerschaft für Anne
Frank gemeint ist. Der Vorwurf läge dann darin, dass zugleich die
Kollaboration von Niederländern mit dem Nazi-Regime nicht thematisiert wird.
Zugleich könnte man dies aber auch als positive Instrumentalisierung
jüdischer Identität deuten. Wie van Gogh dies deutete, darauf geht der Autor
nicht ein, für ihn zählt hier nur das Argument der "Anprangerung" der
Instrumentalisierung jüdischer Identität.
Süddeutsche Zeitung v. 4.11.2004.
Süddeutsche Zeitung v. 4.11.2004.
Süddeutsche Zeitung v. 12.11.2004.
Damit ist freilich das Spektrum der Multikulturalisten und
Anti-Multikultaristen keineswegs abgedeckt. Zu verschiedenen
multikulturalistischen Positionen und deren Kritik vgl. Mark Terkessidis
1995, Kulturkampf: Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte. Köln:
Kiepenheuer & Witsch, S. 80ff.
Katajun Amirpur in der Süddeutschen Zeitung vom 12.11.2004.
Dass Migranten je nach Herkunft als
unterschiedlich stark "problematisch" wahrgenommen werden, verweist darauf,
dass hier nicht einfach ein Automatismus der Identitätsbildung
verantwortlich ist, die immer auf Abgrenzungen gegenüber "Anderen"
angewiesen ist oder eine angeborene Xenophobie. Das zeigt sich auch darin,
dass Hierarchien der Ablehnung bestimmter ethnischer und religiöser
Minderheiten in den EU-Ländern unterschiedlich ausfallen; und auch in Ost-
und Westdeutschland decken sich die jeweiligen Konstruktionen und
Ablehnungen der "Anderen" nicht ganz. Zudem gehen ausgrenzende Diskurse und
Praktiken nicht von einer "homogenen" Mehrheitsgesellschaft aus, sondern
unterschiedliche Gruppen sind daran in unterschiedlicher Weise beteiligt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.11.2004.
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.11.2004.
Nicht nur Schümer verwendet in der
Auseinandersetzung mit den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh
Verschwörungs-Metaphern antisemitischer Provenienz ("Dunkelsphäre"). Andere
Autoren reden von "Dunkelmännern", so Hussain Al-Mozany in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung v. 11.11.2004 und Claus Leggewie in der tageszeitung v.
11.11.2004. Der Artikel von Leggewie fällt hier aus dem Rahmen, weil er die
zeitliche Überschneidung des Mords an van Gogh und der Wiederwahl des
republikanischen Präsidenten in den USA zum Ausgangspunkt nimmt. Auch wenn
er nicht explizit auf diesen Mord Bezug nimmt, so findet sich auch hier ein
Argumentationsmuster der "islamkritischen" Feuilletonisten wieder, das
zugleich die Flexibilität dieses Musters verdeutlicht: "Säkulare Europäer
reiben sich verwundert die Augen, in welche Götter- und Geisterwelt sie
hineingeraten sind. Hier der Fanatismus islamistischer Prediger und
Attentäter, dort der Präsident einer Weltmacht als wiedergeborener Christ".
"Islamkritik" erweitert Leggewie aus seiner europäisch-säkularen Perspektive
um "Amerika-Kritik", während er Westeuropa auf einem säkularen "Sonderweg"
sieht, den es aber gerade seiner "religiös-politischen Tradition" verdankt:
"Europa muss sich also nicht antireligiös betätigen. Es muss gerade im Namen
seiner religiös-politischen Tradition den Kampf gegen die autoritären
Dunnkelmänner (sic!) aufnehmen." (die tageszeitung v. 11.11.2004). Zur
Metapher der "Dunkelmänner" siehe Knut Kiesant 1995, Neuntes Bild:
Dunkelmänner, in : Julius H. Schoeps u. Joachim Schlör (Eds.),
Antisemitismus: Vorurteile und Mythen. München: Zweitausendeins.
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.11.2004.
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.11.2004.
siehe
http://www.sueddeutsche.de/ausland/schwerpunkt/987/42945/; Zugriff am
17.11.2004. Vor allem anfangs gab es nur wenige Gegenstimmen, die diese
Logik nicht aufgegriffen. Dazu gehört das Interview mit dem niederländischen
Sozialwissenschaftler Thijl Sunier, der unter anderem darauf hinwies, dass
die Niederlande nie eine multikulturelle Gesellschaft gewesen sei (die
tageszeitung vom 6.11.2004). Solche Gegenstimmen blieben aber die Ausnahme.
So hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf ihrer Internetseite ein
"Faz.net-Spezial" mit dem Thema: "Der Multikulturalismus nach dem Mord"
lanciert. In der "Welt" bricht für Jan Kanter "das Experiment des
multikulturellen Miteinanders zusammen" (Die Welt v. 9.11.2004). Kerstin
Schweighöfer stellt im "Focus" vom 15.11.2004 "Das Ende einer Idylle" fest:
"Nach dem van-Gogh-Mord ist Schluss mit Toleranz". Und selbst in der
Frankfurter Rundschau, in der am 12.11.2004 noch ein gegen diese Logik
gewandter Artikel erschien, fragt sich Harry Nutt nun: "Was folgt nach
Multi-Kulti?" (Frankfurter Rundschau v. 16.11.2004).
vgl. Lars Rensmann 2004, Demokratie und Judenbild, Antisemitismus in der
politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften.
Zum Thema Säkularismus denke man etwa an die
um das "Kruzifix-Urteil" des Bundesgerichtshofs entbrannte Debatte und die
feindselige Stimmung gegen einen Jungsozialisten, der den am Kreuz hängenden
Gottessohn als "Lattengustl" bezeichnet hatte, woraufhin er mit
Strafverfahren überzogen wurde. Ein weiteres Beispiel, wie umstritten
säkulare Einstellungen in Europa sind, wurde jüngst in der
Auseinandersetzung zwischen dem designierten (und inzwischen abgelehnten)
italienischen EU-Kommissar Rocco Buttiglione und dem europäischen Palament
deutlich. Zur Frage anti-demokratischer Einstellungen halte man sich die
Erfolge der rechtsextremen bzw. neonazistischen Parteien Sachsens und
Brandenburg in den diesjährigen Landtagswahlen vor Augen, sowie die
Interpretation von Politologen, hierbei handle es sich lediglich um einen
konsequenten Protest gegen die Politik der etablierten Parteien. Ein
Vertreter dieser Sichtweise, der Extremismusforscher Eckhard Jesse plädiert
daher in der Einschätzung der Wahlergebnisse für "mehr Gelassenheit": Unser
Staat ist eine offene Gesellschaft, da gibt es immer einen Bodensatz von
Rechts- und Linksextremisten. Aber damit können wir leben." (die
tageszeitung v. 30.10.2004). Mag sein, dass man von den Wählern nicht
erwarten kann, dass sie darüber informiert sind, dass eine dieser Parteien
mit neonazistischen Kameradschaften vernetzt ist, die nicht nur Todeslisten
gegen Aussteiger und andere Gegner über das Internet zur Verfügung stellen,
sondern auch ihre Sympathie für islamistische Terrorakte zur Schau stellen.
Doch dass Wähler mit ihrer Stimme für rechtsextreme Parteien nicht nur
Protest äußern, sondern zugleich eine antidemokratische und radikal
ausländerfeindliche Politik unterstützen, soviel Bewusstsein sollte man dem
politischen Souverän schon zutrauen.
Zitiert in Yosef Hayim Yerushalmi 1995, "Diener von Königen und nicht
Diener von Dienern". Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden.
München: Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, S. 26.
Möglicherweise wirkt diese Praxis aber auch in einer paradoxen Variante
einer kolonialimuskritischen Perspektive fort, die eine wirkliche Begegnung
und Auseinandersetzung mit "den Anderen" vermeidet, um verborgenen eigenen
rassistischen Einstellungen auszuweichen.
"Sal a la luz. Ponte en regla", wörtlich "Komm heraus ans Licht. Bring
dich in Ordnung"; zitiert in Liliana Suarez Navaz 2004, Rebordering the
Mediterranean. Boundaries and Citizenship in Southern Europe, New York u.
Oxford: Berghahn, S. 109.
vgl. Suarez Navaz 2004, S. 108 ff (siehe Fußnote 24).
vgl. Suarez Navaz 2004, S. 108 ff (siehe Fußnote 24).
vgl. Suarez Navaz 2004 (siehe Fußnote 24)
sowie Francisco Checa 2003, Factores endógenos y exógenos para la
integración social de los inmigrados en Almería, in: Francisco Checa,
Angeles Arjona, Juan Carlos Checa (Eds.), La integración social de los
inmigrados, Barcelona: Icaria, S. 103-150.
Dabei wäre auch "Islamismus" zu differenzieren
nach verschiedenen politischen, militanten, und nichtpolitischen religiösen
Strömungen. Vgl. z.B. für die Türkei und Deutschland: Werner Schiffauer
2000, Die Gottesmänner: Türkische Islamisten in Deutschland. Frankfurt/Main:
Suhrkamp.
hagalil.com
18-11-2004 |