Weil Liu Xia seit der Seebestattung ihres Mannes nicht mehr gesehen wurde, werfen Freunde und Anwälte der chinesischen Regierung vor, sie entführt zu haben. Die Dichterin und Witwe des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo soll an einem unbekannten Ort isoliert festgehalten werden. "Die chinesische Regierung behauptet, sie sei frei, aber selbst ihre engsten Freunde können sie nicht erreichen", schreibt der Anwalt Jared Genser in einem Gastbeitrag im Wall Street Journal. "Es ist klar, dass die Behörden sie illegal festhalten."

Genser hat deswegen nach eigenen Angaben eine formelle Beschwerde bei den Vereinten Nationen eingelegt und fordert sofortiges Eingreifen. Die Gemeinschaft müsse schnell handeln und ihre Freilassung sicherstellen. In der Beschwerde heißt es, Liu Xia sei seit der Trauerfeier nicht mehr gesehen worden.

Jared Genser ist Menschenrechtsanwalt und vertritt die Xiaobo-Familie seit 2010. Zu seinen prominentesten Fällen gehören neben Xiaobo die burmesische Politikerin Aung San Suu Kyi, der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu und der rumänische Publizist Elie Wiesel.

Ein Regierungssprecher erklärte die Abwesenheit der chinesischen Dichterin in den Staatsmedien mit ihrer Trauer. "Liu Xia ist frei", sagte er. Gleichzeitig verweigerte er Aussagen über ihren Aufenthaltsort. "Wir wollen mehr Trubel für Liu Xia vermeiden. Ich glaube, dass die entsprechenden Behörden Liu Xia nach Recht und Gesetz beschützen."

Laut einem Bericht im Guardian erwartet Genser mit der Beschwerde, dass die Vereinten Nationen eine offizielle Anfrage an die chinesischen Behörden stellen. Auf diesen Druck hin könnte die 56-Jährige wieder auftauchen.

Regierung bestreitet Vorwürfe

Liu Xia ist Dichterin und wurde selbst nie für ein Verbrechen verurteilt. Nur eine Woche nachdem ihr Mann den Friedensnobelpreis erhalten hatte, verhängten die chinesischen Behörden Genser zufolge Maßnahmen gegen sie. Sie sei gezwungen worden, unter strengem Hausarrest in einem Einzimmer-Appartment in Peking zu leben. Internet und einen freien Telefonanschluss habe es nicht gegeben. Auch Briefe durfte sie demnach nicht erhalten. Die Eltern hätten sie nur einmal im Monat sehen können, starben aber noch in der Zeit ihres Hausarrests. Liu Xia sei daraufhin schwer depressiv geworden und erlitt einen Herzinfarkt.

Zudem verurteilte die chinesische Justiz Liu Xias Bruder Liu Hui zu elf Jahren Haft. Sie warf ihm Wirtschaftskriminalität vor. Genser vermutet, die Behörden hätten sie so ruhighalten wollen. "Sie wollen erst ein Bein, dann das andere brechen", zitierte Genser Liu Xia in seinem Gastbeitrag. "Aber ich sage mir, gerade zu stehen, keine Angst zu haben."

Die chinesische Regierung hat immer bestritten, Liu Xia unter Arrest gestellt zu haben. 2011 hieß es, sie unterliege keinen legalen Restriktionen. "Auf zynische Weise ist das wahr", schrieb ihr Anwalt dazu. "In China gibt es keinen legalen Hausarrest. Sie wurde illegal festgehalten."

Verschwindenlassen als besonders grausame Menschenrechtsverletzung

Die Vereinten Nationen stufen die Praxis des sogenannten Verschwindenlassens als gravierende Menschenrechtsverletzung ein. Laut Artikel zwei der Konvention gegen das Verschwindenlassen von 2006 umfasst die Praxis jede Form der Freiheitsberaubung durch einen Staat oder mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung eines Staates. Ebenso verurteilt die Konvention die Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, und die Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person.

Menschen, die dieser Praxis ausgesetzt seien, würden ihren Entführern vollständig ausgeliefert, heißt es weiter. "Durch die Geheimhaltung ihrer Entführung und die Verschleierung ihres Aufenthaltsortes sind die Opfer von ihren Familien abgeschirmt und haben keine Möglichkeit, juristische Hilfe, medizinische Versorgung oder andere Formen der Hilfe zu bekommen", heißt es auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Die Betroffenen liefen zudem Gefahr, Opfer weiterer Menschenrechtsverletzungen zu werden, wie zum Beispiel der Folter oder außergerichtlicher Hinrichtungen.

Gabriel fordert Liu Xias Freilassung und Ausreise

Seit dem Tod ihres Mannes Liu Xiaobo wird in Europa und den USA gefordert, die Dichterin freizulassen und ihr die Ausreise zu ermöglichen, wenn sie dies wünsche. Nach Angaben chinesischer Behörden ist Liu Xia eine freie Bürgerin, doch könne sie nach dem Tod ihres Mannes aus Trauer keine Freunde oder Anwälte treffen.

Außenminister Sigmar Gabriel forderte, dass Liu Xia und ihr Bruder umgehend nach Deutschland oder in ein anderes Land ihrer Wahl ausreisen dürfen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk appellierten an die Regierung in Peking, die Familie in Ruhe trauern zu lassen. Er bekräftigte Gabriels Forderung, die Witwe und deren Bruder ausreisen zu lassen.