Never Let Go – Lass niemals los

Nach Ishana Shyamalans „They See You“ kommt mit NEVER LET GO – LASS NIEMALS LOS der zweite Hütte-im-Wald-Horrorfilm innerhalb weniger Monate in die deutschen Kinos. Dabei ähneln sich die Stärken und Schwächen in Auserzählung und Inszenierung überraschend stark.

OT: Never Let Go (USA 2024)

Darum geht’s

Gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Samuel (Anthony B. Jenkins) und Nolan (Percy Daggs IV) lebt Momma (Halle Berry) allein in einer einsamen Waldhütte. Da draußen im Wald das Böse lauert, gibt es für die kleine Familie vor allem eine wichtige Regel: Vor die Tür treten darf nur, wer permanent ein Seil um seinen Bauch gebunden hat – ohne Ausnahme! Doch je älter die beiden Jungs werden, desto häufiger hinterfragen sie das oft überbehütende Verhalten ihrer Mutter. Gibt es das das vielzitierte Böse in der Welt wirklich? Oder will Momma ihre Kinder einfach nur – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht von der Hand lassen?

Kritik

Alexandre Ajas Wurzeln liegen in der New French Extremecy. Jenem Horrortrend der späten Zweitausender- und frühen Zweitausendzehnerjahre, in denen vornehmlich französische Regisseure hyperbrutale Genrefilme wie „Martyrs“, „Inside“ und „Frontier(s)“ auf ihr Publikum losließen. Auch nach seinem Beitrag „High Tension“ blieb Aja seinen brachialen Wurzeln vorerst treu und lieferte mit dem Remake zu „The Hills Have Eyes“ eines der gelungeneren (und nicht weniger sadistischen) Remakes von Klassikern ab, die in den frühen Nullerjahren das Horrorgeschehen bestimmten. Außerdem produzierte er unter anderem die Neuadaption von Franck Khalfouns „Maniac“. Doch spätestens seit dem Geheimtipp „Horns“ mit Daniel Radcliffe löste sich der Regisseur von seinen blutigen Wurzeln – mit mal mehr („Crawl“), mal weniger („Das neunte Leben des Louis Drax“) Erfolg. Auch Netflix durfte er bereits mit einem Film bestücken („Oxygen“), doch nun zieht es den gebürtigen Pariser zurück auf die große Leinwand. Sein Spannungsstück „Never Let Go – Lass niemals los“ punktet dabei mit einer, bei einem nur sehr übersichtlichen Cast namhaften Besetzung und einer fantastischen Inszenierung. Doch nach „They See You“ von Ishana Syhamalan hat auch dieser moderne Hütte-im-Wald-Horror seine Schwächen in der Auserzählung.

Momma (Halle Berry) mit ihren beiden Söhnen Samuel (Anthony B. Jenkins) und Nolan (Percy Daggs IV).

In „Never Let Go – Lass niemals los“ geht es um die Frage, wie real das behauptete Böse irgendwo da draußen ist – also schon ziemlich identisch zur Ausgangslage in „They See You“, nur dass die Figurenkonstellation hier nochmal eine ganze Nummer reduzierter und in ihrem Standing zueinander eindeutiger zu durchschauen ist. Die von Halle Berry („The Call – Leg nicht auf!“) schön ambivalent und keineswegs als Sympathieträgerin gespielte Mutter (die übrigens den ganzen Film über namenlos bleibt) legt ihre beiden Söhne Samuel und Nolan (zwei Entdeckungen: Anthony B. Jenkins und Percy Daggs IV) buchstäblich an die Leine. Denn wenn man sich im Wald ohne das um den Bauch gebundene Seil bewegt, lauert der Tod. Ob das wirklich so ist, oder ob Momma einfach nur die Helikoptermutter des Jahres ist, inszeniert Aja bis zum Ende angenehm uneindeutig. Immer wieder streut er Fährten in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Und tatsächlich verzichtet Aja sogar auf eine endgültige Auflösung, was allerdings vielmehr faul als ambitioniert offen wirkt. Stattdessen hat man den Eindruck, die schon mehrfach zusammenarbeitenden Drehbuchautoren Kevin Coughlin und Ryan Grassby („The King Tide“) hätten sich partout nicht auf ein eindeutiges Schlussbild einigen können und stattdessen ein unterschiedlich auslegbares, darin allerdings vollkommen widersprüchliches Ende inszeniert. Doch wenn „Never Let Go“ im Ziel so stark schwächelt, vielleicht funktioniert ja wenigstens der Weg dorthin..?

“ Tatsächlich verzichtet Aja auf eine endgültige Auflösung, was allerdings vielmehr faul als ambitioniert offen wirkt. Stattdessen hat man den Eindruck, die Autoren hätten sich partout nicht auf ein eindeutiges Schlussbild einigen können und stattdessen ein unterschiedlich auslegbares, darin allerdings vollkommen widersprüchliches Ende inszeniert.“

Und das tut er dann auch zum Großteil. Dass Aja ein hervorragendes Gespür für Spannung, Atmosphäre und sein Stamm-Kameramann Maxime Alexandre („Shazam!) für die dazu passenden Bilder hat, stellt „Never Let Go“ selbstbewusst zur Schau. Das Setting reduziert sich auf zwei Bereiche: Die rustikale, enge und bedrückende Wohnhütte des Mutter-Söhne-Gespannes sowie den immer irgendwie nebeligen Wald, der in seiner Undurchdringbarkeit etwas Unwirtliches hat. Das reduzierte Farbschema, die hohen Kontraste und das kristallklare Bild machen „Never Let Go“ trotz seines Kammerspielcharakters (und ohne das ganz große Spektakel) zu einem Film, den man unbedingt auf der großen Leinwand sehen muss – so überragend sieht all das hier aus und entfaltet dadurch seine ganz besondere, unvorhersehbare Stimmung. Eine, auf die sich Aja allerdings nicht vollends verlässt. Die vereinzelten Jump Scares – viele gibt es zwar nicht, aber der Film beginnt sogar direkt mit einem – machen der subtil-unbehaglichen Atmosphäre immer wieder einen Strich durch die Rechnung, indem die brodelnde Anspannung dabei an die Oberfläche bricht, anstatt sich weiterhin unterschwellig zu entfalten.

Lauert im Wald außerhalb der Hütte tatsächlich das Böse, oder will Momma einfach nur ihre Kinder ständig bei sich haben?

Wesentlich unvorhersehbarer als die vereinzelten Schockmomente ist dafür das Geschehen in der zweiten Filmhälfte. Ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten, ist es – insbesondere für einen Mainstream-Film – schon beachtlich, was sich die Kreativen hier trauen. Selbst das öfter mal einen Tick zu viel vorab preisgebende Marketing konnte gekonnt geheim halten, auf welches minimalistische Szenario „Never Let Go“ auf der Zielgeraden zusteuert. Doch sieht man einmal von dieser für den Moment äußerst radikalen Entwicklung ab, mäandert der Film anschließend ähnlich mehrdeutig vor sich hin, wie Aja sein Ausgangsszenario bereits aufgebaut hat. Trotz seiner übersichtlichen Laufzeit von gerade einmal etwas mehr als eineinhalb Stunden besitzt „Never Let Go“ Längen, die sich dadurch ergeben, dass die Kreativen es versäumen, das Auf-der-Stelle-Treten der Story mit neuen Impulsen zu minimieren. Und wenn dann auf der Zielgeraden auch noch der finale Punch ausbleibt, weil sich die Verantwortlichen dazu entschlossen haben, keine von beiden Möglichkeiten einer Auflösung bis zum Ende durchzuziehen, bleibt trotz der starken Inszenierung rückwirkend dann doch ein eher frustrierendes Kinoerlebnis in Erinnerung.

„Trotz seiner übersichtlichen Laufzeit von gerade einmal etwas mehr als eineinhalb Stunden besitzt ‚Never Let Go‘ Längen, die sich dadurch ergeben, dass die Kreativen es versäumen, das Auf-der-Stelle-Treten der Story mit neuen Impulsen zu minimieren.“

Fazit: „Never Let Go – Lass niemals los“ veranschaulicht, wie sehr der Gesamteindruck von einem Film durch ein misslungenes Ende geschmälert werden kann. Denn eigentlich ist der Hütte-im-Wald-Horror super inszeniert und punktet mit einigen radikalen Entscheidungen, zieht seinen Mut zum Extremen allerdings nicht bis ins Finale durch.

„Never Let Go“ ist ab dem 26. September 2024 in den deutschen Kinos zu sehen.

Ein Kommentar

  • Misslungenes Ende? Danke für die Warnung. Den schaue ich dann (vielleicht) irgendwann, wenn er bei Netflix oder Amazon im Flatrate-Programm dabei ist.

Und was sagst Du dazu?