Petentin Susanne Wiest: "Probiert doch mal das"
Die Tagesmutter formulierte eine Petition für das bedingungslose Grundeinkommen. Mit unerwartetem Erfolg. Über die Frau, die für ein "würdevolles Leben" aller streitet.
Von 1990 bis 2002 lebt Susanne Wiest in einem renovierten Zirkuswagen. Mal in Städten, mal auf dem Land. In der Zeit bringt sie vier Kinder zur Welt.
Seit 1998 arbeitet sie als Tagesmutter. Zuerst in Mieträumen, jetzt in ihrem Häuschen bei Greifswald.
Im Dezember 2008 reicht Susanne Wiest beim Bundestag eine Petition zur Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens ein.
E-PETITIONEN
Seit 2005 können BürgerInnen beim Bundestag Petitionen auch per Internet einreichen. Sechs Wochen dürfen sie im Netz mitunterzeichnet werden. Der Petitionsausschuss beschäftigt sich danach mit den Anliegen. Bei mehr als 50.000 Unterschriften muss der Petitionsausschuss den Hauptpetenten persönlich anhören. Zu finden sind die Petitionen unter epetitionen.bundestag.de. Wiests Petition für das bedingungslose Grundeinkommen sollte eigentlich nur bis 10. Februar 2009 geöffnet sein. Wegen technischer Probleme wird die Zeichnungsfrist nun um eine Woche verlängert und schließt am 17. Februar. Das die Petition begleitende Diskussionsforum wird allerdings am Dienstag geschlossen. WS
Noch nie hat Susanne Wiest eine Demonstration organisiert. Nun aber steht sie in der ersten Reihe. Hinter ihr haben sich schon 20.000 Menschen eingereiht, und stündlich werden es mehr. Sie schreien keine Parolen. Auch Transparente tragen sie nicht vor sich her.
Eine solch lautlose Art, ihre Meinung zu sagen, passt zu Susanne Wiest. Die Münchnerin, die seit drei Jahren in einem Vorort von Greifswald lebt, direkt am Bodden, ist keine Marktschreierin. Massenauftritten gegenüber ist sie skeptisch. Zu dem, wovon sie sich vereinnahmt fühlen könnte - Konsum und Krawall, Weltanschauungen und Wahnsinn -, wahrt sie Distanz. Dabei ist Wiest durchaus eine Erscheinung mit ihren langen, lockigen, rotbraunen Haaren und den großen, grünen Augen.
Wiests Demo findet auf keiner Straße statt, sondern im Internet: Sie hat dem Bundestag eine Petition geschrieben. Eine elektronische Petition - diese Möglichkeit gibt es seit 2005.
In höflichem Ton ersucht sie die Politiker um Einführung eines Grundeinkommens. Zur Begründung schreibt sie, das Finanz- und Steuersystem sei sehr unübersichtlich und die Arbeitslosenquote zu einer festen Größe geworden. "Um nun allen Bürgern ein würdevolles Leben zu gewährleisten, erscheint mir die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein guter Lösungsweg."
Susanne Wiest wusste nicht, dass ihre schlicht formulierte Bitte, die zwei Tage vor Silvester vom Petitionsausschuss akzeptiert und ins Internet gestellt wurde, so viele Menschen anspricht. Ein Halbsatz ihrer Petition gibt dabei den Ausschlag: jener nämlich vom würdevollen Leben. "Mit Armut, Arbeitslosigkeit und Hartz IV geht bei uns genau das verloren - die Würde, die Selbstachtung," sagt sie. Auch findet sie es unwürdig, dass es arme und reiche Kinder gibt. "Das sind doch wir, die das zulassen. Das nimmt uns selber die Würde." Mit ihrer Petition will sie dem Bundestag sagen: "Was wir jetzt haben, ist nicht mehr gut. Probiert doch mal das." Sie dachte, sie bliebe allein damit.
Geplant hat sie ihr Manifest nicht. Denn Vorgezeichnetem verweigert sich Wiest. Auch ihr Lebensweg folgt keinem Plan. Wiest, ein Einzelkind; ihre Eltern - Arzt, Lehrerin. Das klingt nach guten Bedingungen. Obwohl Wiests Leben dann nicht nach Plan verlief, brach der Kontakt zu ihren Eltern nie ab. Nur manchmal, erzählt sie, sagen die: "Du hättest es leichter haben können."
Anstatt sich über Ungerechtigkeiten zu ärgern, hat sich Wiest, die lange alleinerziehend war, vor ein paar Jahren angewöhnt, Briefe zu schreiben. Die schickt sie dahin, wo sie glaubt, dass man zuständig ist für das Problem.
Ursprünglich wollte sie sich beim Petitionsausschuss nur über einen Missstand beklagen, der sie direkt betrifft: Als Tagesmutter muss sie seit Januar ihr Einkommen anders versteuern als zuvor. Dadurch verdient sie, die ohnehin wenig verdient, noch weniger. Zudem findet sie es ungerecht, dass alles, was sie tut, mit bürokratischen Vorschriften belegt ist. Ständig muss sie Zettel schreiben, wann warum welches Kind bei ihr ist. "Als ich meine Petition zu Tagesmüttern las, dachte ich: Jetzt machst du wieder nur Stückwerk. Aber das Große bleibt ungesagt." Und was ist das Große? "Dass wir hier gut zusammenleben und uns nicht ständig Steine in den Weg gelegt werden", antwortet sie. Deshalb formulierte sie die Petition für das uneingeschränkte Bürgereinkommen dazu.
Anfangs waren es nur ein paar Dutzend, die täglich ihren Namen mit unter die Petition setzten. Seit Februar aber kamen fast jede Minute neue Unterschriften dazu. Die Petition von Wiest ist derzeit die meistunterzeichnete. Der Ansturm ist so stark, dass die Website am vergangenen Wochenende nicht mehr richtig aufzurufen war. Kämen 50.000 Stimmen zusammen, hätte Wiest die Möglichkeit, ihren Antrag vor dem Petitionsausschuss zu begründen. Aber auch so könne der Ausschuss entscheiden, sie einzuladen, meint sie.
Sie sitzt vor dem Computer in ihrer mit hellen Möbeln eingerichteten Wohnung unterm Dach im alten Zollhaus am Hafen und verfolgt die ständige Zunahme der Unterschriften unter ihre Petition. Die Frage, ob sie es toll findet, dass so viele Menschen ihre Meinung teilen, weist sie zurück.
"Sie teilen nicht meine Meinung, aber sie wollen wie ich das uneingeschränkte Grundeinkommen." Woher sie das weiß? Durch die Diskussionen. Im Forum, das die Petition begleitet, diskutieren über 4.000 Leute. In fast allen Beiträgen schwingt das Thema Gerechtigkeit mit. Wie kann eine gerechte Gesellschaft aussehen? Wie kann eine Gesellschaft aussehen, in der Armut alle angeht?
Angeregt wird diese Debatte auch durch Wiests Argumentation. Denn sie setzt das Grundeinkommen bei 1.500 Euro für jeden Erwachsenen und 1.000 Euro für jedes Kind an. Finanziert werden soll es über eine hohe Konsumsteuer. Bisherige Transferleistungen, Steuern und Subventionen sollen eingestellt werden, schreibt sie. Viele, die sich in die Diskussionen im Forum einmischen, glauben, dass 1.500 Euro zu viel und nicht finanzierbar ist und dass die Konsumsteuer ungerecht ist. Sie diskutieren darüber, wie das Bürgereinkommen, das die meisten von ihnen gut finden, gestaltet sein muss, damit es gerecht ist.
Im Forum zur Petition mischen sich viele Leute ein, deren Leben mit Grundeinkommen leichter wäre. Es ist Wiests Verdienst, dass die Diskussion nun offen für alle ist. Bisher nämlich verhandelten in der Öffentlichkeit vor allem Experten und Leute aus der Politik das Für und Wider des Grundeinkommens. Der Nochministerpräsident von Thüringen, Dieter Althaus, ist dafür. Genauso der Chef des Drogeriemarkts dm. Die Grünen sind im Prinzip dafür, Fritz Kuhn allerdings ist dagegen. SPD und Gewerkschaften sind dagegen. Die Linkspartei ist in großen Teilen dafür. Der CDU wird vorgeworfen, sie benutze das Grundeinkommen nur dazu, den Sozialstaat noch weiter zu demontieren. Meistens allerdings streiten sich die Experten nur über die Finanzierbarkeit.
Auch Michael Quadflieg, ein Freund, der bei Wiest zu Besuch ist, mischt sich ein. Er findet 1.500 Euro zu viel. Dann gibt er zu bedenken: "Wenn Diskussionen, wie es uns gut gehen könnte, von vornherein nur reduziert werden auf die Finanzierung, kommen wir nicht weiter." Er wohnt seit mehr als 20 Jahren in Wagenburgen, mit wenig Platz und wenig Ressourcen - das ist der Preis, den er für seine persönliche Freiheit zahlt.
Wiest hat nach dem Abitur selbst zwölf Jahre im Wagen gelebt. Mal in Berlin, mal in anderen Städten, mal auf dem Land. Sie erzählt es auf einem Spaziergang zur Spitze der kleinen Mole in Wieck, dem Greifswalder Vorort, wo sie wohnt. Von dort hat man einen fantastischen Blick auf den Bodden. In der Dämmerung verschmilzt das dunkle Blau des Himmels mit dem des Wassers.
In der Schule, erzählt Wiest, habe sie gemerkt, dass man sich für das, was sie denkt, nicht interessiert. Was aber sollte sie mit ihren Gedanken anfangen? Da ist sie nach dem Abitur in einen Wagen gezogen und hat ohne fließend Wasser, ohne Strom gelebt. "Ich wollte mich an keinem Ort heimisch fühlen, sondern die Gesellschaft von außen sehen. Und später bin ich wieder in die Gesellschaft rein. Eigentlich mag ich Menschen."
Vor sieben Jahren ist sie in ein einfaches Haus, 37 Kilometer von Greifswald, gezogen und ein paar Jahre später doch in die Stadt. Seit sie in Greifswald lebt, betreut sie in ihrem Häuschen auf dem Land als Tagesmutter zusammen mit einer anderen Frau acht Kinder. Die Kleinen dürfen bei ihr viel - im Matsch herumstiefeln, mit Ton bauen, mit Wolle filzen, sich riesige Papierburgen bauen, ja selbst Lagerfeuer machen. Neulich sollte einer zur Vorschuluntersuchung, erzählt Wiest. "Sein erster richtiger Termin im Leben." Der Kleine flehte Wiest an, ja nichts Tolles zu machen an diesem Tag. Sonst würde er zu ihr kommen und nicht zur Untersuchung gehen. "Das ist meine Bestätigung."
Tagesmutter sein ist eine Nische. Der Betreuungsschlüssel stimmt. Die Kinder gewinnen. Weil sie selbst wenig verdient, unterstützen ihre Eltern sie. Der Vater ihrer Kinder kann es kaum.
Es mag an der Dämmerung auf der Mole liegen, die über alles einen weichen Schatten legt. Denn auf die Frage nach ihren zwei Kindern antwortet Wiest, dass sie vier Kinder hat. Die beiden Älteren sind tot. "Auch wenn sie nicht da sind, sind sie doch da." Das erste starb bald nach der Geburt. "Ein schwerer Herzfehler." Und das andere? Susanne Wiest zögert. Wie soll sie antworten? "Dass es nicht kitschig wird. Und ich nicht zu nackt dastehe."
Das Zweitgeborene starb mit 11. Ein Unfall. Sechs Jahre ist das her. "Ich musste so schlagartig wachsen, um dieses Erlebnis verkraften zu können, dass man meinte, meine Knochen krachen zu hören", sagt sie. Und dann: "Ich habe seinen Tod als Anstoß verstanden." Anstoß für was? "Für Verantwortlichkeit für das Leben. Alles Leben."
An der Spitze der Mole stehen drei aus Holz geschnitzte Köpfe mit großen Ohren und tiefen Augen und Mündern. Sie wirken wie Mahner, die ja hören, ja sehen, ja sprechen wollen.
Wiest strebt nicht nach dem Großen. Aber wenn etwas groß wird, so wie jetzt die Petition, so wie damals der Tod des Kindes, dann flüchtet sie nicht.
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