Oppenheimer
Drei Jahre nach „Tenet“ widmet sich Christopher Nolan einmal mehr dem komplexen Thema Zeit. Sein Biopic OPPENHEIMER über den gleichnamigen Erfinder der Atombombe verzichtet dafür weitestgehend auf Spektakel und taucht tief in die Welthistorie ein – und darin, wie ebenjene Zeit den Blick auf Geschichte und jene, die sie geschrieben haben, verändert.
Darum geht’s
Anfang der Vierzigerjahre wird der aufstrebende Wissenschaftler J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) zum Leiter des Manhattan Projekts ernannt. Unter Aufsicht von Militär und US-Regierung soll er gemeinsam mit einem Team führender Physiker als erster eine Atombombe bauen und testen. Während er gleichzeitig zur Zielscheibe der Kommunistenverfolgung wird und sich Jahre nach dem ersten Atomtest einem Hinterzimmerverfahren stellen muss, das über seine Zukunft und seinen Einfluss entscheiden wird, malträtieren ihn nach und nach Gewissensbisse, die erst recht die Macht über seinen Geist übernehmen, als ihn die ersten Bilder aus Nagasaki und Hiroshima erreichen. Erst mit den Jahren wird sich zeigen, ob die Geschichte Oppenheimer als Held, Antiheld oder etwas ganz Anderes in Erinnerung behalten wird. Dazu trägt auch der einflussreiche Politiker Lewis Strauss (Robert Downey Jr.) einen großen Teil bei…
Kritik
Regisseur und Drehbuchautor Christopher Nolan gehört nicht nur zu den einflussreichsten Filmschaffenden der vergangenen 30 Jahre. Er ist darüber hinaus auch ein „Mann der Zeit“. Eine zugegebenermaßen sehr vage Aussage, die jedoch sogleich mehr Gewicht erhält, wenn man sich anschaut, auf wie vielen Ebenen sie zutrifft. Da ist zum einen der stets dem aktuellen Zeitgeist angepasste Umgang mit den Möglichkeiten des modernen Kinos. Nolans Filme gelten als das Non plus ultra technischer Finesse; zugleich besinnen sich nur wenige Regisseure der Moderne derart stark auf die Wurzeln des Filmemachens. So lehnt Nolan beispielsweise das „Modell Streaming“ rigoros ab und versteht das Lichtspielhaus als einzig adäquaten Auswertungsort für seine Werke. Außerdem dreht Nolan nach wie vor analog und im Falle seines neuesten Films „Oppenheimer“ geht er sogar so weit, eigenen Aussagen zufolge vollständig auf digitale Trickeffekte zu verzichten. Gleichzeitig lässt sich sein Film in der von ihm bevorzugten Form kaum irgendwo anschauen. Nämlich in IMAX und 70mm. Das können, schon allein aufgrund der Schwere der Filmrollen, nur ganz wenige Kinos auf der Welt – im wahrsten Sinne des Wortes – stemmen. Die visuelle Wucht des vermeintlich altmodischen analogen Kinos stößt hier unweigerlich auf die Grenzen moderner Auswertungswege.
Zurück zur Zeit. Nicht nur für das Kreieren und Drehen macht sich Christopher Nolan verschiedene Aspekte dessen zunutze, wie sich das Filmemachen über die Zeit verändert hat. Er ist seit jeher auch von der Zeit an sich, den von ihr ausgehenden, verschiedenen Erlebnisebenen sowie ihrem Einfluss auf die Wahrnehmung des Raumes fasziniert. „Memento“: Zwei Handlungsstränge, der eine chronologisch, der andere rückwärts, bewegen sich aufeinander zu und eröffnen so Stück für Stück den Blick auf die vollständige Wahrheit über den Protagonisten. „Insomnia – Schlaflos“: Für einen an Schlaflosigkeit leidenden Ermittler verschwimmt das Empfindungsgefühl für Tag und Nacht vollends, weil die Mitternachtssonne dafür sorgt, dass es rund um die Uhr taghell ist. „Inception“: Innerhalb verschiedener, ineinander verschachtelter Traumebenen verhält sich das Zeit- und Raumgefühl der Figuren komplett unterschiedlich, bis der sagenumwobene Kreisel des Schlussbildes offenlegt, dass es wesentlich weniger von Belang ist, in welcher Realität wir uns befinden, und deutlich wichtiger, mit sich im Reinen zu sein. „Interstellar“: Auf verschiedenen Planeten vergeht die Zeit unterschiedlich schnell, was hier vor allem emotionale Auswirkungen auf die handelnden Figuren hat. „Dunkirk“: Unter nahezu vollständigem Verzicht auf Identifikationsfiguren zeigt das opulent ausgestattete Drama zeitgleich die Erlebnisse drei verschiedener Männer an der Kriegsfront von Dünkirchen. Den Ereignissen an Land folgt er eine ganze Woche lang, jenen auf See einen Tag, während Tom Hardy als Fliegerpilot „nur“ eine einzige Stunde durchlebt. Und zu guter Letzt „Tenet“: In seinem 2020 als Post-Corona-Kinoretter angepriesenen Science-Fiction-Thriller bewegte sich Hauptdarsteller John David Washington ganz konkret rückwärts durch die Zeit.
„Nicht nur für das Kreieren und Drehen macht sich Christopher Nolan verschiedene Aspekte dessen zunutze, wie sich das Filmemachen über die Zeit verändert hat. Er ist seit jeher auch von der Zeit an sich, den von ihr ausgehenden, verschiedenen Erlebnisebenen sowie ihrem Einfluss auf die Wahrnehmung des Raumes fasziniert.“
Dass „Oppenheimer“, ein auf einer Biografie von Kai Bird und Martin J. Sherwin basierendes Biopic über den „Vater der Atombombe“ Robert Oppenheimer, also kaum eines dieser zahlreichen Filmporträts werden würde, das sich dramaturgisch wie ein verfilmter Wikipedia-Eintrag anfühlt, wurde bereits anhand erster Bewegtbilder deutlich. In diesen offenbarte sich, dass es (mindestens) zwei Erzähl- und damit Zeitebenen geben würde: eine in Schwarz-Weiß, eine in Farbe. In „Oppenheimer“ geht Nolans Faszination dafür, was (man mit) Zeit alles anstellen kann, jedoch noch den einen Schritt weiter. Hier sorgen die verschiedenen Zeitebenen vor allem dafür, dass die Wahrnehmung einer Persönlichkeit durch die Zeit und über die Jahre grundlegenden Schwankungen unterworfen ist. Die üppigen drei Filmstunden rekonstruieren von Menschen gemachte Geschichte, die rund zwei Drittel des Films lang einmal mehr von den Siegern geschrieben scheint. Im Finale verdichten sich dann die subtil verstreuten Widerhaken dieser Perspektive und blasen nicht nur audiovisuell zum Angriff auf die Publikumssinne. In „Oppenheimer“ stellt Christopher Nolan konkret die Frage, wie zeitlos Helden sein können und was die (pop-)kulturelle Auseinandersetzung mit ihnen zu der Antwort darauf beizutragen hat. Dass ein Film über den Schöpfer der Atombombe, der von den US-Behörden unter anderem auseinandergenommen wird, weil er eine Gewerkschaft gründen will, übrigens seine London-Premiere genau in dem Moment feierte, in dem sich die US-Schauspielgewerkschaft dem bereits Wochen zuvor begonnenen Streik der Drehbuchschreibenden angeschlossen hat und somit die Traumfabrik lahmlegte, ist derweil die Kirsche auf der Timing-Torte, wohl aber kaum beabsichtigt gewesen.
Schon der Filmtitel „Oppenheimer“ lässt sich ein Stück weit auch als Irreführung verstehen. Cillian Murphy („Free Fire“) als Physiker und Leiter des Manhattan Projekts scheint der erzählerische Dreh- und Angelpunkt zu sein. Schließlich basiert der Film auf einer Biografie über seine Persönlichkeit. Doch mindestens genauso viel Einfluss auf das, was wir im Film über ihn zu sehen bekommen, unterliegt der subjektiven Wahrnehmung einer ganz anderen Person: dem US-amerikanischen Politiker und Offizier der US Navy Lewis Strauss. Der in Farbe präsentierte Zeitstrang thematisiert das direkte Davor, Während und Danach des Manhattan Projekts von den frühen Vierziger- bis in die späten Fünfzigerjahre, in denen J. Robert Oppenheimer die Entziehung seiner Sicherheitsvergabe und damit der Verlust seines Einflusses droht. Nolan bleibt nicht einmal hier stringent chronologisch. Stattdessen bestehen seine Farbaufnahmen zu gleichen Anteilen aus filmischer Gegenwart (das Verfahren selbst) und zahlreichen Flashbacks, aus denen sich nach und nach Oppenheimers berufliches Schaffen im Einklang mit seinem Privatleben vor den Ermittlern ausbreitet. Alles hier unterliegt den subjektiven Schilderungen Oppenheimers. Das in Schwarz-Weiß dargelegte Treiben nährt sich dagegen von der Wahrnehmung Lewis Strauss‘, der vor dem US-Senat zu seiner persönlichen und beruflichen Beziehung zu Oppenheimer befragt wird – und mitunter einen etwas anderen Blick auf die Dinge hat.
„Mindestens genauso viel Einfluss auf das, was wir im Film über ihn zu sehen bekommen, unterliegt der subjektiven Wahrnehmung einer ganz anderen Person: dem US-amerikanischen Politiker und Offizier der US Navy Lewis Strauss.“
Dass die Ausgangslage für beide Handlungsstränge eine Befragung ist, legt den Schwerpunkt des Films offen: Die Spannung, Intensität und bisweilen sogar Emotionalität (bis heute eher ein Schwachpunkt in Nolans Schaffen) ergeben sich hier vorwiegend aus den Dialogen. Das Hinterzimmerverfahren während der Kommunistenverfolgung treibt Oppenheimer als mal mehr, mal weniger zuverlässigen Erzähler an seine Körper- und Gefühlsgrenzen. Dem damaligen Politiker Lewis Strauss zieht sich bei seiner öffentlichen Anhörung vor dem US-Senat derweil mehr und mehr die Schlinge um den Hals zu. Wollte dieser vor und während des Manhattan-Projekts vor allem einen vielversprechenden Wissenschaftler fördern, änderte sich die Wahrnehmung Oppenheimers (und damit auch die Perspektive auf Strauss) nach den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Denn ein weiteres Wettrüsten, ergo die Entwicklung einer Wasserstoffbombe, lehnte Oppenheimer stets ab, was den Physiker wie den Öffner der Pandora-Büchse aussehen ließ, der diese nie wieder geschlossen bekam, aber auch nicht aktiv beitrug, dass seine Büchse die mächtigste der Welt bleibt. Die Senatsanhörung konfrontiert Strauss immer wieder mit seinen (aus heutiger Sicht) Fehltritten im Umgang mit Robert Oppenheimer und dessen Wissenschaftsförderung. Und so ist Strauss‘ Sicht auf die Dinge mindestens genauso relevant im Verlauf der Geschichte wie jene von Oppenheimer selbst. Manche Momente inszeniert Christopher Nolan sogar mehrfach, die aufgrund vereinzelter Nuancenverschiebungen jedoch ganz unterschiedlichen Input auf die Situation haben können.
Zwar etabliert „Oppenheimer“ bereits in den ersten Minuten die Perspektiven beider Ton angebender Hauptfiguren. Das emotionale Zentrum bildet allerdings erst einmal das Leben Robert Oppenheimers. Die erste Stunde zeichnet ihn als eine Art Genie, das der Welt unbedingt etwas hinterlassen möchte. Nach seinem Studium an der Harvard University gelangen Oppenheimer diverse Durchbrüche auf dem Gebiet der Quantenmechanik, später der Quantenphysik, was ihn Anfang der Vierzigerjahre zur Leiterposition des Manhattan Projekts verhalf. Doch anstatt ein klischeehaftes, eigenbrötlerisches und spleeniges Nerd-Dasein abzubilden – wozu die Persona Oppenheimer in seiner Gesamtheit ohnehin nicht taugte – nähert sich der Film seinem Charakter eher wie einem Schachspieler. Nach und nach bringt der Physiker die benötigten Figuren auf das Spielfeld namens „Manhattan Projekt“. Zunächst holt er sich den fachlichen Input unzähliger, einflussreicher Persönlichkeiten der Naturwissenschaft und macht „Oppenheimer“ damit zu einem Schaulaufen an Hollywoodstars, von denen einer nach dem anderen in die Rolle eines Nobelpreisträgers schlüpfen darf; ; Matthias Schweighöfer („Army of the Dead“) ist Werner Heisenberg, Kenneth Branagh („Mord im Orient Express“) ist Niels Bohr, Tom Conti („Paddington 2“) ist Albert Einstein, Josh Hartnett („Operation Fortune“) ist Ernest Lawrence.
Im Anschluss daran verdichtet sich die Handlung mehr und mehr; sowohl zeitlich als auch geografisch. Fortan halten wir uns vorwiegend in den vier Wänden verschiedener Labore und Hörsäle auf. Das Team des Manhattan Projekts wird größer und größer. Die Dynamik darin von Tag zu Tag angespannter. Der Zeitdruck, der immer strengere Blick von Regierung und Militär auf den Fortschritt des Projekts und die ersten, leisen Gewissensbisse, die Robert Oppenheimer langsam zu beschleichen beginnen, machen die zweite Stunde von „Oppenheimer“ zu einem brodelnden Hexenkessel. Und obwohl man ja eigentlich um den Ausgang des ersten Atombombentests weiß, fungiert das konsequente Hinarbeiten auf die Zündung der Bombe in der Wüste von Alarmogordo, New Mexico, als die Atmosphäre zusätzlich aufheizender Katalysator, da es Christopher Nolan sowie seinen Verantwortlichen für Bild und Ton hervorragend gelingt, die Faszination für die Bombe selbst auf die Leinwand zu bringen.
„Anstatt ein klischeehaftes, eigenbrötlerisches und spleeniges Nerd-Dasein abzubilden – wozu die Persona Oppenheimer in seiner Gesamtheit ohnehin nicht taugte – nähert sich der Film seinem Charakter eher wie einem Schachspieler.“
Natürlich funktioniert der erste Atomtest nicht nur aufgrund seines – im wahrsten Sinne des Wortes – Knalleffekts als (vorläufiger) Höhepunkt des Films. Christopher Nolans Ankündigung, „Oppenheimer“ käme vollständig ohne CGI-Effekte aus, veranlasste ihn dazu, noch kurz vor Kinostart in einem Interview eindringlich darauf hinzuweisen, dass er für seinen Film natürlich keine echte Atombombe gezündet hat. Wenngleich das am Computer stattfindende Zusammenführen einzelner Kamerakomponenten oder auch so etwas Banales wie die Anwendung von Slow Motion natürlich auch irgendwie in die Kategorie „Computereffeke“ fallen, hat das Wissen um Nolans Verzicht auf Tricktechnik, wie man sie heute versteht, einen zusätzlichen, spannungsverstärkenden Effekt: Wie werden die Special-Effects-Verantwortlichen die Atombombenexplosion wohl stattdessen nachgebildet haben? Mit welcher Wucht, Lautstärke und Helligkeit wird das Feuer des Atompilzes das Publikum erreichen? Oder würde sich Nolan vermutlich gar einen Scherz erlauben und ausgerechnet diesen so wichtigen Moment einfach gar nicht zeigen, so wie er später auch in Gänze auf konkrete Zerstörungsaufnahmen aus Nagasaki und Hiroshima verzichtet? Dass der von Ludwig Göransson („Black Panther – Wakanda Forever“) komponierte, ansonsten so omnipräsente Orchester-Score ausgerechnet während der Explosion verstummt, unterläuft die Erwartungen an diese Szene noch am ehesten. Ohne das Zutun musikalischer Manipulation wird das Publikum Augenzeuge der Zerstörungsmacht einer Atomexplosion. Erst ein paar Sekunden später ertönt die zugehörige Explosion dann auch; schließlich befanden sich die Wissenschaftler während der Zündung rund sieben Kilometer von der Bombe entfernt und Licht ist nun mal schneller als Schall…
Es ist einer der wenigen Momente in „Oppenheimer“, in dem Christopher Nolan die akustische Wahrnehmungsebene klar von der optischen trennt. Ludwig Göranssons Musik fungiert bis dorthin (und im Anschluss daran) als wichtiger Emotionsverstärker, der sich allgegenwärtig auf das Geschehen legt, zum Beispiel, indem er das Geräusch eines Geigerzählers imitiert. Vor allem in jenen Szenen, die sich mit der Persönlichkeit Oppenheimers sowie seinem Kampf gegen die Dämonen auseinandersetzen, sorgt das dafür, dass man Oppenheimers innere Zerrissenheit umso dringlicher spürt. Doch Nolans Umgang mit dem Score sorgt mitunter auch für Ermüdungserscheinungen bis hin zu dem ganz pragmatischen Problem, dass manche Dialoge hinter den virtuosen Orchesterklängen untergehen. Die Tonspur von „Oppenheimer“ mag wuchtig und einnehmend sein, gleichzeitig übertritt Nolan mehr als einmal die Grenze zum „zu viel“, bis sich unter dem Wust an Musik, Dialog und Effekttonspur mitunter nichts Konkretes mehr dechiffrieren lässt. Auf der anderen Seite verstärkt dies auch den Rausch, als der „Oppenheimer“ angesehen und empfunden werden kann – und es rückt die Wichtigkeit des faktischen Austauschs für die Wahrnehmung der Ereignisse in den Hintergrund. Die Dialoge der Wissenschaftler sind voll von fachlichem Kauderwelsch. Doch ob man diese nun, egal ob wortwörtlich oder sachlich, versteht oder nicht, spielt für den weiteren Verlauf der Geschichte ohnehin keine Rolle. Ohne einen Doktor in Physik dürften viele der Erklärungen über die Köpfe der Zuschauerinnen und Zuschauer hinfort ziehen, ohne dass sich einem die Tragweite ebenjener sofort erschließt. Wo in anderen Nolan-Filmen stets ein Erklärbär in diese (vermeintliche) Verständnislücke springen musste, lässt der Regisseur hier die emotionsgetriebene Interaktion für sich sprechen. Wie wichtig etwas ist, transportieren hier schlicht und ergreifend die Schauspieler und nicht die Dialoge selbst.
Damit das so funktioniert, wie Christopher Nolan es beabsichtigte, benötigt es einen fähigen Cast. Wie es vermutlich sonst nur noch Wes Anderson oder Adam McKay gelingt, ist „Oppenheimer“ ein regelrechter Star-Auflauf, in dem selbst kleine Nebenrollen mit Hollywood-Hochkarätern besetzt sind. Dies hat den Vorteil, dass die Wichtigkeit der Figuren für die Handlung schon allein aus dem Casting heraus ersichtlich ist. Wenn ein Rami Malek („Bohemian Rhapsody“), ein Casey Affleck („Manchester by the Sea“) oder Dane DeHaan („A Cure for Wellness“) – und sei es nur im Hintergrund – zu sehen sind, weiß man automatisch, dass das von ihnen Gesagte und Getane noch relevant sein wird. Dies fährt sogleich den Eindruck zurück, Nolan hätte sein Ensemble nur deshalb mit Stars aufgeblasen, damit der Verleih zu Werbezwecken möglichst viele Namen auf das Plakat drucken kann. Auf das haben es ohnehin nur fünf geschafft: Neben Cillian Murphy prangen Robert Downey Jr. („Avengers: Endgame“), Emily Blunt („A Quiet Place“), Matt Damon („Interstellar“) und Florence Pugh („Midsommar“) in fetten Lettern über dem Abbild der titelgebenden Hauptfigur. Und diese Auswahl macht nicht nur aufgrund der Screentime der einzelnen Darstellerinnen und Darsteller Sinn.
„Nolans Umgang mit dem Score sorgt mitunter auch für Ermüdungserscheinungen bis hin zu dem ganz pragmatischen Problem, dass manche Dialoge hinter den virtuosen Orchesterklängen untergehen.“
Diese fünf Schauspielenden repräsentieren zugleich die emotionalen Facetten des Films. Sachlich und aufopferungsvoll, rational und leidenschaftlich, optimistisch und pessimistisch, analytisch und gefühlsgetrieben. Jeder und jede von ihnen schält sich im Verlauf der Handlung mindestens einmal aus dem Wahrnehmungshintergrund in den Fokus, muss anschließend wieder zurückstecken und bekommt bis zum Schluss noch mindestens eine herausragende Einzelszene spendiert. Vor allem Emily Blunt als Ehefrau Kitty Oppenheimer überragt das Geschehen im finalen Drittel mit einem spektakulären Monolog, der ihrer Figur mehr Tiefe verleiht als es Nolan in sämtlichen seiner Vorwerke seinen Frauenfiguren zuzugestehen vermochte. Daneben hätte Florence Pughs Figur der Oppenheimer-Affäre Jean Tatlock noch mehr Substanz verdient, als es das Skript ihr zugesteht. Matt Damon als Militäraufsicht des Manhattan Projekts verhilft „Oppenheimer“ derweil zu subtilem Humor und fungiert noch am ehesten als Identifikationsfigur für das Publikum, die die Ereignisse bisweilen ungläubig, bisweilen fasziniert, aber nie von fachlich derartiger Tiefe beobachtet, wie es die Wissenschaftler vermögen. Robert Downey Jr. spielt sich indes schon allein mit seinem ausdrucksstarken Minenspiel auf seinem zerfurchten Gesicht in Jeremy-Irons-Gedächtnisoptik an die Spitze der Oscar-Favoriten für 2024 und findet seine darstellerische Prägnanz in minimalen Regungen. Inmitten seiner zahlreichen Kolleginnen und Kollegen: Cillian Murphy, dessen Euphorie genauso ansteckt wie seine Sorgen und Ängste, dessen Sicht auf die Welt gleichzeitig eine ganz andere als die seines Umfeldes (und uns) ist und doch menschlich nahbar bleibt. Hoyte van Hoytema („Nope“), der in den weiten Panoramen genauso aufgeht wie in der Enge des Raumes, fängt seine Vorstellungen und Visionen, von physikalischen Miniaturen bis hin zu den Verstand übersteigenden Naturgewalten, präzise ein. Sie formen seinen Robert Oppenheimer zu einer sperrigen, widersprüchlichen und dabei stets faszinierenden Figur.
Dass sich all diese (schauspielerischen) Stärken vorwiegend in der dritten Stunde zu ihrem Höhepunkt finden, ist das letzte und gleichzeitig größte Ausrufezeichen, das Christopher Nolan hinter seine Vorstellung eines der Persona Oppenheimer gerecht werdenden Biopics setzt. Funktionieren die ersten beiden Drittel noch wie eine klassisch-amerikanische Aufsteigerstory mit dem ersten geglückten, von Jubel begleiteten Atomtest der Geschichte als Happy-End-Finale, verhandelt er im Nachhinein die Folgen des Geschehens – und lässt hier erneut die jahrzehntelangen Änderungen der Sichtweise auf Oppenheimer für sich sprechen. Wenn man im Nachhinein erfährt, dass dieser seine Sicherheitsfreigabe erst Post Mortem wieder erhalten hat, lässt sich begreifen, wie Zeit die Geschichte auch noch viele Jahre nach ihrer gegenwärtigen Auswirkung verändern kann. „Oppenheimer“ ist vielleicht Christopher Nolans komplexeste, vor allem aber seine mannigfaltigste Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit. Diesmal benötigt er dafür kein großes Effektspektakel. Die Wucht des Films resultiert aus dem Zusammenspiel seiner vielen Facetten. Vielleicht muss man „Oppenheimer“ mehrmals sehen, sich bei jedem Schauen auf eine dieser Facetten konzentrieren und erst dann offenbart sich einem das große Ganze. Vielleicht bleibt es einem für immer verborgen. Aber damit bleibt sich Christopher Nolan ausgerechnet mit seinem auf den ersten Blick untypischsten Film doch am meisten treu.
Fazit: „Oppenheimer“ ist eine komplexe Abhandlung der Zeit. Eine Studie über die Wahrnehmung von Weltgeschichte sowie über den Heldenbegriff und ein Schaulaufen großer Hollywoodstars. Vieles rauscht beim ersten Mal einfach über einen hinweg. Die Akustik erschlägt einen hier und da mit ihrer Wucht und Penetranz. Doch am Ende kommt man mindestens zu dem Schluss, dass ein Biopic über den Erfinder der Atombombe dem streitbaren Charakter und seiner noch streitbareren Erfindung kaum besser gerecht werden könnte.
„Oppenheimer“ ist ab dem 20. Juli 2023 in den deutschen Kinos zu sehen – auch im IMAX sowie als 70mm-Fassung.