Kann eine Sprache einfach zerfallen, so wie ein Staat und eine Nation das können? Und wenn ja, was heißt das? Sprechen alle auf einmal in vielen Zungen und verstehen einander nicht mehr, so wie nach dem gescheiterten Turmbau zu Babel? Die kroatische Linguistin Snjezana Kordic hat jetzt in einem Buch eine einfache Antwort gefunden: Nein. Seither streitet das ganze Land.
In Kroatien spricht man Kroatisch, in Serbien Serbisch, war seit dem Zerfall Jugoslawiens die Formel: alles hübsch separiert. Die Sprachpuristen, die dem Volk zwanzig Jahre lang Unterricht in kroatischem Neusprech erteilt haben, holten kräftig aus. „Müll“ sei das Buch, dekretierte der Romanautor Hrvoje Hitrec, Vorsitzender des konservativen Kroatischen Kulturrats, zu bester Sendezeit im Fernsehen. Vecernji list, die größte Tageszeitung, ließ die Lingustik-Päpstin Sandra Ham über zwei Seiten gegen die Ketzerin polemisieren. Hitrec zeigte sogar den Kulturminister bei der Polizei an, weil der das Buch – wie alle wissenschaftlichen Werke zur kroatischen Sprache – gefördert hatte.
Aber die Nationalisten geraten zunehmend in die Defensive. Kordics mutiger Verleger Nenad Popovic lässt sich so wenig beirren wie die Autorin. Und wie befreit spendeten führende kroatische Intellektuelle, wie der Dramatiker Slobodan Snajder, der Romancier Miljenko Jergovic und der Satiriker Boris Dezulovic der bis dato wenig bekannten Wissenschaftlerin Applaus. Die liberale Presse listet genüsslich alle die Absurditäten auf, die sich aus der These ergeben, Kroatisch, Serbisch, Bosnisch und Montenegrinisch seien verschiedene Sprachen. So müsste danach jeder Kroate polyglott zur Welt kommen, da er ja automatisch drei weitere Sprachen beherrscht. Einem Blatt fiel auf, dass von den siebzig kroatischen Botschaftern in der Welt nur einer auf seiner Website von sich angibt, er sei neben dem Englischen oder Französischen auch des Serbischen kundig. Alle anderen scheinen das für selbstverständlich zu halten.
Einfach, klar und unbestechlich
Snjezana Kordic, 46-jährige Linguistin mit Zagreber Promotion und anschließender Karriere in Deutschland, weist schonungslos und penibel nach, was alle eigentlich immer wussten: Kroaten, Serben, Bosnier und Montenegriner sprechen dieselbe Sprache. Nur nennt man sie nicht mehr, wie bis 1991, Serbokroatisch, sondern in jedem Land anders. Aber Spitzfindigkeiten, wie man den Sprachnamen nicht nur nach den sprachlichen Eigenheiten, sondern nach der Nationalität der Sprecher verleihen könne, lässt Kordic nicht gelten: Schließlich sprächen Argentinier auch nicht Argentinisch. Das Kriterium, wonach 75 bis 85 Prozent gemeinsamer Wortschatz die gemeinsame Sprache machen, erfüllen die vier südslawischen Sprachen mühelos. Selbst die neuen Wörter, die seit dem Zerfall Jugoslawiens vor allem in Kroatien gebildet und in die Hirne gehämmert wurden, verstehen Serben, Bosnier oder Montenegriner fast alle. Schließlich sind sie aus demselben sprachlichen Material gebildet.
Kordic argumentiert einfach, klar und unbestechlich: Das Serbokroatische besteht unabhängig von den Fantasien nationaler Politiker weiter – als „polyzentrische Sprache“, so wie ja auch das Deutsche, Englische, Französische, Spanische in verschiedenen Ländern in unterschiedlichen Varianten gesprochen werden. Skandalös macht ihr Buch, dass sie den einstigen Kriegsgegnern für ihren Sprachkampf keinerlei Narrenrabatt gewährt. Um Argumente musste die Gegenseite sich zwanzig Jahre lang nicht bemühen; der Beitrag der Linguistik zur ideologischen Landesverteidigung war in Parteien, Verlagen und Redaktionen nur zu willkommen. Jetzt, da jemand ausspricht, dass der Kaiser gar keine Kleider anhat, hat die nationale Seite dem Anschein nach nichts zu bieten. Außer Wut: Nach öffentlichen Demonstrationen gegen sie in ihrer Geburtsstadt Osijek und einer Morddrohung gibt Snjezana Kordic ihren Aufenthaltsort nicht mehr preis.
In Kroatien, in Serbien, Bosnien und in Montenegro, wo gerade die letzte neue Sprache konstruiert wird, hat Kordic schon Interviews gegeben. Die Debatten ähneln einander. Auch in Belgrad musste eine junge Wissenschaftlerin sich vom lokalen Linguistik-Papst maßregeln lassen, weil sie behauptet hatte, es gebe eine serbokratische Sprache.
Die Auslandsslawistik hat sich, obwohl sie eigentlich frei von nationalem Druck ist, um ein klares Urteil über den Fortbestand des Serbokroatischen herumgedrückt. An einigen deutschen Unis wird „BKS“ gelehrt, „Bosnisch/Kroatisch/Serbisch“, und zwar in dieser alphabetischer, also „neutralen“ Reihenfolge. Anderswo wird die Sprache, die man lehrt, einfach nach der Herkunft des Lektors benannt. Das Serbokroatische befinde sich in einem „Prozess der Desintegration“, der allerdings lange dauern könne, sagt die neue Präsidentin des Slavistenverbandes, die Gießener Professorin Monika Wingender – eine feine Formel, die jedem seine Meinung lässt und der Wissenschaft kein Urteil abverlangt.