Christian Herrmann (Hg.): Heimat im Himmel und auf Erden
Christian Herrmann (Hg.): Heimat im Himmel und auf Erden. Theologisch-philosophische Aspekte der Heimatliebe, Nürnberg: VTR, 2022, Pb., 360 S., € 30,–, ISBN 978-3-95776-156-9
Heimat – das Wort kann sehr verschiedene Gefühle auslösen: Gedanken an eine unbeschwerte Kindheit – aber auch die Vertreibung durch Krieg und Not. Nicht zuletzt überkommt wohl jeden ab und an, wenn wir freiwillig oder unfreiwillig unterwegs sind, die Sehnsucht nach der Heimat, das „Heimweh“. Interessant ist, dass „Heimweh“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie keinen eigenen Eintrag bekommen hat. Heimweh wird vielmehr unter dem Wort „Nostalgie“ abgehandelt (HWPh 6,934–935). Nostalgie bedeutet ein Gefühl der Rückwendung zur Heimat, die durch selektive Erinnerung den Charakter einer heilen Welt bekommt, aber auch eine konstruierte Vermittlung des Gestern im Heute darstellt, um im immerwährenden Strom der Zeit wenigstens einen geschichtlichen Anker auszuwerfen. – Im Gegensatz zu diesen positiven Konnotationen ist der Heimatbegriff im 21. Jahrhundert eher problematisiert worden; er soll angeblich das Trennende betonen und somit eine Ursache von Gewalt zwischen sozialen Gruppenidentitäten darstellen (5, Vorwort).
Der Theologe und Stuttgarter Bibliotheksdirektor Dr. Christian Herrmann hat die gesellschaftliche und kirchliche Diskussion aufgenommen und einen umfangreichen Aufsatzband über das Thema „Heimat“ bzw. „Heimatliebe“ herausgebracht. Erschöpfend kann das Thema „Heimat“ gewiss nicht behandelt werden; im vorliegenden Aufsatzband überwiegt die systematisch-theologische bzw. philosophische Herangehensweise (6).
Die Sammlung enthält zwanzig Beiträge von siebzehn Autoren. Herausgeber Herrmann steuert zwei Aufsätze bei: „Dank, Buße und Verantwortung. Einführende Beobachtungen zur theologischen Begründung und Begrenzung von Heimatliebe“ (7–40) und „Heimatliebe und Heimatsehnsucht. Beispiele der theologie- und buchgeschichtlichen Artikulation einer existenziellen Grundspannung“ (142–174). Im ersten Essay erarbeitet Herrmann biblisch-theologische Grundgedanken zur Bedeutung von „Heimat“ (H.) und Vaterland am Beispiel verschiedener Ethik-Lehrbücher. Ausgewählte konservative Philosophen werden zum Thema „Patriotismus“ und „Vaterland“ gleichermaßen zitiert wie einige wenige Choräle (27f, 35, 37 Anm. 130) H. ist eine „heilsgeschichtliche Zwischenexistenz“, für die Christen dankbar und verantwortlich sein sollen, die in ihrer Sinnhaftigkeit aber nicht die zukünftige himmlische H. ersetzt (169, 174).
Wichtigen Aspekten des Themas widmen sich die drei Beiträge des belgischen Theologen Raymond R. Hausoul, der als Pastor in Kortrijk amtiert und als Gastdozent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Leuven unterrichtet. Sein erster Beitrag widmet sich „Gottes Vaterlandsliebe. Sein Wunsch nach einem Zuhause auf Erden“ (41–52). Das Paradies bzw. der Garten Gottes deutet auf Gottes Willen, bei dem Menschen zu wohnen (47). Die zeitliche Heimat zeigt auf die vollendete Heimat mit dem Ziel der Verherrlichung Gottes durch sein Bild im Menschen („Heimat in Zeit und Ewigkeit“, 339–350, hier 350). Besonders die Architektur mittelalterlicher Kirchen weist auf die himmlische Heimat hin (191–204).
Biblisch-theologische und -ethische Themen erörtern die Aufsätze von Alex Weidmann, „Die Kirche als wanderndes Gottesvolk“ (88–98), Berthold Schwarz, „Christliche Heimat in der Spannung zwischen irdischem Ort der Geborgenheit und der Pilgerschaft zum Himmel bei Gott“ (99–120), Armin Wenz, „Ehe und Familie als Heimat“ (205–219) und Friedemann Fritsch, „Beheimatung und Mission. Zwei Merkmale des christlichen Glaubens im Kontext geschlossener Gesellschaften und ein Aufruf zum Handeln“ (247–254). Spezifisch kirchengeschichtlich ist die Ausrichtung des Beitrags von Edith Düsing, „Otto W. Hahn: Das ‚Heimweh‘ von Jung-Stilling“ (175–190).
Die philosophisch-soziologische Fragestellung dominiert bei Heinzpeter Hempelmann, der ausgehend von einem Nietzsche-Zitat („Weh dem, der keine Heimat hat“) das H.-Problem im Rahmen der Mindset-Theorie anhand der zehn Sinus-Milieus diskutiert (235–246). Harald Seubert fragt in seinem Aufsatz über „Subsidiarität, Gemeinschaft und Kosmopolitismus“, wie der Mensch „in der globalen Welt zuhause sein kann“ (267–283). Ebenfalls im Kontext des Globalismus der Gegenwart stehen die Überlegungen der Aufsätze von Rolf Hille (284–294, „Heimat im globalen Dorf“), Helmut de Craigher (295–329, „Entfremdung oder Heil in der globalen Heimat“) und Bernd Villhauer (330–338, „Weltethos und Heimatfähigkeit“).
Weitere Beiträge können nur erwähnt werden. Sie behandeln Fragestellungen von Kirche, Christentum, Gesellschaft und Heimat: Elmar Nass, „Das Paradoxon christlicher Kreuz- und Heimatskepsis. Ausdruck einer Identität(skrise)?“ (53–71); Friedemann Richert, „Ein gutes Leben braucht Heimat“ (72–87); Athanasios Vletsis, „Synodalität und Autokephalie: ein unmöglicher Spagat? [..]“ (121–141); Stefan Felber, „‚Deine Sprache verrät dich‘ (Mt 26,73). Muttersprache und Vaterland“ (220–234); Christo J. S. Lombaard, „No Heimat is Heimat? Afrikaners in South Africa – The Lamb and the Wolf“ (255–266).
Der Sammelband stellt eine Anthologie zum Thema H. / Heimatliebe mit teils weit auseinanderliegenden Schwerpunkten dar. Zwar wird besonders mit Alfred de Quervains Ethik und den zitierten Kirchenliedern zu H. / Vaterland im ersten Aufsatz von Christian Herrmann der christlich-praktische Aspekt der Spiritualität erwähnt. Ein ausführlicher Beitrag über Jung-Stilling hinaus wäre jedoch dringend notwendig gewesen. Der bayerische Landesbischof Hermann Bezzel, der unabhängig arbeitende Evangelist Samuel Keller, der Publizist und bedeutende Leiter des Evangelischen Allianz-Hauses in Bad Blankenburg Ernst Modersohn sowie der geistliche Schriftsteller und theologische Lehrer der Basler Mission und der Pilgermission Erich Schick: nicht nur sie, aber gerade auch diese stark rezipierten christlichen Autoren haben über „Heimat“ geschrieben. Drei Textproben sollen die Relevanz dieser Texte verdeutlichen:
Das Leben als Reise von der irdischen zur ersehnten himmlischen Heimat ist vornehmlich Inhalt der evangelischen Sterbelieder wie in Paul Gerhardts „Ich bin ein Gast auf Erden / und hab hier keinen Stand; / der Himmel soll mir werden, / da ist mein Vaterland. / Hier reis’ ich bis zum Grabe, / dort in der ewgen Ruh / ist Gottes Gnadengabe, / die schließt all Arbeit zu. // Mein Heimat ist dort droben, da aller Engel Schar / den großen Herrscher loben …“ (EG 529, 1.7)
Ein im letzten Jahrhundert sehr bekanntes Beispiel war das Gedicht „Heimat für Heimatlose“ des prominenten konservativen Berliner Theologen Rudolf Kögel. Es ist das Motto des historischen Friedhofs der Heimatlosen, der an den Küsten von Sylt tot aufgefundenen schiffbrüchigen Seefahrer. Der Friedhof wurde 1854 in Westerland angelegt. Die letzte Strophe des Gedichtes lautet: Wir sind ein Volk vom Strom der Zeit / gespült zum Erdeneiland, / voll Unfall und voll Herzeleid / bis heim uns holt der Heiland. / Das Vaterhaus ist immer nah, / wie wechselnd auch die Lose. / Es ist das Kreuz von Golgatha / Heimat für Heimatlose.
Eindrücklich hat sich der ebenfalls im 20. Jahrhundert viel gelesene Neuendettelsauer Diakonissenhaus-Leiter und spätere bayerische Landesbischof Hermann Bezzel zum Heimweh geäußert: „Heimweh ist ein eigentümlich Ding. Warum bekommt man’s mehr, je älter man wird? Der Mensch weiß, sein Vaterhaus hat sich längst geschlossen, das Heimatdorf hat auch ein anderes Gesicht bekommen – wo Bäume standen, sind jetzt Äcker, und wo Äcker waren, sind jetzt Wiesen, und die Gegend hat sich auch verändert. Er geht durchs Dorf, niemand kennt ihn mehr; er kommt zur Kirche, niemand kennt er mehr; ein neues Geschlecht ist herangewachsen, nur er, meint er, sei der alte geblieben. Er besucht den Gottesacker, da sind die, mit denen er als Kind spielte und die ihm als Kind manche Freude bereiteten, die Ehrenfesten, die ihm einst die erste Güte erzeigten, der alte Lehrer, der alte Pfarrherr. Es ist alles vorüber und das Heimweh ist gewaltig.
Je älter er wird, desto heimwehkränker wird der Mensch. Wenn er in eiliger Fahrt den Kirchturm seiner Heimat sieht, meint er, hier wäre er glücklich. Tor, immer wo du nicht bist, ist dein Glück! Aber diese Heimwehkrankheit, die den alternden Menschen mit einer unentrinnbaren Gewalt umfasst, [..] weist über sich hinaus: ‚weit über Berg und Tale, weit über blaches Feld / schwingt es sich über alle und eilt aus dieser Welt.‘ Ich merke ja, dass diese Heimwehkrankheit vorübergeht an der Erdenheimat, die mir längst sich schloss, um auf das Jerusalem hinauszuweisen, das droben ist. Je älter der Mensch wird, desto leerer wird ihm die Erde, desto unbekannter seine Umgebung. [..] Aber umso größer wird sein Verlangen: da will ich ewig wohnen und nicht nur als ein Gast! Das ist es, man wird heimatärmer auf der Erde, damit die Sterne mehr leuchten. [..] Gott der Herr ist Sonne und Schild und der Herr Christus ist der Morgenstern, der nimmermehr untergeht! Lasst uns des Herrn Tod verkündigen, bis er kommt!“ (Beichtreden, Neuendettelsau, 2. Aufl. 1925, 53f).
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Schriesheim