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Der kurze Sommer der @narchie - WELT

Der kurze Sommer der @narchie

Von Matthias Horx
Veröffentlicht am 24.03.2001Lesedauer: 10 Minuten

Die tragischen Irrtümer von www.wolkenkuckucksheim - Essay

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Zehn Jahre lang hat ein melancholisches Monument den Cyberspace bereichert. In der University of Cambridge in den USA stand auf einem Flur eine Kaffeemaschine, die von einer Webcam rund um die Uhr beobachtet wurde. Sie wurde zum Icon der neuen Netzwerkwelt. Während des Netz-Hypes schalteten sich bis zu eine Viertelmillion Surfer täglich auf das Standbild.

Kürzlich wurde die Webcam für immer abgeschaltet. Der Macher, ein Universitätsassistent, hatte keine Lust mehr, "immer zu wissen, ob der Weg zur Kaffeekanne lohnt". Ein Zeichen, dass etwas zu Ende geht. Die Ära der digitalen Verheißung ist vorbei. Nun kommen die Mühen der Ebene, aber auch neue Perspektiven.

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Es gab drei Kernirrtümer des digitalen Rausches, aus dem wir nun mit einem Kater erwachen.

Missverständnis eins: Das Internet erobert die Haushalte im Sturm. Kein Vortrag, keine Wirtschaftssendung, kein Expertenforum ohne jene Herren mit ihren Powerpoint-Folien, auf denen die Benutzerquote des Netzes nach oben durch die Decke brach. Doch alle diese Folien waren voreinander abgekupfert und basierten kaum auf realen Fakten. Sie waren Propagandainstrumente derer, die den Dot-com-Goldrausch ausrüsteten, die vom Beratungsbedarf profitierten (oder die mit dem Netz sozialrevolutionäre Utopien verbanden).

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Die Wahrheit ist differenzierter. Das Radio brauchte in den US-Haushalten lediglich zehn Jahre, von 1915 bis 1925, um zu einer Haushaltsabdeckung von über 80 Prozent zu kommen. Der Farbfernseher eroberte die Mehrheit der Haushalte in derselben Zeit. Nur dem Handy gebührt der Platz auf dem Siegertreppchen - von null auf 50 Prozent der Bevölkerung in fünf Jahren.

Studien über die Internet-Nutzung zeigen, dass das Internet eher mit mittlerer Geschwindigkeit in die Haushalte marschiert. Die Reichweite des klassischen, Browser- und PC-gestützten "www"-Netzes wird in den nächsten Jahren bei etwa 45 Prozent der Bevölkerung in den OECD-Ländern stagnieren. Die Nutzungsdauer pro Surfer nimmt wieder ab, wobei eine etwa zehnprozentige Elite von Wissensarbeitern das Netz fast rund um die Uhr benutzt. Vor uns liegt ein "Digital Divide" zwischen Wissensarbeitern, die das Netz als Werkzeug benutzen, und "normalen Menschen", für die das Netz eher mühsam und verzichtbar ist.

Mehrere Millionen Menschen haben in den USA das Netz bereits wieder verlassen - ohne dauerhafte Schäden davonzutragen. Studien in den USA von Data Monitor und Forrester Research zeigen, dass gerade die Jugendlichen sich recht schnell wieder vom Bildschirm verabschieden: "Sie kamen, surften und gingen zum Strand."

Das zweite Missverständnis: Dem E-Commerce gehört die Zukunft. Wären die gewaltigen Versprechungen der E-Handelswelt tatsächlich wahr geworden, dann wären unsere Städte rund um die Uhr verstopft mit Lieferwagen, die kleine und kleinste Pakete zu Menschen bringen würden, die sowieso nicht zu Hause sind. Der Zusammenbruch unserer urbanen Infrastruktur und unglaubliche Umweltprobleme wären die Folge.

Doch das E-Commerce hat die Rechnung ohne die Logistik und die veränderten Lebensstile gemacht: Die Individualgesellschaft macht den Einzelnen immer mobiler, weshalb die Nach-Hause-Lieferung in Wirklichkeit kein Deal ist. Der Kunde, der ein normales Produkt auf einer Website kauft, spart sich den Weg in den Laden. Aber er bezahlt mit Zeitverzögerung. Im Idealfall müsste er zu Hause bleiben, ergo eine Hausfrau mit niedrigem Einkommen sein. Genau diese Zielgruppe ist aber weder attraktiv noch erreichbar durch das Internet.

Zudem stehen dem E-Commerce neue Erlebniswelten mit immer raffinierteren Kauferlebnissen gegenüber. Menschen haben weniger Zeit zum Einkauf und wollen sie qualitativer nutzen. Damit E-Commerce zu mehr als einem marginalen Handelsfaktor wird, müssten sich die Produkte, die im Netz angeboten werden, deutlich von "Offline"-Produkten unterscheiden. Durch einen höheren Anteil von Individualität ("das maßgeschneiderte Auto"), durch einen massiv erhöhten Serviceaspekt ("das Socken-Abonnement"), durch einen steigenden Anteil immaterieller Güter oder durch massiven Preisvorteil. Zweitens muss sich eine sinnvolle "Clicks and mortar"-Infrastruktur entwickeln, die unsere urbanen Architekturen umkrempelt. So gibt es in Tokio die "Kombini"-Läden, kleine Nachbarschaftsläden an jeder Straßenecke, bei denen man seine E-Waren auf dem Weg von der UBahn nach Hause abholt, aber auch Kaffee, Zeitungen Briefmarken und Conveniance-Produkte kaufen kann: "E-Emma-Läden".

Missverständnis drei: Alle wollen Information. "Content" war das große Stichwort der Dot-com-Euphorie. Und von nun an stieg die Content-Flut und überschwemmte alles. Die Portale wucherten zu gigantischen Infowüsten mit Tausenden von Gags und Zusatzangeboten. Jede Zeitung hielt sich ein gigantisches Infosystem mit Marginalien, und aus Journalisten wurden "Content Management-Provider", die unentwegt Textschnipsel für Millionen "Newsboxes" immer wieder aufs Neue umtüteten. Von der Temperatur in Kuala Lumpur bis zu Tricks beim Sockenwaschen, von den aktuellen Pop-Charts bis zur Meldung, dass Harald Juhnke wieder abgestürzt war.

Wollen wir das alles wirklich wissen? Nein, denn Information ist nur dann interessant, wenn sie für mich persönlich einen Unterschied macht. In Wahrheit erzeugte das Netz in seiner unendlichen Einfalt des Kopierens einen Info-Sumpf und damit ein gigantisches Downtrading jeder Substanz.

Information ist nicht Wissen, im Gegenteil. Zu jeder Informationstechnologie gehört eine neue Intelligenztechnik, in der Information zu komplexeren Wissens- und Erfahrungsebenen verdichtet wird. E-Mails können segensreich für die Koordination von Projekten sein, aber sie sind zu 80 Prozent getarnte Kommunikations- und Reaktionsvermeidungen. Die gewaltigen Intranets in vielen Unternehmen führten nicht zu besseren Wissensflüssen, sondern förderten autistisches Verhalten: Man redet, streitet und erfindet nicht mehr, sondern häufelt Infos stumm auf den Servern.

Das Internet wird kein Massenmedium - weil es in seiner Seele keines ist. Hier liegt ein Kern des Dot-com-Missverständnisses: Anders als Radio oder TV erfordert das Netz von den Menschen informelle und geistige Aktivität. Sie müssen wollen können. Wenn das "www"-Internet tatsächlich die gesamte Gesellschaft erreichen sollte, dann erforderte dies einen neuen Menschen in der gesamten Gesellschaft: einen informationsemanzipierten, aktiv lernenden, sozial intelligenten "Homo netzwerkiensis".

Zudem ist die virtuelle Welt, in der wir angeblich den Rest unseres Lebens surfend und frohlockend verbringen, nur mäßig attraktiv. Sie riecht nicht gut und fühlt sich nicht attraktiv an. Sie macht Kopfschmerzen und schwindelig. Als amerikanische Dot-com-Firmen vor einigen Monaten "Call-back-Buttons" auf ihre Sites setzten, deren Betätigung den sofortigen Rückruf eines lebendigen Mitarbeiters der Firma nach sich zog, stiegen die Kaufbestellungen plötzlich rapide an. Obwohl die Kunden den Button gar nicht so häufig betätigten, schienen sie die Möglichkeit menschlicher Gegenwart in massive Kauflaune zu versetzen. High Touch schlägt High-Tech.

Zugleich ist das Netz ein neues, ein "traversales" Medium mit einer gewaltigen Potenz. Es verändert alles: Wertschöpfungsketten, Kommunikationsprozesse, Hierarchien. Menschen können mit seiner Hilfe, wie es die Autoren des berühmten "Cluetrain Manifesto" formulierten, "Voice", eine authentische und direkte Stimme, gewinnen. Das Netz wird somit zum "Empowerment-Medium": Es kann dabei helfen, Konsumenten zu emanzipieren, Selbsthilfegruppen und Protestformen weiterzuentwickeln. Hier liegt sein genuin sozialer Kern, seine anarchische Dimension.

Es ist aber ein empfindliches Medium, das sich bei falschem Gebrauch sofort gegen den Benutzer wendet. Jeder Versuch, es im "linearen" Sinne zu gebrauchen - als Geldesel nach Art der Old Economy, als Rationalisierungsinstrument oder Ersatz für einen guten Außendienst -, ist zum Scheitern verurteilt. Sein Wesen ist nicht Mehrwert, sondern Kommunikation. Man kann vielleicht, wenn man sein Wesen versteht, mit seiner Hilfe Geld verdienen. Aber nicht wirklich mit und in ihm.

Der Dot-com-Crash und die Post-Internet-Rezession sind die Quittung für diese Missverständnisse. Eine innovative Netzwerktechnologie traf auf altes, funktionales, lineares Denken. Den Rest machten Gier, Ungeduld und Naivität. In Wahrheit ist das heutige Internet eine Faustkeil-Technologie, dessen humane technologische Evolution noch bevorsteht. Ein Prototyp mit Macken: Man sieht und fühlt ihm an, dass es von Kernphysikern erfunden und von kommerziellen Interessen bis zur Unkenntlichkeit deformiert wurde. Glauben wir also nicht denen, die die derzeitige Krise als kleinen Betriebsunfall auf dem Weg zum "Evernet", dem allgegenwärtigen Netz, sehen. Wenn eines Tages unsere Toaster, Brieftaschen und Rollläden alle "intelligent" und selbstredend mit schneller Baudrate miteinander vernetzt sind, wird dies nicht nur die Frage aufwerfen, wie wir uns vor dem Zugriff des Toasters auf unsere Brieftasche schützen sollen ("Ich habe soeben 5000 Euro für Quellwasser-Bioschrotbrot aus dem schottischen Hochland überwiesen"). Doch wenn wir noch nicht einmal die Bedienungsanweisung für unser Handy verstehen, wie sollen wir dann mit einem digitalen Toaster auskommen?

Nicht komplizierte, sondern einfache und in ihrer Bedienbarkeit "smarte" Technologien werden gewinnen: Archaische Bedürfnisse nach Tratsch und Klatsch, das von den Affen bekannte "grooming", fördern den Siegeszug der Kommunikationstechnologien. Das Handy feierte seinen Triumph nicht auf Grund seiner Zusatzfunktionen oder hervorragenden Klingeltöne, sondern weil es zum existenziellen Werkzeug für den mobilen Lebensstil wurde - vor allem für Frauen, die nun Männer, Kinder, Beruf und einen komplexen Haushalt nebeneinanderher balancieren mussten. Wer diesen Schwatzknochen per UMTS zum Datenendgerät hochrüsten will, wird die hartnäckige Sehnsucht der Menschen nach "verbalem Kraulen" (Norbert Bolz) erfahren.

Im Jahre 1906 überschwemmte die große Autobegeisterung die Vereinigten Staaten von Amerika. Fast über Nacht sprossen über 300 Autofirmen aus dem Boden, in denen auf die eine oder andere Weise Fahrwerke, Benzinmotoren und Räder zusammengesetzt wurden. An der Wall Street entstand ein Run auf alle Werte, die mit Benzin und Verbrennungsmotoren zu tun hatten, die Börsenkurse explodierten wie schon 20 Jahre zuvor, als die Eisenbahn ihren Siegeszug über den Kontinent antrat. Im Jahre 1908 waren von den 300 Firmen noch zwei übrig, General Motors und Ford. Die Kurse waren kollabiert, und es dauerte noch gute fünf Jahre, bis das T-Modell von Ford in nennenswerter Stückzahl von den Fließbändern rollte. Es dauerte aber noch ein Dreivierteljahrhundert, um jenes diffizile System verfeinerter Technologie, Sicherheits- und Verkehrslogistik zu errichten, das wir heute unter dem Namen "Individualverkehr" kennen.

Das Gleichnis vom Dot-com-Zusammenbruch sollte uns an die evolutionären Gesetzmäßigkeiten der technischen Zivilisation erinnern. Die Mär von der "immer schnelleren Beschleunigung" ist falsch. Technologiewechsel benötigen Jahrzehnte. Sie verlangen Veränderungen in der Infrastruktur, dem Denken, den Mentalitäten. Menschen sind konservativ, weil sie Erfahrungen gemacht haben - auch gute und verlässliche.

Zweitens: Der Erste muss nicht immer der Gewinner sein. Es liegt auf der Hand, dass viele kreative Ideen, die heute im Absturz der Kapitalmärkte verbrannt sind, eine mächtige Reinkarnation erleben werden. Geschwindigkeit kann gute Ideen töten, weil ein Unternehmen nicht organisch wachsen und stabile Beziehungen zu seinen Kunden aufbauen kann. Es lohnt sich, die Business-Modelle der Dot-coms in zwei, drei Jahren umzuschreiben und damit tatsächlich reich und berühmt zu werden.

Drittens: Es gibt kein rein elektronisches Business, selbst wenn wir in der kommenden "Internet-2-Ära" komplette Spielfilme in Sekundenschnelle aus dem Netz laden. Irgendwie benötigt jeder Kaufakt, und sei er noch so digital, eine atomare Infrastruktur. Der Datenträger Papier ist alt und gut erprobt. Weil wir das wissen, werden wir eines Tages entspannt in die wunderschönen glitzernden Kaufhäuser von Amazon-Real gehen (Dass wir auch von dort aus die schweren Bücher online nach Hause liefern können, versteht sich von selbst, ist aber dann nicht sonderlich sensationell).

Viertens: Die Welt ändert sich nur in Synthesen. Technologie ist immer nur ein "Trigger", ein Lockvogel, damit die nächste Stufe auf dem Weg zu zivilisatorischer Komplexität erklommen werden kann. Zu "High-Tech" muss sich immer "High Touch", die Verfeinerung unserer sozialen Kooperationsfähigkeit kommen. Die Unternehmen der Zukunft werden lernen, vor allem ihre Kernressource, die Menschen, anders zu behandeln und Technologie nicht als Rationalisierungs-, sondern als Empowerungsmittel zu verstehen. Die nächsten Wellen der Investition und Innovation gehören der Gesundheit, der Freizeit und der Lebensqualität. Erst wenn diese große Integration zwischen High-Tech und High Touch vollzogen ist, wird jene Produktivitätssteigerung, die uns in der Dämmerung der Wissensära verheißen wurde, wie ein glosendes Feuer durch alle Bereiche der Wirtschaft gehen.

Das ist die Zukunft: smarte, lernende Systeme. Geräte, die im Bedarfsfall verschwinden und uns Langeweile ersparen, damit wir besser genießen können. Echte Dienstleistungen, die die fantastischen Möglichkeiten des Web nutzen, ohne uns mit dem Terror des Digitalen zu konfrontieren. Das erst wird die New Economy sein. Vielleicht werden dann auch wieder Kaffeemaschinen mit Webcams beobachtet. Aber wahrscheinlich werden wir uns gerne wieder einmal analog an der Kaffeemaschine selbst blicken lassen und mit den Kollegen reden. One to one, face to face.

Der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx, Jahrgang 1955, ist ehemaliger Redakteur der Frankfurter Sponti-Zeitschrift "Pflasterstrand" und leitet heute das Consulting- und Prognose-unternehmen "Das Zukunftsinstitut" bei Frankfurt am Main. Das Institut hat soeben die Studie "Die Zukunft des Internet" herausgegeben.


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