science.ORF.at: Herr Zachos, wie viele Arten von Lebewesen gibt es auf der Erde?
Frank Zachos: Die ketzerische Antwort lautet: So viele wie Sie wollen. Der Grund ist der, dass man viele Arten nicht objektiv voneinander trennen kann. Es wird immer einen Graubereich geben, in dem es möglich ist, eine Art oder zwei Arten anzuerkennen. Das ist auch der Grund, warum es so viele taxonomische Listen gibt. Der eine sagt: Es gibt 25 Adlerarten. Ein zweiter sagt: Nein, es gibt nur 23. Und ein dritter: Es sind 29. Alle Wissenschaftler haben die gleichen Rohdaten, aber sie übersetzen sie unterschiedlich in Artennamen. Das bedeutet nicht, dass Taxonomie willkürlich ist – aber es gibt einen Bereich, wo man das nicht ohne Weiteres eindeutig entscheiden kann.
Zur Person
Frank Zachos ist Leiter der Säugetiersammlung des Naturhistorischen Museums Wien und Professor am Genetik-Department der University of the Free State, Bloemfontein, Südafrika.
Im Fachblatt „PLOS Biology“ erschien soeben seine Studie: „Principles for creating a single authoritative list of the world’s species“
Für die Abschätzung der Größenordnung dürfte das keinen großen Unterschied machen, oder?
Zachos: Doch, das kann erhebliche Abweichungen hervorrufen. Die derzeit am häufigsten genutzten Listen von Vögeln umfassen ungefähr 10.000 Arten. Wissenschaftler, die für eine lockere Artabgrenzung plädieren, kommen auf 20.000. Die sehen aber die gleichen Vögel – es ist ja nicht so, dass diese Leute einen grünen Vogel im Himalaya entdeckt haben, den vorher keiner kannte.
Beschrieben sind derzeit etwa 1,5 Millionen Tiere, Pflanzen und Pilze inklusive Einzeller. Aber es gibt noch viele unentdeckte Spezies – wie viele könnten das sein?
Zachos: Für Lebewesen mit echtem Zellkern – vereinfacht formuliert: für alle Lebewesen, die keine Bakterien sind – gab es vor ein paar Jahren eine Abschätzung. Da kamen die Studienautoren auf 8,5 bis neun Millionen Arten. Also sechsmal mehr, als der Wissenschaft bisher bekannt sind. Eines möchte ich noch hinzufügen: Diese Zahl gilt unter der Voraussetzung, dass man Arten so abgrenzt, wie man das bisher gemacht hat.
Warum wird die Abgrenzung so variabel gehandhabt?
Zachos: Eine lebensnahe Analogie dazu sind Sprachen: Wie viele es davon gibt, ist ja auch bis zu einem gewissen Grad Geschmackssache. Meine Frau ist Niederländerin und ich bin gebürtiger Halbdeutscher. Niederländisch und Deutsch gelten natürlich als unterschiedliche Sprachen, aber in den Grenzregionen klingen die Dialekte schon ziemlich ähnlich. Angenommen, das Kriterium lautet: Alles ist eine Sprache, wenn man sich verständigen kann – dann haben sie das gleiche Problem wie in der Taxonomie. Was heißt „verständigen“? Wenn ich in Holland jemanden nach dem Weg frage und der sagt zu mir: „Sie gehen 300 Meter gerade aus und dann links“, dann verstehe ich das. Das verstehen auch Sie. Über Spinoza können Sie sich mit diesem Menschen aber nicht unterhalten. Was „verstehen“ bedeutet, ist genauso ein Kontinuum wie die Übergangszone zweier Arten. Im Kontinuum der Natur ist letzten Endes jede Grenzziehung willkürlich.
Bakterien und Archaeen sind im Katalog der 1,5 Millionen bekannten Arten nicht inkludiert. Wie viele gibt es davon?
Zachos: Für die genaue Zahl müssten Sie einen Mikrobiologen fragen. Beschrieben und anerkannt dürften größenordnungsmäßig ca. 10.000 sein, wenn ich mich recht erinnere. Aber die Dunkelziffer ist gewaltig. Es gibt Leute, die sagen: Es gibt genauso viele Bakterien wie Lebewesen mit echtem Zellkern oder sogar um ein Vielfaches mehr. Das hieße, dass man hier erst die Spitze der Spitze des Eisberges kennt.
Sie haben jetzt mit Kollegen eine Arbeit im Fachblatt „PLOS Biology“ veröffentlicht, in der Sie eine Reform der biologischen Systematik vorschlagen. Was ist das Ziel?
Zachos: Wir schlagen ein Verfahren vor, mit dem man aus allen bestehenden Artenlisten eine einzige machen könnte. Also eine Art Fahrplan für die Vereinheitlichung taxonomischer Listen. Wichtig ist, dass dieser Vorschlag im Namen der IUBS, der International Union of Biological Sciences, gemacht wurde, ansonsten hätten wir keinerlei Legitimation – die IUBS ist der Dachverband aller biowissenschaftlichen Gesellschaften weltweit, plakativ formuliert: die Vereinten Nationen der Biologie. Dass es derzeit so viele verschiedene Artenlisten gibt, ärgert ohnehin alle. Das Problem ist nur: Alle hätten gerne ihre eigene Liste. Wir haben jetzt Prinzipien entwickelt, mit denen man die Zusammenführung transparent gestalten könnte.
Die Grundidee der Taxonomie ist es, Ordnung in die Vielfalt der Natur zu bringen. Ist es nicht erstaunlich, dass man es in diesem Wissenschaftszweig bisher nicht geschafft hat, sich auf ein gemeinsames System zu einigen?
Zachos: Dass ein Nashorn eine andere Art ist als ein Elefant – darauf können sich alle einigen. Bei der Unterscheidung von Afrikanischem und Asiatischem Elefant ist das auch noch der Fall. Aber innerhalb der Afrikanischen Elefanten sehen Sie ebenfalls Unterschiede, zum Beispiel genetisch oder ökologisch. Wenn Sie immer weiter hineinzoomen, stellt sich die Frage: Wo ziehen wir die Grenze? Die meisten Forscher unterscheiden noch zwischen dem Waldelefanten und dem Savannenelefanten. Aber es gibt auch Leute, die sagen: Es gibt in Afrika nur eine Art. Und es gibt auch solche, die sagen: Es gibt drei.
Wenn das der Grund dafür ist, dass es bisher keine Harmonisierung in der Listenführung gab, dann ist das Problem unlösbar.
Zachos: Wissenschaftlich ist das Problem unlösbar. Das kann man den Taxonomen auch nicht vorwerfen. Es ist oftmals unmöglich, eine objektive Entscheidung darüber zu treffen, ob zwei noch nicht lange getrennte Populationen zu einer Art gehören oder zu zweien. Das können Sie auf gut Deutsch halten wie ein Dachdecker. Es geht gar nicht darum, die beste Lösung zu finden – die sind alle wissenschaftlich gut. Es geht darum, sich auf eine Möglichkeit zu einigen. Und diese eine Liste soll nun bitte jeder und jede verwenden. Nicht nur die IUCN (International Union for Conservation of Nature, Anm.), sondern auch das Washingtoner Artenschutzabkommen und andere. Die verwenden nämlich bisher oft unterschiedliche Artenlisten.
Bis wann könnte dieses Ziel verwirklicht werden?
Zachos: Das ist wie beim Berliner Flughafen: Bis alles komplett ist, kann das Jahrzehnte dauern. Aber ich denke, in einigen Jahren können wir den Prozess so weit auf den Weg bringen, dass die Aufgabe nur mehr abgearbeitet werden muss.
Angenommen, es gäbe diese Zentralliste schon: Deren Existenz würde das gegenwärtige Artensterben allerdings auch nicht aufhalten.
Zachos: Da gebe ich Ihnen recht, das Artensterben wird man mit Schreibtischtätigkeiten nicht abstellen können. Aber wir vermeiden mit dieser Liste zumindest einige Probleme. Zum Beispiel, dass das Washingtoner Artenschutzabkommen eine Art unter Schutz stellt, die in der roten Liste der IUCN gar nicht geführt ist. Es gab zum Beispiel Petitionen von Anwälten in den USA, in denen gefordert wurde, dass man sich gefälligst auf eine Liste gültiger Namen einigen soll. Anlass dafür war der Kalifornien-Mückenfänger, ein kleiner Vogel, der unter anderem in einer isolierten und bedrohten Population an der Westküste der USA lebt. Wenn das eine eigene Unterart ist – und einige Taxonomen sehen das so -, dann ist diese Unterart nach dem US Endangered Species Act geschützt. Das bedeutet: Auch das Habitat muss unangetastet bleiben. Ob man diese Population als Unterart anerkennt oder nicht, macht also rechtlich einen großen Unterschied. Wir reden hier von der kalifornischen Küste, also von einem Multimilliardenimmobiliengeschäft, das von den Entscheidungen der Taxonomen abhängt. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber es zeigt: Es muss Klarheit her.
Welche Arten sind aus Ihrer Sicht besonders schützenswert?
Zachos: Hier gibt es unterschiedliche Ansätze. Der gezielte Artenschutz ist ein bisschen aus der Mode gekommen. Wir bemühen uns nun eher, bestimmte Ökosysteme und Lebensräume zu erhalten. Natürlich gibt es Fälle, wo wir uns auf den Schutz einer bestimmten Art konzentrieren, bei Nashörnern zum Beispiel: Wir müssen verhindern, dass sie gewildert werden, mit Ökosystemschutz kommt man hier nicht weit. Und dann gibt es noch einen dritten Ansatz, den ich als Evolutionsbiologe recht attraktiv finde. Es geht darum, die Besonderheit einer Art zu bewerten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Schnabeltier ist ein ziemlich einzigartiges Vieh, es repräsentiert einen sehr einsamen Ast auf dem Baum des Lebens. Im Gegensatz zum Löwen. Natürlich ist auch der Löwe eine großartige Art, aber es gibt viele ähnliche Großkatzen, Tiger, Leoparden oder Jaguare. Evolutionär betrachtet wäre das Aussterben des Schnabeltiers also ein größerer Verlust des evolutionären Erbes, als wenn der Löwe nicht mehr leben würde.
Einsame Äste im Baum des Lebens höher zu bewerten ist allerdings auch bis zu einem gewissen Grad willkürlich.
Zachos: Die Astlänge ist messbar, den Verwandtschaftsgrad zu anderen Arten können wir objektivieren. Aber ich gebe Ihnen recht, ob wir das evolutionäre Erbe schützen wollen oder eine Rolle im Ökosystem, ist eine philosophische Frage. Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Das war kein Aufruf, Löwen auszurotten. Dieser Ansatz ist nur eine Möglichkeit, in einer Triage-Situation zu einer Entscheidung zu kommen. Und solche Situationen haben wir leider täglich.
Ist das Artensterben überhaupt aufzuhalten? Man könnte die These vertreten: mit unserem auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystem eher nicht.
Zachos: Das würde ich unterschreiben. Wir können das Artensterben nicht aufhalten, wir können es nur abbremsen. Selbst wenn wir jetzt auf die Notbremse steigen, werden viele Effekte noch Jahrzehnte nachwirken. Denken Sie zum Beispiel an das Klima: Was wir jetzt an CO2 in die Atmosphäre blasen, wird noch lange Zeit zum Klimawandel beitragen. Der Bremsweg ist sehr lang. Es gibt schlimme Szenarien und besonders schlimme. Langfristig können wir das nur beheben, indem wir etwas an unserem Lebenswandel und unserem Wirtschaftssystem ändern.