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1 Einleitung
Der 2013 gegründeten „Alternative für Deutschland“ (AfD) gelang es – anders als früheren Rechtsaußenparteien wie der NPD, DVU oder den Republikanern – in rasanter Geschwindigkeit in alle Landesparlamente, den Bundestag und das Europäische Parlament einzuziehen. Wenngleich die etablierten Parteien bereits viele Erfahrungen mit der AfD in den Parlamenten sammeln konnten, ist die Frage des „richtigen“ Umgangs mit ihr bis heute Gegenstand heftiger Debatten. Vom parlamentarischen Verhalten der anderen Parteien hängt auch ab, welchen Einfluss die AfD dort direkt und indirekt ausüben kann. Zum Beispiel können sie die AfD strikt ausgrenzen („cordon sanitaire“) oder einzelne Positionen und Rhetoriken von ihr übernehmen und dadurch zu deren Normalisierung beitragen. Jene Handlungsweisen erhalten spätestens vor dem Hintergrund der populistischen Anti-Establishment-Rhetorik sowie der zunehmenden Radikalisierung der AfD enorme Relevanz. So inszeniert sich die Partei zwar gerne als die „wahre Stimme“ des Volkes, ließ jedoch von Anfang an und in der jüngsten Vergangenheit immer stärker Zweifel an ihrem Verhältnis zur liberalen Demokratie aufkommen. Neben demokratietheoretischen Aspekten ist der Umgang mit der AfD für die etablierten Parteien auch von parteistrategischer Bedeutung, da sie alle – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß – Stimmen an die neue Herausfordererpartei verlieren. Durch die veränderten Machtverhältnisse wird vielerorts die parlamentarische Mehrheitsbildung entlang der tradierten Lagerzugehörigkeiten erheblich erschwert.
In der politikwissenschaftlichen Debatte wurde das Verhalten der AfD in den Parlamenten und der Umgang der etablierten Parteien mit ihr bislang nur vereinzelt beleuchtet. Das kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass es sich um einen vergleichsweise jungen Untersuchungsgegenstand handelt. So gelang der AfD erst 2017, das heißt im zweiten Anlauf, der Sprung über die Fünfprozenthürde, um in den Bundestag einzuziehen. Zum anderen befindet sich die AfD bis heute in einem ständigen Wandel, was nicht nur ihre ideologische Verortung enorm erschwert, sondern auch den Umgang mit ihr zu einer komplexen Herausforderung macht.
Der vorliegende Literaturbericht gibt einen Überblick über zentrale wissenschaftliche Arbeiten zu den theoretischen Handlungsoptionen gegenüber populistischen rechtsradikalen Parteien sowie ihren Implikationen (Kap. 2). Zudem wird der Forschungsstand zur ideologischen Verortung und zum Verhalten der AfD in den Parlamenten dargestellt (Abschn. 3.1), da sich das Verhalten der etablierten Parteien gegenüber der AfD ohne diesem nicht verstehen lässt (Abschn. 3.2). Wie die Parteien mit der AfD umgehen, hat wiederum Einfluss auf deren direkte und indirekte Einflussmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Parlamente (Abschn. 3.3). Schließlich werden die Erkenntnisse und Forschungslücken zusammengefasst und zukünftige Forschungsperspektiven aufzeigt (Kap. 4).
2 Theoretische Parteireaktionen und der Einfluss der radikalen Rechten
Obwohl die Populismusforschung seit Ende der Neunzigerjahre einen enormen Aufschwung erfahren hat, kommt die Forschung zum (parlamentarischen) Parteienverhalten gegenüber jenen Akteuren erst langsam in Gang. So versuchte die Mehrzahl früherer Arbeiten vor allem den Wahlerfolg rechtsradikaler Parteien wie dem Front National, der FPÖ oder der Lega Nord zu erklären (s. etwa Betz 1994; Kitschelt 1997; Norris 2005). Bei der Frage, was solche Parteien eint, beziehen sich die meisten Studien heute auf die konzeptionelle Wegbereitung von Cas Mudde (s. etwa Arter 2010; Jungar und Jupskås 2014). Der niederländische Politikwissenschaftler versteht unter Populismus eine dünne Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische Gruppen – das „reine Volk“ und die „korrupte Elite“ – unterteilt ist und die geltend macht, dass Politik ein Ausdruck des allgemeinen „Volkswillens“ sein soll (Mudde 2004, S. 543 f.; s. auch Canovan 1981). Populismus ist folglich mehr als nur ein politischer Stil und kann an verschiedene „Hochideologien“ anknüpfen, etwa den Nationalismus oder Sozialismus. Die zentralen Kernelemente populistischer rechtsradikaler Parteien sind Nativismus, Autoritarismus und Populismus. Dabei umfasst Nativismus die Vorstellung, es gebe ein homogenes einheimisches „Volk“, das vor „fremden“ Personen und Ideen geschützt werden müsse, und Autoritarismus den Wunsch, dass die Gesellschaft entlang traditioneller Moralvorstellungen hierarchisch gegliedert werden müsse (Mudde 2007, S. 22 f.). Aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung der Merkmale ist die Formulierung „(populistische) radikale Rechte“ technisch besser geeignet als die des Rechtspopulismus (ebd., S. 26; s. auch Rydgren 2007, S. 246).
Wie mit diesen Parteien, die in vielen Parlamenten europäischer Länder und darüber hinaus zunehmend an Stimmen gewinnen, umgegangen werden kann und sollte, wurde bislang kaum systematisch aufgearbeitet. Frühe Studien unterschieden nur zwischen sehr wenigen Handlungsoptionen und führten diese sowie ihre Implikationen nicht genauer aus. So differenzierte Decker (2000, S. 333 f.) zwischen Anpassung und Abgrenzung und bezog sich dabei auf die Parteireaktionen auf der formalen Ebene (Organisation und Auftreten der Parteien) und der politikinhaltlichen Ebene (Themen und bereitgestellte Lösungen). Ähnlich unterschied Minkenberg (2001, S. 5) zwischen demarcation und confrontation sowie co-optation und incorporation und verwies dabei auf das Verhalten der Parteien im öffentlichen Diskurs (agenda-setting level) und auf der Ebene der Politikgestaltung (policy-making level, z. B. in Parlamenten und Regierungen).
Dagegen legten Downs (2001) und Meguid (2005) erste differenziertere Typologien vor, die bis heute vielfach rezipiert werden. Dabei unterschied Downs (2001, S. 26 ff.) zwischen den beiden Polen engage und disengage und identifizierte innerhalb dieser weitere Handlungsoptionen. Innerhalb der engage-Strategien unterschied er zwischen co-opt policies und collaborate, wobei letztere die legislative, exekutive und elektorale Arena betreffen kann. Unter disengage-Strategien fasste er die Möglichkeiten ignore und isolate, wobei unter letztere legal restrictions und blocking coalitions fallen. Speziell zum Umgang mit den inhaltlichen Forderungen neuer (nicht unbedingt rechtsradikaler) Herausfordererparteien erlangte vor allem die Typologie von Meguid (2005) an Popularität. Sie unterschied zwischen dismissive, adversarial und accommodative strategies und arbeitete verschiedene Szenarien heraus, wann eine etablierte Partei welche konkrete Handlungsoption einnimmt (ebd., S. 349). In ähnlicher Weise differenzierten Bale et al. (2010, S. 412 ff.) zwischen hold, defuse und adopt strategies.
Speziell für die parlamentarische Arena arbeitete Heinze (2020) eine Typologie verschiedener Handlungsoptionen auf der formalen und inhaltlichen Ebene aus. Dabei bezieht sich die formale Ebene auf politische Strukturen und Prozesse (z. B. formale und informelle Regelungen zur Machtverteilung und Ämtervergabe, Suche nach legislativen Mehrheiten), während sich die inhaltliche Ebene auf politische Inhalte fokussiert (z. B. Inhalt und Rhetorik der parlamentarischen Initiativen und Parlamentsdebatten inklusive Zwischenrufe und Applaus). Auf der formalen Ebene stellen die strikte Ausgrenzung und die Regierungszusammenarbeit die beiden Extrempole der Handlungsoptionen dar. Zwischen ihnen existieren als Variationsmöglichkeiten die vereinzelte Duldung, die legislative Zusammenarbeit und die Minderheitsregierung (als eine Form der indirekten Regierungszusammenarbeit; s. auch Grabow und Hartleb 2013, S. 40). Auf der inhaltlichen Ebene stellen Ignorieren und die Übernahme von Positionen die Extrempole dar, zwischen denen das Dämonisieren, Entschärfen (d. h. der Versuch, die Bedeutung eines Themas zu senken; s. auch Meguid 2005, S. 349; Bale et al. 2010, S. 413) und Debattieren liegen.
Wie etablierte Parteien mit rechtsradikalen Akteuren und ihren Positionen umgehen, bestimmt maßgeblich, welchen direkten oder indirekten Einfluss diese auf das Parteiensystem, das Regierungshandeln und schließlich das gesamte politische System ausüben können. So argumentierte Art (2007) schon früh, dass das Verhalten der bestehenden politischen Parteien, Medienakteure und der Zivilgesellschaft gegenüber (neuen) rechtsradikalen Parteien einen Einfluss darauf nimmt, wie legitim deren Positionen wahrgenommen werden und ob sie eine stabile Parteiorganisation und Wählerschaft aufbauen können. Hier spielt das Timing eine ganz zentrale Rolle: Ist eine rechtsradikale Partei erst im Parteiensystem etabliert, kann der Versuch ihrer „Bekämpfung“ kontraproduktiv sein (ebd., S. 332; s. auch Heinze 2018). Viele Wissenschaftler fokussieren sich in ihren Arbeiten auf die Übernahme rechtsradikaler Positionen und Rhetoriken durch die etablierten Parteien (s. etwa Meguid 2005; Bale et al. 2010; Han 2015). Mudde (2019) betrachtet das „Mainstreaming“ und die Normalisierung von Rechtsaußenakteuren und ihren ideologischen Positionen sogar als die zentrale Bedrohung für liberale Demokratien. So können diese beispielsweise indirekten Einfluss auf den politischen Wettbewerb ausüben, indem sich öffentliche Diskurse „nach rechts“ verschieben und auch bei anderen etablierten Parteien immigrationskritische Forderungen und Rhetoriken laut werden („das wird man wohl noch sagen dürfen“).
3 Forschungsstand: Die AfD in den Parlamenten
Wie die etablierten Parteien mit der AfD – innerhalb und außerhalb der Parlamente – umgehen, wurde bislang nur wenig systematisch untersucht, was unter anderem auf die Aktualität des Untersuchungsgegenstandes zurückzuführen ist. Nachdem die AfD jedoch in immer mehr Landesparlamente, den Bundestag und das Europäische Parlament einzog, ist ihre ideologische und personelle Ausrichtung mittlerweile relativ gut erforscht (wenngleich sie sich freilich im stetigen Wandel befindet). Auch zur Arbeitsweise der AfD in den Parlamenten verschaffen einige Arbeiten bereits Klarheit. Dagegen existiert bislang nur wenig Forschung zum Umgang der etablierten Parteien mit der AfD – und somit auch ihrem Einfluss in den Parlamenten. Jene Forschungsstränge hängen eng miteinander zusammen und werden im Folgenden genauer beleuchtet.
3.1 Ideologische Ausrichtung und parlamentarische Arbeitsweise der AfD
Zur ideologischen und personellen Entwicklung der AfD existieren bereits zahlreiche Studien, die die Partei mit der Zeit immer eindeutiger als rechtsradikal (bzw. „rechtspopulistisch“) einschätzten. Die ideologische Verortung hängt dabei stets von der Definition von Rechtspopulismus, der methodischen Herangehensweise, der Datengrundlage und dem Untersuchungszeitraum ab.
Einen frühen, systematischen Überblick über die Debatte um die Einordnung der AfD lieferte Lewandowsky (2015). Er unterschied dabei zwischen zwei Strängen: strenger empirisch ausgerichteten und normativ angeleiteten Arbeiten (ebd., S. 123 f.). Beide schätzten die AfD aufgrund ihrer thematischen Fokussierung im ersten Jahr ihrer Gründung zwar unstrittig als euroskeptisch ein, aber nicht unbedingt als rechtspopulistisch. So kamen frühe Programm- und Personalanalysen zu sehr vorsichtigen Urteilen und sahen zwar „thematische und stilistische Ähnlichkeiten der AfD mit rechtspopulistischen Parteien in Europa […], aber keine wirkliche Übereinstimmung“ (Franzmann 2014, S. 122). Zu ähnlichen Einschätzungen gelangten auch Schmitt-Beck (2014), Arzheimer (2015) und Niedermayer (2015). Dagegen verorteten einige normativ angelegte Arbeiten, die sich unter anderem auf Aussagen einzelner AfD-Mitglieder stützten, die Partei schon früh in den Kontext der Neuen Rechten (vgl. Lewandowsky 2015, S. 124). Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten Häuslers (2013, 2014), aber auch Gebhardts (2013), Oppenhäusers (2013) und Bebnowskis (2015).
Schon bald erweiterte die AfD ihre Agenda um soziokulturelle Themen und rückte zunehmend vom Euro-Thema ab, weshalb sie auch in wissenschaftlichen Analysen in einer zunehmenden Klarheit als rechtsradikal bzw. rechtspopulistisch eingeschätzt wurde (Berbuir et al. 2015; Ceyhan 2016; Decker 2016; Lewandowsky et al. 2016; Rosenfelder 2017; Lees 2018). Zudem entfachte die Frage der ideologischen Neuausrichtung der AfD einen innerparteilichen Richtungsstreit und zahlreiche Partei- sowie Fraktionsaustritte, die die parlamentarische Arbeit der Partei bis heute beeinflussen. So spalteten sich zwischenzeitlich etwa die AfD-Fraktionen in Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg (Hensel et al. 2017, S. 27 f.; Niedermayer 2018, S. 901 ff.). 2019/2020 verloren die AfD-Fraktionen in Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ihren Fraktionsstatus, nachdem ihr einzelne Abgeordnete den Rücken zugekehrt hatten. In der wissenschaftlichen Debatte wird die AfD zwar nach wie vor als „mehrheitlich […] demokratische Partei“ (Thieme 2019) eingeschätzt, doch werden die Verbindung einzelner Mitglieder zum Rechtsextremismus immer häufiger thematisiert (Pfahl-Traughber 2019). Damit einhergehend begleiten die AfD immer wieder Diskussionen um eine mögliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz und diverse Ausschlussverfahren einzelner Akteure (z. B. Björn Höcke, Andreas Kalbitz).
Speziell zum Profil der AfD-Abgeordneten existieren ebenfalls bereits aufschlussreiche Studien. Sie haben vor allem die Biografien und parlamentarischen Vorerfahrungen der Akteure unter die Lupe genommen, aber auch ihre Verbindungen zu rechtsextremen Gruppierungen und Netzwerken (Bebnowski 2015; Hensel et al. 2017; Butterwegge et al. 2018). Für die Landesebene sind hier vor allem die Arbeiten von Rütters (2017) und Schroeder et al. (2017) zu nennen. Beide Studien nehmen die AfD-Fraktionen hinsichtlich ihrer Altersstruktur, Bildungsabschlüsse, Geschlechterzusammensetzung, früheren Berufstätigkeit und politischen sowie parlamentarischen Erfahrungen unter die Lupe. Nach der Analyse dieser Basisdaten kommen sie zu dem ähnlichen Urteil, dass die AfD im Parlament nur „bedingt politik-, parlaments- und demokratiefähig“ sei (Rütters 2017, S. 23; s. auch Schroeder et al. 2017, S. 24). Zwar gebe es neben den vielen Parlamentsneulingen auch eine kleine Gruppe von Personen, die über Erfahrungen in leitenden Funktionen und Intellektualität verfügen (z. B. Jörg Meuthen, Alexander Gauland). Jedoch erweckten diese „nicht den Eindruck, im Rahmen der AfD zu einem konstruktiven und problemorientierten politisch-parlamentarischen Engagement willens zu sein“ (Rütters 2017, S. 24). In eine ähnliche Richtung deutet auch die Studie von Hensel et al. (2017), in der die maximal kommunalpolitischen Vorerfahrungen von AfD-Abgeordneten in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, nicht hingegen in Baden-Württemberg thematisiert werden. Bis zum Einzug der AfD in den Bundestag hatte sich an dieser Situation wenig geändert: Auf der Grundlage der Sozialprofile der Abgeordneten stellte Rütters (2019, S. 79) ein weiteres Mal fest, dass die meisten AfD-Abgeordneten mit geringen politischen und parlamentarischen Vorerfahrungen in den Bundestag einzogen. Im Gegensatz dazu unterschied sich die Altersstruktur und das Bildungsniveau der AfD-Abgeordneten im Bundestag nur unwesentlich vom Durchschnitt aller Parlamentsmitglieder (ebd., S. 63, 66).
Neben den Sozialprofilen einzelner Abgeordneter wurden auch die parlamentarischen Aktivitäten der AfD-Landtagsfraktionen bereits mehrfach untersucht. So stellen Schroeder et al. (2017, S. 34) fest, dass diese Kleine Anfragen (als das einfachste Instrument der Regierungskontrolle) „sehr rege“ nutzen, wobei sie geringfügige Unterschiede in der Nutzungshäufigkeit zwischen den AfD-Fraktionen finden. Generell deutet vieles auf einen Zusammenhang zwischen dem Alter der Fraktion und der Nutzung parlamentarischer Instrumente hin („learning on the job“). Zudem spielt hier auch die hohe Aktivität einzelner Abgeordneter eine große Rolle (Hensel et al. 2017, S. 70). Voraussetzungsvollere Kontrollinstrumente wie Große Anfragen, Anträge und Aktuelle Debatten nutzt die AfD hingegen eher zurückhaltend (Schroeder et al. 2017, S. 36). Auch inhaltlich können Schroeder et al. (ebd., S. 38) schon früh eine Schwerpunktsetzung auf die Themen Sicherheit und Ordnung sowie Integration, Migration und Asyl in der parlamentarischen Arbeit der AfD-Fraktionen bestätigen. Dagegen thematisieren die AfD-Fraktionen Infrastruktur und Bildung deutlich seltener als der Durchschnitt. Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Schickert (2017), die die parlamentarische Arbeit der thüringischen AfD-Fraktion im ersten Jahr untersuchte, sowie Hensel et al. (2017) für die Fälle Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Auch Hafeneger et al. (2018) fokussieren sich auf die AfD-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag sowie in den kommunalen Parlamenten von Hessen und Niedersachsen. In letzteren brachte die AfD ebenfalls viele Anträge und Anfragen zum Thema Flucht und Asyl ein, doch spielten auch andere Themen eine Rolle (z. B. Kommunalentwicklung, Wohnen und Verkehr). Neben dieser Studie werden die parlamentarischen Aktivitäten der AfD auf kommunaler Ebene bislang nur sehr selten in den Blick genommen (für Sachsen s. etwa Gorskih et al. 2016).
Den AfD-Landtagsfraktionen diagnostizieren Schroeder et al. (2017, S. 40) „große Mängel“ in ihren Arbeitsroutinen. Zwar benutzten diese nach einer „gewissen Eingewöhnungsphase“, wie sie für parlamentarische Neulinge nicht unüblich ist, parlamentarische Instrumente (v. a. Kleine Anfragen) in ähnlichem Ausmaß wie die anderen Oppositionsparteien. Dennoch verlief die parlamentarische Professionalisierung schleppend. Zum Beispiel blieben in Baden-Württemberg größere Veranstaltungen, etwa zur Vorstellung der parlamentarischen Arbeit, zunächst völlig aus (Hensel et al. 2017, S. 30). Darüber hinaus nutzten die AfD-Fraktionen komplexere Instrumente wie Große Anfragen oder Anträge, für die eine höhere inhaltliche Kompetenz notwendig ist, äußerst selten (Schroeder et al. 2017, S. 40). Ihre mangelhaften Sachkenntnisse äußerten sich auch in Beratungen in den Ausschüssen, ihren weitgehend oberflächlichen Änderungsanträgen und der Auswahl der Ausschussvorsitze. Jene Kompetenzgefälle gehen in den Augen von Schroeder et al. (ebd., S. 41) weit über die üblichen „Anfängerfehler“ hinaus und lassen ein mangelhaftes Interesse zumindest einiger AfD-Abgeordneter an einer parlamentarischen Professionalisierung vermuten.
In der Folge unterscheiden Schroeder et al. (ebd., S. 48) zwischen „eher parlamentsorientierten und eher ‚bewegungsorientierten‘ Fraktionen“. Erstere befürworten eine pragmatischere Rolle im Parlament und versuchen, sich durch Sacharbeit, einen professionellen Fraktionsapparat und argumentative Überzeugungsarbeit einen dauerhaften Platz im Parteiensystem und ggf. auch eine zukünftige Regierungsbeteiligung zu erkämpfen (ebd., S. 26 f.). Dagegen grenzen sich „bewegungsorientierte“ Fraktionen vom Parlament ab, sehen sich als Sprachrohr rechter Vorfeldorganisationen und versuchen, die eigenen Anhänger auf der Straße und insbesondere im Netz zu mobilisieren (Schroeder et al. 2018, S. 96). Folglich geht es ihnen eher um „Erpressungs-“ als „Koalitionspotential“, das heißt um eine indirekte Beeinflussung des Parteienwettbewerbs (ebd.; s. auch Sartori 1976). Dem bewegungsorientierten Idealtyp kommt die thüringische AfD-Fraktion um Björn Höcke am nächsten, doch fokussierte sich auch die sachsen-anhaltische AfD-Fraktion von Anfang an stark auf ihre außerparlamentarische Opposition (Schroeder et al. 2018, S. 96; s. auch Hensel et al. 2017, S. 64). Während sich parlaments- und bewegungsorientierte AfD-Landtagsfraktionen 2017 noch etwa die Waage hielten (Schroeder et al. 2017, S. 57), setzten sich mit der Zeit eher die bewegungsorientierten Akteure durch (Schroeder und Weßels 2020, S. 22). Bis heute stellen jedoch die Hälfte der AfD-Fraktionen Mischtypen mit Vertretern beider Richtungen und entsprechenden Kooperationsnetzwerken dar (ebd.).
Dazu passen auch andere Verhaltensweisen der AfD-Fraktionen, die über die Jahre hinweg immer wieder beobachtbar waren. Schon früh fielen einige AfD-Abgeordnete durch eine starke symbolische Inszenierung statt einer wirklichen Thematisierung oder Problemlösung auf. Zum Beispiel erschien die AfD-Abgeordnete Wiebke Muhsal im Thüringer Landtag im Niqab, um auf einen Gesetzentwurf zur Vollverschleierung in der Öffentlichkeit hinzuweisen (Schroeder et al. 2017, S. 41). In Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Brandenburg zogen die AfD-Fraktionen unter viel Tumult geschlossen aus Plenarsitzungen aus (ebd.; s. auch Hensel et al. 2017, S. 59). Mit der Zeit wurde immer deutlicher, dass die AfD mit gezielten Provokationen arbeitet und das Parlament als „Bühne“ nutzt, um sich vor den eigenen Anhängern als „Opfer“ der sie ausgrenzenden „Altparteien“ zu inszenieren und ihre mediale Aufmerksamkeit zu steigern (Hensel et al. 2017, S. 72; Schroeder et al. 2018, S. 99; Heinze 2020, S. 198). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch verstehen, warum die AfD kaum in den (meist nicht öffentlich tagenden) Ausschüssen mitarbeitet oder gar nicht anwesend ist, jedoch im Plenarsaal wortgewaltig auftritt (Schroeder et al. 2018, S. 99; Heinze 2020, S. 201 f.). Mit harscher Rhetorik, Beleidigungen und Tabubrüchen versucht sie dort regelmäßig, Debatten zu ihren Gunsten zu drehen und mithilfe entsprechender Gegenreaktionen hochzuschaukeln. Mit der Zeit verstanden die etablierten Parteien, dass die parlamentarische Arbeit der AfD ein „Dreiklang“ aus gezielten Provokationen, dem Zurückrudern bzw. Relativieren und schließlich dem Profitieren von der medialen Berichterstattung ist (Heinze 2020, S. 205). Dies wurde auch durch das 2016 geleakte Strategiepapier der AfD deutlich, in dem es unter anderem heißt, die AfD müsse „ganz bewusst und ganz gezielt immer wieder politisch inkorrekt sein, zu klaren Worten greifen und auch vor sorgfältig geplanten Provokationen nicht zurückschrecken“ (AfD 2016, S. 10 f.).
Einer besonderen Bedeutung für die parlamentarische Arbeit und Mobilisierung der AfD kommen den neuen sozialen Medien und dem Internet zu. In diesen inszenieren sich die AfD-Abgeordneten als die „einzigen Anwälte des Volkes, die vorgeben, unermüdlich darum zu kämpfen, dass sich die etablierten Mächte nicht weiter an den Interessen des Volkes vergehen“ (Schroeder et al. 2017, S. 44; s. auch Hensel et al. 2017, S. 71). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, warum die AfD parlamentarische Debatten immer wieder unter Heranziehung einer harschen Rhetorik und anderen Provokationen hochschaukelt: Das so entstandene Material nutzt sie ganz gezielt und selektiv, um es in den eigenen sozialen Medien weiterzuverbreiten und sich dort als „Opfer“ zu inszenieren (Heinze 2020, S. 203). Zugleich versucht sie sich mithilfe von Vereinfachung und Priorisierung vor ihrer eigenen Anhängerschaft als „Kümmerer“ darzustellen (Schroeder et al. 2018, S. 98). Diese Kommunikationsstrategie traf schnell auf fruchtbaren Boden: Bereits im Frühjahr 2017 waren viele AfD-Fraktionen die reichweitenstärksten auf Facebook oder Twitter. Zum damaligen Zeitpunkt erreichte etwa die sächsische AfD-Fraktion über viermal so viele Likes auf Facebook wie die CDU; in Brandenburg übertraf die AfD die SPD sogar um ein Achtfaches (Schroeder et al. 2017, S. 45). Da die AfD-Fraktionen jedoch nicht nur über die üblichen sozialen Netzwerke wie Facebook, sondern auch über Blogs, Foren und Online-Zeitungen umfassend und relativ abgeschottet mit ihrer Anhängerschaft vernetzt sind (s. auch Brunner und Ebitsch 2017), sprechen Schroeder et al. (2018, S. 100 f.) in diesem Zusammenhang lieber von „Online-Medien“ als sozialen Netzwerken.
Im Bundestag, wo die AfD seit 2017 vertreten ist, legte die Fraktion ganz ähnliche Verhaltensmuster und Arbeitsroutinen wie zuvor in den Landesparlamenten an den Tag. Auf der einen Seite versucht sie dort, sich durch ihre parlamentarische Arbeit (z. B. das Einbringen von Anträgen und das Stellen von Kleinen Anfragen) als „normale“ parlamentarische Kraft darzustellen (Rensmann 2018, S. 59). Auf der anderen Seite zeigte sie wenig Interesse an der aktiven Ausschussarbeit oder der tatsächlichen Politikgestaltung. Stattdessen arbeitet sie auch auf Bundesebene mit gezielten Provokationen und versucht unter Heranziehung einer aggressiven, immigrationsfeindlichen Rhetorik, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben und sich selbst als „Opfer“ zu inszenieren (ebd.). Thematisch fokussieren sich die parlamentarischen Initiativen der AfD-Fraktion im Bundestag weiterhin auf die Themen Migration und Asyl, wenngleich sie ihr Themenspektrum spürbar erweitern möchte (z. B. um soziale Fragen) (Ruhose 2019, S. 4; s. auch Butterwegge et al. 2018).
Schließlich spielen Social-Media-Aktivitäten auch für die Arbeit der AfD-Bundestagsfraktion eine zentrale Rolle. Wie bereits von der Landesebene bekannt, versuchten die Abgeordneten dort von Anfang an, sich als die einzig wahren Vertreter des „Volkes“ zu inszenieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich zum Beispiel verstehen, warum der AfD-Abgeordnete Jürgen Pohl zum Auftakt der Arbeit im Bundestag ein Bild twitterte, das volle Abgeordnetenbänke der AfD und sich langsam füllende Reihen der anderen Fraktionen abbildete – jedoch hatte Pohl das Bild deutlich vor Sitzungsbeginn aufgenommen (Ruhose 2019, S. 3). Spätere Parlamentsdebatten versuchten die Abgeordneten – wie zuvor auf der Landesebene gesehen – gezielt hochzuschaukeln, etwa durch die repetitive Nutzung von Zwischenfragen oder völkisches und rechtsextremes Vokabular (ebd., S. 5). Das auf diese Weise entstandene Material nutzt die AfD selektiv in ihren eigenen Kommunikationskanälen, die sie zudem stark ausgebaut hat (s. etwa AfD-TV, Blogs/Nachrichtenportale, WhatsApp-Gruppen) (ebd., S. 15). Bei der Charakterisierung der virtuellen Räume, wie sie auch die AfD bespielt, sind vor allem zwei Effekte von besonderer Relevanz: Filterblasen und Echokammern (Butterwegge et al. 2018, S. 204 f.). Darüber hinaus setzt die Partei für Wahlkampfzwecke auch Social Bots ein, doch ist deren politischer Einfluss in Deutschland bislang vergleichsweise gering (ebd., S. 206).
3.2 Umgang der etablierten Parteien mit der AfD in den Parlamenten
Wie genau die etablierten Parteien mit der AfD und ihrem spezifischen Verhalten in den Parlamenten umgehen, wurde bislang nur selten politikwissenschaftlich analysiert. Um zu einem umfassenden Verständnis dessen zu gelangen, ist es erforderlich, das Verhalten der deutschen Parteien in seiner Komplexität zu begreifen. So ist es nicht nur die AfD selbst, die bis heute sehr heterogen auftritt und deren ideologische und personelle Entwicklung bislang nicht abgeschlossen ist. Generell wird das Parteienverhalten in Deutschland von verschiedenen Kontextfaktoren geprägt, etwa vom föderalen Staatsaufbau (Detterbeck 2010). So geben die Bundesparteien ihren Schwesterparteien auf der Landesebene zentrale inhaltliche und strategische Richtlinien vor, so auch zum Umgang mit neuen Parteien (Heinze 2020, S. 94). Zugleich sind die Landesparteien in den letzten Jahren immer souveräner geworden und haben etwa immer häufiger den Koalitionswünschen ihrer Bundespartei getrotzt (Buzogány und Kropp 2013, S. 270 f.). Sie gelten daher als „Labore“: Bewähren sich neue Umgangsweisen auf der Landesebene, besteht die Möglichkeit auf eine Übertragung auf die Bundesebene. Ferner werden die Handlungsoptionen deutscher Parteien von institutionellen Faktoren beeinflusst, etwa von der in der jeweiligen parlamentarischen Geschäftsordnung geregelten Organisation und Arbeitsweise der Landesparlamente (z. B. Anzahl und Wahl von Vizepräsidenten, Zusammensetzung der Ausschüsse) (Leunig 2007; Mielke und Reutter 2012; Heinze 2020, S. 131–134).
Wie die etablierten Parteien im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die AfD in den Landesparlamenten reagieren, verglichen als erste Schroeder et al. (2017). In ihrer Studie blicken sie – wenn auch vergleichsweise knapp – auf das Verhalten der Parteien bei der Besetzung von parlamentarischen Ämtern und Positionen, wobei sie zwischen den drei Reaktionsstrategien Ausgrenzen, Abgrenzen und Ignorieren differenzieren. Dabei stellen sie fest, dass die etablierten Parteien in einigen Landtagen versuchten, die „Bühne“ für die AfD durch veränderte institutionelle Rahmenbedingungen einzuschränken (ebd., S. 50). Zum Beispiel änderten die Parteien im rheinland-pfälzischen Landtag zu Beginn der Legislaturperiode das Zählverfahren zur Besetzung der Ausschüsse, sodass die AfD nur noch mit einem Abgeordneten pro Ausschuss vertreten war (ebd.). Auch im baden-württembergischen Landtag reduzierten die Parteien die Anzahl der Landtagsvizepräsidenten von zwei auf einen, doch mussten sie dafür nicht die Geschäftsordnung ändern, da rechtlich kein Anspruch auf den Posten eines Landtagsvizepräsidenten besteht (Heinze 2020, S. 155). Jene „Verfahrentricks“ wurden jedoch von verschiedenen Seiten kritisiert, da sich die AfD auf diese Weise als „Opfer“ inszenieren kann (Schroeder et al. 2018, S. 108; Heinze 2020, S. 156).
Bei der konkreten Besetzung von parlamentarischen Gremien und Ämtern erkannten die etablierten Parteien der AfD in den Landesparlamenten zwar nicht das generelle Recht ab, Kandidaten für diese vorzuschlagen, doch kam es immer wieder zu Konflikten (Schroeder et al. 2017, S. 50). Hier machten die etablierten Parteien die persönliche Eignung analog zur politischen Biografie zu einem zentralen Kriterium für ihre Wahlentscheidung, das heißt, sie unterschieden zwischen dem Benennungs- und dem Durchsetzungsrecht (ebd.). Zum Beispiel wurden bei der Besetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission (einem Landtagsgremium, das den Verfassungsschutz der Länder kontrolliert) in Brandenburg mehrfach AfD-Kandidaten aufgrund ihrer rechtsradikalen Vergangenheit abgelehnt (ebd., S. 50 f.). Auch später verweigerten die etablierten Parteien teilweise zweifelhaften AfD-Kandidaten ihre aktive Zustimmung und beriefen sich dabei auf ihr freies Mandat (Heinze 2020, S. 157). Teilweise folgten aus der temporären Nichtbesetzung parlamentarische Blockaden, zum Beispiel als der Richterwahlausschuss im Thüringer Landtag fünf Monate lang nicht ordnungsgemäß besetzt war und keine neuen Richter berufen werden konnten. Um diese Blockade zu beenden und sich nicht weiter „ins eigene Fleisch“ zu schneiden (d. h. abermals den Opfermythos der AfD zu bedienen), beendeten die Parteien diese Situation bald (ebd., S. 157 f.).
Ferner beobachteten Schroeder et al. (2017, S. 52) die Strategie des Ausgrenzens und Sanktionierens vor allem zu Beginn in den westdeutschen Landesparlamenten. Dort gaben Änderungen der Geschäftsordnungen der AfD ebenso die Möglichkeit, sich gegenüber der eigenen Anhängerschaft als „Opfer“ zu inszenieren, wie auch die offensiven Angriffe einzelner Abgeordneter der etablierten Parteien, die sich zum Beispiel wegen rassistischer Äußerungen von AfD-Abgeordneten erregten. Dagegen beobachteten Schroeder et al. (ebd.) die Strategie des Ignorierens nur temporär. So gab es in einigen Landtagen den Versuch der Regierungsfraktionen, Absprachen zu treffen, wonach bei Anträgen der AfD lediglich ein Abgeordneter dieser Fraktionen erwidern sollte (z. B. in Thüringen, Hamburg und Bremen; s. auch Heinze 2020, S. 241). In anderen Ländern (z. B. Brandenburg) kam es phasenweise zum „Schulterschuss“ der etablierten Parteien, die als Zeichen gegen fremdenfeindliche Äußerungen der AfD nur einen Abgeordneten für alle ans Rednerpult schickten, um Geschlossenheit zu signalisieren und der AfD keine „Bühne“ für provozierende Aktivitäten zu geben (Schroeder et al. 2017, S. 52; s. auch Heinze 2020, S. 242). In Mecklenburg-Vorpommern verfolgten die Parteien gegenüber der AfD keinen „Schweriner Weg“, das heißt keine gemeinsame, konsequente Frontenstellung, wie sie früher gegenüber der NPD angewandt wurde (Schroeder et al. 2017, S. 52). Die häufigste Vorgehensweise war laut Schroeder et al. „die Formel abgrenzen bei gleichzeitiger inhaltlicher Auseinandersetzung“ (ebd.). So betonten die etablierten Parteien immer wieder die Bedeutung, die AfD argumentativ herauszufordern. Dabei stehen sie jedoch vor dem Dilemma, dass sie die von der AfD besetzten Themen dieser nicht kampflos überlassen möchten und Angebote für drängende politische Fragen schaffen müssen, andererseits aber nicht „über jedes Stöckchen“ springen, das heißt sich nicht ständig von der AfD provozieren lassen dürfen (ebd., S. 53; s. auch Heinze 2020, S. 212). Im Laufe der Zeit haben die Parteien die Arbeits- und Funktionsweise der AfD-Fraktionen in den Parlamenten immer mehr verstanden und ihr Verhalten entsprechend angepasst.
Jene Lernprozesse werden in der Studie von Heinze (2020) zum Umgang mit der AfD in den Landesparlamenten besonders deutlich. In dieser erarbeitet sie verschiedene idealtypische Handlungsoptionen der etablierten Parteien auf der formalen und auf der inhaltlichen Ebene und führt die Varianz der Reaktionsweisen auf Unterschiede in der inhaltlichen Ausrichtung der Parteien, der parlamentarischen Konstellation, der Abhängigkeit von den Bundesparteien und den Erfahrungen mit früheren Herausfordererparteien im rechten und linken Spektrum zurück (v. a. Republikaner, DVU und NPD). Insgesamt stellt sie fest, dass sich der formale und inhaltliche Umgang der etablierten Parteien mit der AfD in den Landtagen mehrmals gewandelt hat, weshalb sie nicht von „Strategien“ (als rationale, erfolgsorientierte Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen; s. Raschke und Tils 2013, S. 127) spricht, sondern von sich mit der Zeit herausbildenden Handlungsmustern (Heinze 2020, S. 189). Während zu Beginn der Legislaturperioden häufig ein unkoordiniertes und intuitives Verhalten zu beobachten war, bildeten sich mit der Zeit klarere Umgangsweisen heraus (ebd., S. 240). Zum Beispiel brachten die etablierten Parteien in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zu Beginn der Legislaturperiode gemeinsame parlamentarische Initiativen mit der AfD ein, doch fand diese Praxis keine Wiederholung (ebd., S. 240 f.). Auch das Abstimmungsverhalten gegenüber AfD-Initiativen wurde immer stärker innerhalb der Fraktionen und Regierungskoalitionen vorab diskutiert, nachdem es teilweise sogar zu Koalitionskrisen geführt hatte (z. B. in Sachsen-Anhalt im Herbst 2017) (ebd., S. 241).
Inhaltlich setzten sich die etablierten Parteien in den Landesparlamenten ebenfalls mit der Zeit stärker mit AfD-Initiativen auseinander. Während in Thüringen und Rheinland-Pfalz zu Beginn der Legislaturperioden nur ein oder zwei Redner der Koalitionsfraktionen stellvertretend für alle zu AfD-Initiativen reagierten, hielten die thüringischen Fraktionen den AfD-Forderungen nach circa anderthalb Jahren stärker aktiv entgegen (ebd., S. 241). Zudem erarbeiteten die CDU-Fraktionen in Rheinland-Pfalz und Thüringen Alternativanträge, um sich aktiv von der AfD in der Opposition abzugrenzen (ebd., S. 242). Wenn die AfD „rote Linien“ überschritt und demokratische Grundprinzipien verletzte, agierten die etablierten Parteien mit einer zunehmenden Entschiedenheit gemeinsam, indem sie zusammen parlamentarische Initiativen erarbeiteten oder sich gegenseitig in Plenardebatten unterstützten (ebd.; s. auch Schroeder et al. 2017). In der Arbeit wird deutlich, dass es vor allem das parlamentarische Verhalten der AfD selbst ist, das den Umgang mit ihr geprägt hat. Umso mehr die etablierten Parteien begriffen, dass ihr eher an der gezielten Provokation und medialen Inszenierung als an der konstruktiven Beteiligung am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess gelegen ist, desto mehr passten sie ihr Verhalten an, etwa, indem sie auf Redebeiträge verzichteten und der AfD somit die „Bühne“ verwehrten (Heinze 2020, S. 242 f.).
Als die AfD 2017 im zweiten Anlauf in den Bundestag einzog, hatten die etablierten Parteien bereits in 13 von 16 Landesparlamenten direkte Erfahrungen im Umgang mit ihr sammeln können. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl konnten sie ihren Parteikollegen auf der Bundesebene „Tipps“ im Umgang mit der AfD geben, etwa im Rahmen der Fraktionsvorsitzendenkonferenzen (ebd., S. 224 f.). Diesen Erfahrungsaustausch spiegeln auch einige veröffentlichte Strategie- bzw. Positionspapiere der Fraktionen wider (z. B. der ostdeutschen Grünen-Fraktionen oder das Papier „Abgrenzen statt Ausgrenzen“ der sachsen-anhaltischen CDU-Fraktion). Für die SPD legte Ruhose (2017), der Geschäftsführer der rheinland-pfälzischen SPD-Fraktion, ein differenziertes Diskussionspapier mit 15 Handlungsempfehlungen zum Umgang mit der AfD vor. Wenngleich die Parteien zu diesem Zeitpunkt bereits wussten, wie die AfD im Parlament arbeitet, blieb der Umgang mit ihr ein schwieriger Balanceakt. Zwar beschlossen sie, keine Absprachen mit der AfD zu treffen und keine gemeinsamen Initiativen zu verfolgen (Ruhose 2019, S. 8) und tatsächlich erreichte bis zum Oktober 2020 keine AfD-Initiative eine Mehrheit (Deutscher Bundestag 2020b). Dennoch kam es bei einzelnen Sach- und Personalfragen immer wieder zu Diskussionen. So verfehlten bis zum Mai 2020 alle fünf Kandidaten der AfD die erforderliche Mehrheit für das Amt des Vizepräsidenten, weshalb dieses weiterhin vakant blieb (Deutscher Bundestag 2020a). Dabei handelte es sich jedoch um keine pauschale Ausgrenzung, sondern um eine fallweise Ablehnung einzelner Kandidaten, die in den Augen der etablierten Parteien fachlich bzw. persönlich nicht geeignet waren. Dies verdeutlicht auch die Wahl dreier AfD-Kandidaten zu den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz sowie des Tourismusausschusses – wenn auch mit unterschiedlichen Zustimmungsraten (Niedermayer 2018, S. 907). In der Vergangenheit hatten die Parteien bereits gelernt, dass eine prinzipielle Ausgrenzung der AfD deren populistischer Anti-Establishment-Rhetorik in die Hände spielen kann.
3.3 Einfluss der AfD in den Parlamenten
Obwohl die AfD bisher nahezu ausnahmslos ausgegrenzt wurde, nimmt sie seit ihrem Einzug in die Parlamente direkten und indirekten Einfluss auf die parlamentarische Arbeit. So kommen ihr durch die parlamentarische Vertretung in allen Landtagen, im Bundestag und im Europäischen Parlament zunächst finanzielle und personelle Ressourcen zu, mit denen sie etwa Personal einstellen, Bürogebäude ausstatten und Veranstaltungen finanzieren kann (Heinze 2020, S. 45). So kann allein die Bundestagsfraktion bei 92 Abgeordneten problemlos 150 bis 200 Mitarbeiter im politisch-operativen Bereich beschäftigen (zählt man organisatorische, administrative und technische Stellen mit, sind es über 500; Butterwegge et al. 2018, S. 195 f.). In diesem Kontext gehört die AfD schon jetzt zum „wichtigsten Jobvermittler und bedeutendsten Arbeitsgeber“ für viele Akteure im Rechtsaußenspektrum (ebd., S. 196). Tendenziell erleichtern diese Ressourcen den Aufbau stabiler und professioneller Parteiorganisationen. Darüber hinaus wurde bereits nachgewiesen, dass der parlamentarische Einzug rechtsradikaler Parteien zu deren Legitimierung beiträgt, aber auch zu einer höheren Polarisierung der Wählerschaft (Bischof und Wagner 2019).
Da sich die AfD bislang überall in der Oppositionsrolle befindet, ist ihr direkter Einfluss auf die Politikgestaltung bisher sehr gering. Zu ihren klassischen Funktionen als Oppositionsfraktion gehören vor allem die Kontrolle der amtierenden Regierung sowie das Angebot inhaltlicher und personeller Alternativen und nicht – wie bei regierungstragenden Mehrheitsfraktionen der Fall – die Garantie einer handlungsfähigen Regierung (Schüttemeyer 1998, S. 36; Helms 2002, S. 24 f.). Es ist daher kaum überraschend, dass der direkte Einfluss der AfD auf die Gesetzgebung bislang marginal ist: Selbst, wenn die AfD Gesetzentwürfe einbringt, werden diese von der Regierungsmehrheit abgelehnt. Anders ist es bei der Kontrolle der Regierung und dem Aufzeigen inhaltlicher und personeller Alternativen. Hierfür stehen ihr verschiedene parlamentarische Instrumentarien zur Verfügung, von denen sie auf der Landesebene (nach einer gewissen Eingewöhnungsphase) vor allem die Kleinen Anfragen in ähnlichem Ausmaß nutzt wie die anderen Oppositionsparteien (Schroeder et al. 2018, S. 97). Zudem besetzt sie die Ausschüsse und nimmt zustehende Vorsitze war. Auch im Bundestag versucht die AfD, ihrer Rolle als Oppositionsfraktion nachzukommen: In den ersten anderthalb Jahren stellte sie etwa genauso viele Anträge wie andere Oppositionsfraktionen (Schwanholz et al. 2020, S. 191).
Anders verhält es sich im Hinblick auf die parlamentarischen Debatten. Zwar übernehmen die anderen Parteien im Bundestag bislang nicht die rechtsradikalen Positionen der AfD und treten nur teilweise stärker mit Anti-Establishment-Positionen auf als in der Legislaturperiode zuvor (v. a. Die Linke) (ebd., S. 193 f.). Jedoch zeigt der nähere Blick auf die Verhaltensweisen und Rhetoriken der Abgeordneten, dass sich die Debattenkultur in den Parlamenten seit dem Einzug der AfD verändert hat. So weisen Vögele und Thoms (2019, S. 317 f.) nach, dass im baden-württembergischen Landtag seit dem Einzug der AfD deutlich mehr kritische Zwischenrufe getätigt werden und eine „klare Frontenbildung“ (ebd., S. 326) erkennbar ist. In ähnlicher Weise stellen Stecker et al. (2019) für den thüringischen Landtag fest, dass die etablierten Parteien (v. a. Die Linke und die Grünen) bei Reden der AfD öfter dazwischenrufen als bei Reden anderer Fraktionen. Zudem spenden sie Redebeiträgen der AfD fast nie Applaus. Insgesamt ist die Anzahl der verteilten Ordnungsrufe und Rügen für die AfD sowie die anderen Fraktionen in den meisten Landtagen (Hensel et al. 2017, S. 37; Schroeder et al. 2018, S. 99 f.) wie auch im Bundestag (Pohl 2019) deutlich angestiegen. Teilweise wird seit vielen Jahrzehnten überhaupt wieder zu solchen Disziplinierungsmaßnahmen gegriffen; immer wieder erreichten sie seit vielen Legislaturperioden ein Rekordniveau. Während die Stenografen in der vergangenen Legislaturperiode häufiger Heiterkeit als Lachen notierten, ist es jetzt umgekehrt (Brunner et al. 2019). Dabei setzt die AfD die „Waffe“ des Lachens als Mittel der Distinktion, Selbsterhebung und Erniedrigung des Gegners sehr viel häufiger ein als die anderen Fraktionen (ebd.). Insgesamt sprechen all diese Indikatoren dafür, dass sich der Tonfall in den Parlamenten seit dem Einzug der AfD deutlich verschärft hat und eine „emotionalere, stärker polarisierende und nervösere Stimmungslage“ eingekehrt ist (Schroeder et al. 2018, S. 99).
Der Einfluss der AfD im Europäischen Parlament kann gewissermaßen als ein Sonderfall betrachtet werden. Dort hielt sich der politische Einfluss der sieben AfD-Abgeordneten bereits im ersten Jahr nach ihrer Wahl „in engen Grenzen“ (Niedermayer 2018, S. 899). Später führten die inhaltlichen und personellen Auseinandersetzungen der AfD zur Abspaltung des größten Teils der AfD-Gruppe und schließlich zur „völligen Marginalisierung der AfD-Präsenz auf der europäischen parlamentarischen Ebene“ (ebd., S. 908). Nach dem Ausschluss Marcus Pretzells aus der EKR-Fraktion und seinem Austritt aus der AfD nach der Bundestagswahl 2017 war die Partei zeitweise nur noch mit einem einzigen Mandat im Europäischen Parlament vertreten, wodurch ihre Sichtbarkeit und ihr Einfluss „gegen Null“ ging (ebd., S. 900). Jankowski und Lewandowsky (2018, S. 567) können mit ihrer Analyse der namentlichen Abstimmungen im Europäischen Parlament nachweisen, dass es zwischen 2014 und 2016 „eine klare Positionsverschiebung der AfD hin zu rechtspopulistischen Parteien“ gab. Sie führen diese insbesondere auf den Wechsel der EP-Fraktion im Frühjahr 2016 zurück und weniger auf den Bruch der Partei auf nationaler Ebene 2015. Bei der Europawahl 2019 zogen elf AfD-Abgeordnete ins Europäische Parlament ein, deren parlamentarisches Verhalten bislang noch nicht genauer untersucht wurde.
Insgesamt haben die Parteien mittlerweile gelernt, dass es strategisch wenig sinnvoll ist, die AfD strikt auszugrenzen oder zu ignorieren, sondern sie sich inhaltlich mit ihr auseinandersetzen müssen, ohne „über jedes Stöckchen“ zu springen (Heinze 2020, S. 212). Dabei müssen sie den Bürgern zum einen klare eigene Standpunkte unterbreiten und zum anderen über ausgezeichnete rhetorische Fähigkeiten verfügen und darin geschult sein, diese auch dann wirkungsvoll zu vertreten, wenn mit Provokationen und Tabubrüchen zu rechnen ist (Schroeder et al. 2018, S. 109). Vor diesem Hintergrund hat die parlamentarische Vertretung der AfD auch zur Vitalisierung und Politisierung der parlamentarischen Auseinandersetzung geführt: Parlamentsdebatten werden nun nicht nur schärfer, sondern auch grundsätzlicher und normativer debattiert (Hensel et al. 2017, S. 73). Da die AfD regelmäßig „rote Linien“ überschreitet, stehen die anderen Parteien vor der Herausforderung, sich fortwährend den Prinzipien ihrer parlamentarischen Arbeit zu vergewissern und diese argumentativ zu verteidigen. Eine pauschale „Zauberformel“ im Umgang mit der AfD wird es unter diesen Umständen auch in Zukunft nicht geben können.
4 Fazit und Forschungsperspektiven
Der AfD gelang es – anders als früheren Rechtsaußenparteien in Deutschland – relativ schnell, in alle Parlamente einzuziehen und eine relativ stabile Unterstützerschaft zu etablieren. Für ihre Mobilisierung spielt die parlamentarische Arbeit eine zentrale Rolle: Im Parlament versucht die AfD, sich als „normale“ Partei darzustellen, indem sie parlamentarische Instrumentarien wie Kleine Anfragen und Anträge sehr rege nutzt. Diese waren jedoch vor allem in den ersten Jahren ihrer parlamentarischen Vertretung sehr fokussiert auf die Themen Migration und Asyl (Hensel et al. 2017; Schroeder et al. 2017), während die AfD mittlerweile spürbar versucht, ihr Repertoire auszubauen (Ruhose 2019). Zudem haben die Parteien mittlerweile gelernt, dass der AfD eher an der gezielten Provokation und medialen Inszenierung gelegen ist als an der tatsächlichen Thematisierung und Lösung politischer Probleme. Dafür spricht zum einen, dass viele ihrer Parlamentsneulinge selbst nach der üblichen „Eingewöhnungszeit“ wenig an einer Professionalisierung interessiert schienen. Zum anderen verhielten sich die AfD-Fraktionen immer wieder nach dem gleichen Muster, indem sie Parlamentsdebatten durch Provokationen gezielt hochschaukelten und das so entstandene Sendematerial selektiv in den eigenen sozialen Medien weiterverwendeten, um sich dort als „Opfer“ der „Altparteien“ zu inszenieren.
In der Folge passten die etablierten Parteien ihren Umgang mit der AfD immer stärker an. Die entsprechenden Lernprozesse sind mittlerweile auf der Landesebene (Schroeder et al. 2017; Heinze 2020) wie auch auf der Bundesebene (Rensmann 2018; Ruhose 2019) relativ gut erforscht, wenngleich dies nicht bedeutet, dass eine „Zauberformel“ gefunden wurde. Zukünftige Studien müssen vor allem der Frage nachgehen, wie genau sich die AfD dem Verhalten ihr gegenüber anpasst, und wie Filterblasen, in denen das Parteienverhalten verkürzt und somit oftmals falsch dargestellt wird, durchbrochen werden können. Vor diesem Hintergrund lässt sich das parlamentarische Verhalten der AfD nur bedingt von ihrer außerparlamentarischen Mobilisierung begreifen. Durch die zunehmende Radikalisierung vieler ihrer Akteure und den anhaltenden Richtungsstreit gewinnt dieser Zusammenhang zusätzlich an Bedeutung. Im Rahmen der von Mudde (2019) angemahnten Prozesse der Normalisierung und des Mainstreamings von Rechtsaußenakteuren müssen sich zukünftige Studien zudem noch stärker mit dem indirekten Einfluss der AfD auf das deutsche Parteiensystem befassen. So sind es die schleichenden Übernahmen rechtsradikaler Positionen und Rhetoriken, die die Grundpfeiler der liberalen Demokratie sukzessive untergraben. Auch die kommunale Ebene kann für die Normalisierung von Rechtsaußenpositionen eine zentrale Rolle spielen, doch wird sie bislang nur sehr selten in den Fokus genommen. Welchen direkten und indirekten Einfluss die AfD auf das politische System Deutschlands nehmen kann und nimmt, wird die politische Praxis sowie die Wissenschaft folglich noch einige Jahre lang beschäftigen.
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Heinze, AS. Zum schwierigen Umgang mit der AfD in den Parlamenten: Arbeitsweise, Reaktionen, Effekte. Z Politikwiss 31, 133–150 (2021). https://doi.org/10.1007/s41358-020-00245-0
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