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Private DNA-Analysen: "Wie bei einer Wahrsagerin" - DER SPIEGEL
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Private DNA-Analysen "Wie bei einer Wahrsagerin"

Das menschliche Genom ist entziffert, aber die Genrevolution ist ausgeblieben. Dennoch profitieren Firmen kräftig von privaten DNA-Analysen. Was bringt ein Test wirklich? Medizinethiker Urban Wiesing sagt im Interview: Die Verbraucher werden getäuscht.
DNA-Strang (Zeichnung): "Früher hat der Mensch Orakel befragt"

DNA-Strang (Zeichnung): "Früher hat der Mensch Orakel befragt"

Foto: NHGRI
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Berlin - Von Aufbruch, Euphorie und Entdeckergeist ist wenig übrig geblieben: Elf Jahre nach Entzifferung des menschlichen Genoms berieten kürzlich 110 Genetiker, Philosophen und Medizinethiker in Berlin über die aktuelle Lage der Gendiagnostik - und ihre Zukunft. Vor allem Privatfirmen, die DNA-Analysen über das Internet anbieten, bereiten deutschen Wissenschaftlern Sorge: Die Gentests können in Einzelfällen heikle Informationen liefern, die nicht von einer ärztlichen Beratung begleitet werden, so die Sorge von Ethiker und Philosoph Urban Wiesing.

SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Wiesing, haben Sie Ihr Genom schon analysieren lassen?

Wiesing: Nein, das habe ich auch nicht vor. Nach dem jetzigen Stand der Dinge erwarte ich keine relevanten neuen Erkenntnisse für mich. Wenn ich irgendwelche Informationen mit Vorhersagewert über meine Gesundheit haben wollte, gibt es dafür längst genug andere Anhaltspunkte.

SPIEGEL ONLINE: Mal angenommen, Ihre Gene beinhalten die Information, dass Sie in fünf Jahren an Alzheimer erkranken. Würden Sie das nicht wissen wollen?

Wiesing: So weit ist die Wissenschaft noch nicht. Und wir wissen auch nicht, ob sie jemals an diesen Punkt kommen wird. Alzheimer zählt zu den multifaktoriellen Krankheiten, bei denen mehrere Gene lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit signalisieren, daran zu erkranken. Der Vorhersagewert der Genetik ist bei diesen Erkrankungen bis auf wenige Ausnahmen sehr klein. Aber es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft Verbesserungen hinzukommen. Dann müsste ich mir unter zwei Aspekten überlegen, ob ich so etwas machen wollte. Erstens: Kann ich Prävention betreiben? Und zweitens: Will ich meine Lebensplanung, beispielsweise meine Familienplanung darauf einstellen? Wenn die Aussagekraft der Tests besser werden sollte, wäre so ein Test durchaus erwägenswert.

SPIEGEL ONLINE: Die Diabetes-Forschung kennt bereits mehrere Gene, die das Auftreten eines Diabetes Typ II begünstigen. Ändert ein Mensch seinen Lebensstil, wenn ein DNA-Test ihm seine genetischen Schwachstellen offenbart?

Wiesing: Die wenigen Studien, die es gibt, zeigen, dass der Patient sein Verhalten nicht verändert. Und dafür gibt es einen guten Grund: Wir haben bereits hervorragende prädiktive Tests, die das Risiko viel besser vorhersagen als eine Genuntersuchung. Man muss sich doch nur auf die Waage stellen, den Speiseplan überprüfen und die körperliche Aktivität anschauen. Dadurch gewinne ich viel mehr Erkenntnisse über mein Diabetes-Risiko als die Gentests mir auch nur ansatzweise im Moment liefern könnten.

SPIEGEL ONLINE: Als vor elf Jahren das erste menschliche Genom entziffert wurde, riefen die Wissenschaftler die genetische Revolution aus. Wo ist sie eigentlich geblieben?

Wiesing: Das frage ich mich auch. Es gab sogar Vorhersagen, dass in 15 bis 20 Jahren die Medizin im Wesentlichen aus Gentherapie bestehen würde. Derzeit gibt es aber keine einzige mir bekannte Studie, die Gentherapie nah an der therapeutischen Nutz- und breiten Einsetzbarkeit untersucht. Kurzum: Im Bereich der Genetik wurden angesichts der neuen Entdeckungen Prognosen in die Welt gesetzt, die weit überzogen waren.

SPIEGEL ONLINE: Ist das Zeitalter der Genmedizin vorbei, bevor es begonnen hat?

Wiesing: Das würde ich so nicht sagen. Es gibt eine gewisse Ernüchterung. Nach dem euphorischen Ausbruch ist jetzt klar, dass wir die Technik in bestimmten Bereichen sehr gut nutzen können und in anderen nicht. Derzeit ist es unsere Aufgabe, diese Bereiche voneinander zu trennen.

SPIEGEL ONLINE: Es werden weiterhin Millionen in die Genforschung investiert. Das Resultat sind über 1200 bekannte Genpositionen und keine einzige zugelassene Therapie. Wie geht die Wissenschaft mit dieser Diskrepanz um?

Wiesing: Sie forscht weiter und das ist gut so. Ich halte es für töricht, der Wissenschaft vorzuschreiben, was sie untersuchen soll und was nicht. Allerdings müssen wir uns die Fragen stellen, wohin wir die Geldströme schicken. Da sehe ich zuweilen ein Ungleichgewicht. Beim Herzinfarkt haben wir bereits sehr gute Parameter für eine Vorhersage, und die Genetik hat uns an dieser Stelle kaum weitergebracht. Auch die Tatsache, ob ein Mensch raucht oder nicht, sagt mir deutlich mehr über sein Lungenkrebs-Risiko als seine Gene. Das Problem ist nicht, dass wir nicht voraussagen könnten, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Erkrankungen auftreten, sondern dass wir aus diesen Voraussagen keine Konsequenzen ziehen. Vielleicht sollten wir unser Geld besser in die präventive Medizin investieren, die anhand bereits vorhandener Aussagen gegen das Auftreten dieser Krankheiten vorgeht.

SPIEGEL ONLINE: In der Bevölkerung besteht ein großes Interesse an DNA-Analysen. Immer mehr Menschen nutzen Firmenangebote aus dem Ausland, die Gene ihrer Kunden schon für weniger als 100 Dollar entziffern und mit Slogans werben wie "Kenne deine Gene, dann kennst du dich selbst".

Wiesing: Hier wird der Verbraucher getäuscht, denn die wissenschaftlichen Grundlagen für die allermeisten Aussagen stimmen nicht. Wenn man sein Geld zu einer Wahrsagerin auf der Kirmes trägt, erhält man den gleichen Erkenntnisgewinn. Früher hat der Mensch Orakel befragt, heute sendet er sein genetisches Material zu ausländischen Firmen.

SPIEGEL ONLINE: Warum entspricht es in Ihren Augen einem Orakel, wenn beispielsweise ein 30-jähriger Mann durch eine Genanalyse erfährt, dass er ein 30 Prozent höheres Risiko für Prostatakrebs hat?

Wiesing: Weil die wissenschaftliche Basis für die Entwicklung eines Tumors der Prostata ebenso wie für viele andere Tumoren noch umstritten ist. Die Genetik weiß lediglich, dass bestimmte Gene häufiger bei Menschen auftreten, die Prostatakrebs bekommen. Ob sie tatsächlich ausschlaggebend für die Erkrankung sind, welche Rolle die Epigenetik spielt, ob die Gene also aktiviert sind oder nicht, das ist noch Gegenstand der Forschung - und zwar bei fast allen multifaktoriellen Erkrankungen. Die Angelegenheit ist komplizierter, als wir lange glaubten.

SPIEGEL ONLINE: Das deutsche Gendiagnostik-Gesetz verbietet Firmen in Deutschland, private Genanalysen anzubieten. Nur: Wenn eine Apotheke nutzlose homöopathische Kügelchen verkaufen darf, warum soll eine Firma nicht auch orakelgleiche Genanalysen anbieten dürfen?

Wiesing: Man soll ein wissenschaftlich höchst fragwürdiges Angebot nicht als Legitimation für ein anderes nutzen. Außerdem sehe ich hier noch Unterschiede. Sie müssen bedenken, dass Sie bei einer prädiktiven Diagnostik in Einzelfällen mit sehr konkreten Informationen konfrontiert werden. So kann dabei herauskommen, dass Sie die DNA für Chorea Huntington in sich tragen. Das ist nicht nur für Sie, sondern auch für Ihre Familie relevant. Und ich halte es für sinnvoll, dass das komplexe, schwierige Wissen, das bei einer solchen Gendiagnostik ermittelt wird, im Rahmen einer ärztlichen Beratung erläutert wird. Sonst droht die Gefahr, dass die Patienten das missverstehen. Ein Internetanbieter kann das nicht gewährleisten und deswegen sind solche Firmen in Deutschland verboten.

Das Interview führte Heike Le Ker