Manchmal kann das Leben so einfach sein. Und so geregelt. Zum Beispiel, wenn man als Kanzlerin in Delhi begrüßt wird. Rechts und links von sehr weißen Reitern auf sehr dunklen Pferden eskortiert, fährt die Limousine auf den weiten Platz vor dem Amtssitz des Präsidenten zu. Der indische Protokollchef führt den Gast auf ein beschattetes Podest. Es folgen, minutiös geregelt, die Nationalhymnen, die laut gebrüllte Meldung des Kommandeurs der Ehrenformation, das Abschreiten der Soldaten und der erste Handschlag mit dem indischen Premier. Nichts läuft schief. Man weiß, wie es ausgeht.
Für Angela Merkel ist das nach zehn Jahren Kanzlerschaft reine Routine. An diesem Morgen aber fühlt es sich an wie eine kleine Atempause. Überraschungsfrei und abgezirkelt. Denn die Situation, in der sich Deutschland im Jahr elf mit Merkel befindet, ist mit Routine längst nicht mehr zu lösen. Die Flüchtlinge und die Mühen, ihre Aufnahme zu bewältigen, ist den Menschen, den Bürgermeistern, den Landräten, den privaten Helfern, den Parteien und deshalb auch Merkels Koalition sehr nahe gekommen. Es bedrängt, es macht Sorgen, es verunsichert. Man spürt auf dieser Reise, bei der vier Bundesminister Merkel begleiten: Es zehrt an den Nerven.
Natürlich soll es in Indien auch um Indien gehen
Natürlich ist das anders geplant gewesen. Natürlich soll es in Indien um Indien gehen. Um engere Kooperationen bei Terrorabwehr und Verteidigung etwa, um einen Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das bald bevölkerungsreichste Land der Erde plant Großes, Hochgeschwindigkeitsstrecken zum Beispiel, den Ausbau erneuerbarer Energien, moderne Verkehrssysteme. Aus diesem Grund sind mit Merkel Wirtschaftsvertreter wie Siemens-Chef Joe Kaeser, Airbus-Vorstandschef Thomas Enders oder Post-Chef Frank Appel nach Indien gekommen.
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Die Bundesregierung als Handelsvertreterin der eigenen Wirtschaft - das hat Merkel noch nie abgeschreckt. Es bereitet Vergnügen. Immer dann, wenn Regierungskonsultationen mit einem der großen Länder dieser Erde anstehen, liefert sie schon auf dem Flug eine Fülle an Infos - über die innenpolitische Lage des Landes, die außenpolitischen Probleme und die wirtschaftlichen Herausforderungen. Sie mag es, den Blick auf einen anderen Teil der Welt zu lenken.
Von ihren Sorgen reden die Minister nicht öffentlich
Diesmal freilich gelingt das nicht so richtig. Schon bald nach der Ankunft - auf den Fluren des Hotels, beim Empfang, im Aufzug, beim Frühstück - kann man Ministern begegnen, die sich schwertun, mit ihren Gedanken in Indien zu bleiben. Keiner mag öffentlich reden. Aber wenn die Mikrofone aus sind, legen sie ihre Sorgen offen.
Da ist der eine, der am Wochenende zahlreiche Frauen traf, die sich in privaten Hilfsorganisationen engagieren. Hochmotivierte Menschen seien das, Menschen, die helfen wollten. Aber, so erzählt er es mit sorgenvollstem Blick, diese Frauen hätten geschildert, wie sie immer stärker das Gefühl beschleiche, dass man in Berlin die Lage gar nicht mehr wahrhaben wolle. Es werde gefährlich, sagt der Minister, wenn die Sichtweisen so stark auseinanderklafften.
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Danach kommt ein Minister, der besonnenerer wirken möchte. Er räumt ein, dass die Situation für Politiker die schwerste ist, die man sich denken könne. Eine Lage, in der niemand wissen und erst recht niemand sagen könne, wie alles ausgeht. Nicht schön sei das und schwer auszuhalten. Dann sagt er zu den Rufen, man müsse den Flüchtlingszulauf jetzt schnell bremsen, er lasse sich ja gerne mal auf den Gedanken ein, Deutschland könne für sich das Asylrecht ändern oder Grenzzäune bauen. Nur: ,,Wollen wir wirklich hinter die Genfer Flüchtlingskonvention zurückfallen?'' Und: ,,Glauben Sie wirklich, wir könnten die Flüchtlinge damit aufhalten?'' Er schüttelt den Kopf. Ersteres will er nicht und zweiteres hält er für ausgeschlossen. Ohne Europa, ohne die Türkei, sagt der Minister, könne man vieles versprechen, aber man werde kaum etwas halten.
Ein paar Minuten später, beim Empfang, kommt der dritte Minister. Er gehört zu denen, die Alarm schlagen möchten. "Ich kann Ihnen sagen, die Probleme wachsen und wachsen." Das gelte für Bayern, für Jordanien, für Afghanistan, er ist drauf und dran, seine Liste immer weiter auszudehnen. "Wenn wir nicht umsteuern", erklärt er mit lauter Stimme, "dann kommen noch viele Millionen." Er meint das sehr ernst - und erinnert daran, dass er das schon seit Langem vorhergesagt habe.
Beim Thema Flüchtlinge ist Merkel ganz sie selbst
Wer den Alarm in seiner Stimme hört, würde jetzt gerne Sigmar Gabriel sprechen. Der Vizekanzler hatte kurz vor der Reise fast schon den Seehofer gegeben. Auch in einer SPD-Schalte am Wochenende, so heißt es, habe er sehr entschlossen ein ganz schnelles Zeichen für eine Begrenzung gefordert. So gesehen dürfte es für Merkel eine glückliche Fügung sein, dass er - anders als geplant - nicht mit an Bord kam. Natürlich beteuern alle, dass das keine innenpolitischen Gründe habe. Ihm hätten auf indischer Seite schlicht die Gesprächspartner gefehlt. Das sei alles.
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Und Angela Merkel? Sie ist nicht bereit, etwas zu ändern. Ihr Kurs ist nicht nur Ergebnis nüchterner Abwägung. Die Flüchtlinge sind zu einem Thema geworden, bei dem sie wie selten ganz sie selbst ist. Da lässt sich nichts einfach so ändern. Dabei räumt sie in einem kurzen Moment ein, dass die Menschen in dieser Situation "Ordnungssignale" erwarten würden. Das aber könne nicht heißen, falsche Versprechungen zu machen. Zäune, Transitzonen, demonstrative Erklärungen, dass Deutschland nicht alle aufnehmen könne - Merkel glaubt nicht, dass man die Flüchtlinge mit nationalen Reflexen aufhalten könnte.
Indiens Premier übrigens erklärt nach dem Treffen, die ,,Führungskraft'' der Kanzlerin sei ,,ein zuverlässiger Anker, in schwierigen Zeiten für Europa und für die Welt". So kann man das auch sehen. Jedenfalls in Indien.