Herzerweiterung und Arterienverkalkung lautet die Diagnose, die Erich Mühsam im Sommer 1910 in ein Schweizer Sanatorium zwingt und offenkundig von ihm ganz ungeahnte Folgen zeitigt. Am 22. August kauft er ein leeres Heft, notiert darin eben diesen Kauf, um es anschließend zu seinem Tagebuch zu küren, nicht ohne davon gleich wieder Abstand zu nehmen: „Ich werde schwerlich jeden Tag zu Eintragungen kommen – und jedenfalls kaum je zu ausführlichen.“ Was für ein Irrtum. Mühsam schreibt fast täglich und ausführlich, im Jahr 1924 ist das Konvolut auf 42 Hefte angewachsen, sieben davon gelten als verschollen, und dennoch bleiben 7000 Seiten. „Daß ich hier bin, ist merkwürdig genug“: In diesem Satz aus dem ersten Eintr
Kultur : Zurück im Hypertext
Nicht nur die aktuelle Veröffentlichung der Tagebücher von Erich Mühsam zeigt: Literatur im Netz ist kein toter Hund
Von
Katrin Schuster
ntrag hört man weniger Mühsam sprechen als mehr das Tagebuch selbst. Und dieser Verwunderung darf man nun ein weiteres Mal Ausdruck verleihen, da der Verbrecher Verlag soeben mit der Edition der Tagebücher begonnen hat. Was allein schon eine Nachricht wäre, da die Entscheidung für eine Ausgabe von 15 Bänden, die erst im Jahr 2018 abgeschlossen sein wird, einigen Mut gekostet haben dürfte, so überfällig sie auch zweifellos ist.Als wäre dieser Kraftakt noch nicht genug, erscheint parallel zur Buchausgabe eine vollständige Online-Publikation der Tagebücher. www.muehsam-tagebuch.de ist ein großartiges Tummelfeld für den Leser: Namen und Stichworte verweisen auf kurze Erläuterungen, auf Links zu ausführlicheren Informationen und auf Links zu jenen Tagebucheinträgen, in denen ebenfalls von dieser Person oder jener Sache die Rede ist. Eine Vernetzung, wie sie im Buche steht: Man kann die Tagebücher entlang einzelner Figuren oder Themen lesen oder sich einfach treiben lassen. Das Datum des jeweiligen Eintrags führt zudem zum Digitalisat der Original-Tagebuchseite.Edition 2.0 Herausgeber Chris Hirte und Conrad Piens freut es, dass aus der finanziellen Not noch Möglichkeiten geboren werden, „von denen die traditionellen Büchermacher nur träumen können: Die Edition ist nicht mit der Drucklegung abgeschlossen, im Gegenteil: Mit der Publikation fängt ihr Leben erst an. Und das Wichtigste daran – Leser werden zu Mitherausgebern, weil ihre Hinweise in die Edition einfließen.“Eine Edition 2.0? Klingt großartig – und erinnert doch fatal an jene Gefährdung des gedruckten Worts durch sein digitales Double, von der die Branche nicht müde wird zu unken: Wer braucht denn noch Bücher, wenn deren Inhalt im Netz kostenlos zu haben ist? Der Verbrecher-Verlag-Chef Jörg Sundermeier widerspricht diesen Phrasen vom digitalen Vampirismus. Die Auslagerung eines dynamischen Kommentarapparats ins World Wide Web gilt ihm gerade nicht als riskant, sondern als verkaufsfördernde Maßnahme: „Mühsams Tagebücher umfassen 7000 Seiten, das will man nicht nur auf dem Bildschirm lesen, das will man auch in der Hand haben und mitnehmen können, um sich in Ruhe damit zu beschäftigen.“ Mehr noch: Mit Blick auf die finanziellen Spielräume, die für Verlage stetig enger werden, und vor allem auf die Wesensmerkmale der unterschiedlichen Medien dürfe man diese Kombination aus analoger und digitaler Publikation getrost als zukunftsweisend bezeichnen.Genaue StellenDieses avantgardistische Selbstbewusstsein scheint berechtigt, denn das editorische Potenzial des World Wide Web liegt tatsächlich ziemlich brach. Es gibt Dutzende Seiten, auf denen man Werke im Volltext einsehen kann, aber überraschend wenige, die deren Hypertext sprechen lassen – also jenes Netz aus Verweisen auf eigene und andere Texte, das Schriftlichkeit an sich grundiert. Oftmals finden sich Personen- und Schlagwort-Register, doch meist muss der Leser die genaue Stelle schon selbst suchen; sofern er überhaupt auf die Idee kommt, nach diesem oder jenem zu suchen. Der Unterschied zum gedruckten Buch ist in vielen Fällen mithin marginal. Ein Mangel, der umso mehr irritiert, da so genannte „enhanced books“, heißt: „angereicherte Bücher“, längst als Zukunftsperspektive der Branche gehandelt werden und den Buchmarkt nicht bedrohen, sofern sie nicht wahllos Spiele oder Audio- und Videodateien einbinden, sondern Zusatzinformationen offerieren, die die Neugier auf den Text befördern statt ihn zu ersetzen.Noch schlimmer steht es nur um die Netzliteratur, die um die Jahrtausendwende als Poetik des neuen Zeitalters viel von sich reden machte – und um die es mittlerweile still geworden ist. Als genügte es nicht, dass das Thema in der Wissenschaft kaum mehr eine Rolle spielt, kann man ihm auch noch live beim Siechen zusehen, weil es nunmal in der Natur der Sache liegt: Im World Wide Web lagern dutzende Leichen von Portalen, die sich einst der Besonderheit der digitalen Textproduktion verschrieben hatten. Die Links der zugehörigen Sammlungen, die entweder schon tot sind oder nurmehr eine Fehlermeldung aufrufen, sind ähnlich zahllos. Und die nächste Ausgabe eines WWW-Poesie-Magazins wird immer noch für das Jahr 2003 angekündigt. Im Vergleich zum Buch, das trotz aller Todesanzeigen recht quicklebendig wirkt, machen dessen WWW-Geschwister einen ziemlich morbiden Eindruck.Man tut natürlich gut daran, den Wandel nicht zu klein zu reden und die freche Frage ernst zu nehmen, ob es Verlage, Buchhandlungen und Kritiker überhaupt noch braucht in Zeiten, da jedermann Bücher auf eigene Kosten und Risiken publizieren, online erwerben und öffentlich kritisieren kann. Nur versackt das Gespräch darüber immer wieder in einer melancholischen Erzählung über das Verschwinden des Wahren, Schönen, Guten; gerade die Branchenberichterstattung hat an Horrormeldungen über die Bedrohung der teuren Originale durch deren digitale Kopien einen rechten Narren gefressen. Und das kann man nicht oft genug bedauern, da solche Menetekel die vielversprechenden Ansätze der Literatur im Netz verschwinden lassen; Ansätze, in denen die Eigendynamik der „Maschine“ nicht mit Autorschaft verwechselt wird, die sich vielmehr ihre Struktur zunutze machen, um die Wirklichkeit des Virtuellen zu Gesicht zu bringen.So begann vor nun schon zwei Jahren der Journalist Giesbert Damaschke, die Korrespondenz zwischen Schiller und Goethe online zu publizieren. Und zwar in Echtzeit, also jeweils an dem Datum, an dem das Schriftstück verfasst wurde, nur eben um 215 Jahre versetzt. Idealerweise per RSS-Feed kann man das Hin und Her der Briefe in just derselben Frequenz verfolgen, in der sie auch damals ausgetauscht wurden. Fast am eigenen Leib erlebt man, was bei der Lektüre der Buchausgabe meist weniger Beachtung findet: wenn die Kommunikation zwischenzeitlich versiegt oder wenn, im Gegenteil, die Briefe in (damaliger) Höchstgeschwindigkeit hin und her eilen.Merkwürdig genugDas Projekt „Streetview Literatur“ wiederum bringt den Hypertext als solchen auf die Straße. Die Initiatorin Marion Schwehr sammelt auf blog.euryclia.de Kurzgeschichten, die Figuren auf ihren Wegen durch die Stadt begleiten; in einer Karte werden all diese Wege verzeichnet. Bald soll es ein Smartphone-App geben, das den Leser auf die Spuren dieser Fiktionen durch die Realität der deutschen Städte schickt. Straßenkreuzungen avancieren so zu Hyperlinks, wenn die Erzählungen einander auf dem Stadtplan begegnen und man in einen anderen Text wechselt.Dass neben Nachwuchsautoren auch bekannte Namen wie Christopher Kloeble, Tanja Dückers und Keto von Waberer Texte beisteuern, obwohl sie – so der aktuelle Stand, da sich das Projekt anders kaum finanzieren lässt – nur für die „Streetview Literatur“-Lesungen honoriert werden, mag als Hinweis gelten, dass nicht alle Schriftsteller furchtsam erstarren, wenn das World Wide Web sich nähert. Vielmehr wissen sie die realen Rückkopplungen des Virtuellen genauso zu schätzen wie die Kritik eines überkommenen Werkbegriffs, die man darin durchaus entdecken kann. Dafür steht auch die Lyrikerin und Essayistin Ann Cotten, die auf der Website www.glossarattrappen.de den Leser zum Herausgeber befördert, wenn er per Klick immer neue Kombinationen von Cottens Texten und Bildern produzieren und die eigene individuelle Serie anschließend in Buchform erwerben kann. Ein analoges Original aus dem Internet – wer hätte das gedacht? Auch dieses Werk hört man mithin leise flüstern: „Dass ich hier bin, ist merkwürdig genug.“