Unziale
Die Unziale oder Unzialschrift (lateinisch littera uncialis) ist eine Majuskelschrift, die wahrscheinlich aus der älteren römischen Kursive entstanden ist. Im Gegensatz zur Capitalis ist die Unziale vorwiegend eine Buchschrift. Die Unziale wurde mit dem Calamus auf Papyrus, Prachtexemplare mit dem Federkiel auf Pergament geschrieben. Charakteristisch sind die gerundeten, serifenlosen Buchstaben mit einigen Ober- und Unterlängen. Diese sind aber noch nicht sehr ausgeprägt.
Formen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Es werden drei Formen der Unziale unterschieden:
- römisch-lateinische Unziale (2. bis 8. Jahrhundert): juristische Texte, literarische und frühchristliche Codices.
- biblisch-griechische Unziale (4. bis 15. Jahrhundert): die „byzantinische Schrift“ oder Bibelmajuskel.
- griechisch-gotische Unziale (4. Jahrhundert): Schrift zur Wiedergabe der ostgermanischen gotischen Sprache.
-
Codex Bobiensis: lateinische Unziale,
4. Jahrhundert -
Codex Sinaiticus: griechische Unziale,
4. Jahrhundert -
Codex Argenteus: griechisch-gotische Unziale
Die Halbunziale ist eine Minuskelschrift und zählt somit nicht zu den Unzialen. Diese frühmittelalterliche Buchschrift hat mit der Unziale auch entstehungsgeschichtlich wenig zu tun.
Entwicklung und Verbreitung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das älteste Originalfragment eines lateinischen Pergamentkodex (De bellis Macedonicis, um 100 n. Chr.) wurde um 1900 im ägyptischen Oxyrhynchos gefunden. Es ist eine Übergangsform zwischen der Capitalis rustica und Unzialschrift. Zusammen mit dem Brieffragment von Cyprianus (um 250 n. C.) und den Epitomen des Livius wurden diese Übergangsschriften scriptura mixta genannt[1].
Die „kursive“ Unziale entstand durch eine Vereinfachung des Schreibvorgangs. Die Römer benutzten Griffel, um auf Wachstafeln zu schreiben, und den Calamus (Rohrfeder) auf Papyrus. Mit der breiten Rohrfeder sind nur „zusammengesetzte“ Buchstaben möglich, denn beim Rückwärts„schieben“ fließt keine Tinte. Der erste, kraftvolle Grundstrich wird von oben nach unten geführt oder schräg von oben-rechts nach unten-links. Der zweite Strich ist entweder linear von unten-links oder waagrecht. Das flüssigere Schreiben der eckigen Buchstabenteile führte zu Rundungen bei A, D, E, H, M und V sowie zu kurzen Ober- und Unterlängen bei D, F, H, L, P und Q. Dies waren deutliche Abweichungen von der klassischen Capitalis. Besonders auffällig sind die Rundungen bei den Buchstaben E und M sowie beim V, das zu einem U wurde.[2] So entstanden neue Schriften: die römische Kursive (Capitalis cursiva) als Alltagsschrift und die Unziale als Buchschrift.
Die Unziale entstand im 2. Jahrhundert (wahrscheinlich in Rom[3]) und wurde bis zum 6. Jahrhundert für juristische Texte, Bücher (Codices) und darüber hinaus als Auszeichnungsschrift verwendet.
Es sind über 300 Handschriften des Neuen Testaments in griechischer Unzialschrift erhalten. Vollständig erhalten sind beispielsweise die griechischen Handschriften Codex Sinaiticus und Codex Vaticanus. Die unziale Handschrift der griechisch-biblischen Codices wird manchmal Bibelmajuskel genannt.
Bezeichnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Zur Herkunft der Bezeichnung Unziale werden verschiedene Angaben gemacht. Bereits der Kirchenvater Hieronymus sprach von „uncialibus […] litteris“[4] (Dativ von unciales litterae, „Unzial-Buchstaben“), aber erst Jean Mabillon bezog die unciales litterae oder litterae unciales auf die heute Unziale genannte Schrift.[3] Mabillon behauptete in seinem Werk De re diplomatica (1681), die Großbuchstaben der römischen Majuskelschrift seien schon in der Antike unter anderem unciales genannt worden, da sie eine uncia groß seien, „das heißt ein Zwölftel eines Fußes“.[5] Dabei irrte er sich, denn der Fuß wurde in der Spätantike noch in 16 Fingerbreiten unterteilt, erst im Mittelalter wurde der Fuß in zwölf Untereinheiten geteilt.
Laut dem italienischen Paläografen Ambrogio M. Piazzoni wurde die Bezeichnung Unziale erst später erstmals verwendet, nämlich in einem französischen Traktat aus dem Jahr 1755, das zwei gelehrte Benediktiner der Mauriner-Kongregation (Charles François Toustain und René Prosper Tassin) verfassten. Wie schon Mabillon setzten sie sich mit der Textstelle bei Hieronymus auseinander, die laut Piazzoni sehr unklar ist und ganz verschieden interpretiert wurde. Eine von mehreren Hypothesen lautet, dass Hieronymus initiales schrieb, was dann als unciales fehlgelesen worden sei.[6]
Laut einem Tutorium der Universität Zürich zur Schriftgeschichte stammt die Bezeichnung Unziale nicht von uncia ab, sondern von lateinisch uncus = ‚Bogen‘, ‚Haken‘, und zwar wegen der runden Formen dieser Schrift, die einen auffälligen Gegensatz zu den eckigen Buchstaben der Capitalis bilden.[2]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Liste der Unzialhandschriften des Neuen Testaments
- Liste der Handschriften der Vetus Latina
- Irische Schrift
- Gotische Unziale, eine „Zier-Unziale“ (ab 12. Jh.)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (= Grundlagen der Germanistik, Bd. 24). 2. überarbeitete Auflage. Erich Schmidt, Berlin 1986, ISBN 3-503-02253-8, S. 91–107.
- Károly Földes-Papp: Vom Felsbild zum Alphabet. Die Geschichte der Schrift von ihren frühesten Vorstufen bis zur modernen lateinischen Schreibschrift. Chr. Belser, Stuttgart 1966 (Auch: Gondrom, Bayreuth 1975, ISBN 3-8112-0007-0).
- Elias Avery Lowe: English Uncial. Clarendon Press, Oxford 1960.
- František Muzika: Die schöne Schrift in der Entwicklung des lateinischen Alphabets. Band I, Artia, Prag 1965.
- Jan-Olof Tjäder: Der Ursprung der Unzialschrift. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, ISSN 0067-4540, Jg. 74 (1974), Heft 1, S. 9–40; doi:10.5169/seals-117811.
- Franz Steffens: Lateinische Paläographie. 2., vermehrte Auflage, Trier 1909. Unziale Seite IV und V (digital; PDF-Datei; 125 Tafeln in Lichtdruck mit gegenüberstehender Transkription sowie Erläuterungen und einer systematischen Darstellung der Entwicklung der lateinischen Schrift).
- Sonja Steiner-Welz (Hrsg.): Von der Schrift und den Schriftarten. Band 8 (Sammlung 2006), S. 125–132; eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Paulo Heitlinger: Unzialis, die runde Versalie. Beschreibung und Beispiele aus vielen Jahrhunderten, 2012 (PDF-Datei)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Frantisek Muzika: Die schöne Schrift in der Entwicklung des lateinischen Alphabets. Römische Unziale ab Seite 186, mit vielen Alphabeten und Tafeln.
- ↑ a b Unziale und Halbunziale, Tutorium der Universität Zürich.
- ↑ a b Horst Enzensberger: Schriftarten 2 – Unziale
- ↑ Zitiert bei Jean Mabillon: De re diplomatica, Paris 1681 (Google Books), Liber primus, Cap. XI, S. 47, Zeile bei Buchstabe B. Ebenso in der 2. Auflage, Paris 1709, S. 47.
- ↑ Jean Mabillon: De re diplomatica, Paris 1681 (Google Books), Liber primus, Cap. XI, S. 47, erster Satz, Anmerkung in Klammern: „quoniam uncia, id est pedis duodecima parte“. Ebenso in der 2. Auflage, Paris 1709, S. 47.
- ↑ Ambrogio M. Piazzoni: Latin Paleography, Kapitel Uncial (englisch).