Der 1872 eröffnete Wiener Nordwestbahnhof mit einem bis heute noch operierenden Containerterminal der ÖBB stellt einen der letzten zentrumsnahen Logistik-Knoten der Stadt Wien dar. Ende des Projektjahres 2017 werden alle Verträge mit den Mietern und Untermietern auslaufen, um mit dem Abbruch des Geländes für den Bau eines neuen Stadt-Entwicklungsgebietes zu beginnen.
Die großen privaten Logistik-Unternehmen sind durch die wiederholte Ankündigung und Verschiebung der Schleifung des Areals zum Teil bereits abgewandert – sie halten aber noch Büros und Lager vor Ort. Währenddessen haben sich unzählige kleinere Transportbetriebe untergemietet. Busunternehmen stellen hier Touristen-Busse ab, eine „multi-kulturelle“ Fahrschule nutzt das Areal als Übungsgelände. Und auch der bedeutendste Filmausstatter Österreichs Props und Co. wird im Laufe des Jahres ausziehen müssen.
Viele der hier zuliefernden LKW-Fahrer, parkenden Busfahrer, Lager-Angestellten und auch einige der Unternehmer haben Migrationshintergrund. Daher lässt sich an diesem Ort nicht nur die Transformation des urbanen Raums, sondern über die Biografien der vor Ort tätigen Akteure, auch die vergangene Mobilitäts- und Migrationsgeschichte der Stadt nachzeichnen:
Zu diesem Zweck haben wir vor Ort einen Projektraum bezogen, um eingebettet das soziale Milieu der Logistiklandschaft, (Video-)Interviews und (Foto-)Portraits mit den hier tätigen Akteuren zu führen, diese auch um signifikante Objekte ihres Berufsalltages zu bitten, und sukzessive eine mehrschichtige multimediale Kartografie der Migrations- und Mobilitäts-Erfahrungen der Akteure zu erstellen. Die Ergebnisse der Recherchen werden nicht nur in einer kleinen „musealen“ Inszenierung im Projektraum ausgestellt (insbesondere die audiovisuellen Arbeiten), sondern werden auch in die öffentlichen Bereiche des Areals des Nordwestbahnhofs ausgreifen. Träger für die Outdoor-Interventionen können Fassadenteile sein, nicht genutzte Bauteile wie etwa Laderampen oder auch die Fahrzeuge selbst.
Die durch die KünstlerInnen platzierten Kunstwerke am Areal spannen einen Parcours durch unterschiedliche Zonen auf und verweisen auf verschiedene Aspekte seiner Nutzungs- und Zwischennutzungsgeschichte:
Zara Pfeifer: Good Street!
Seit Lkws nicht mehr nur begehrte Güter über den Kontinent führen, sondern auch als Waffen benützt werden, haben sie eine neue Aufmerksamkeit. Zara Pfeifer fotografiert einerseits anonyme Lkws, die reklamelos wie Zensur-Balken im Bild die Sicht versperren und ihre Ladung hinter den monochrom Planen verborgen halten, andererseits – vom Terminal Nordwestbahnhof ausgehend – den Lkw als persönliches Reich, mit einem oft kostspielig ausgestatteten Führerhaus, um den Gewohnheiten der Langstreckenfahrer zu genügen. Auf einer Tour von Prag nach London hatte die Fotografin Gelegenheit, den Alltag der Fahrer aus nächster Nähe kennenzulernen, endlose Fahrten und Pausen, Logistikareale und Raststätten. (Ruth Horak)
Diese Fotos werden in großformatigen Wandtapeten auf den Fassaden der Lagerhallen affichiert und in den Alltag am Logistik-Knoten zurückgespiegelt.
Martin Kaltwasser: Oasen, 2017
Die Oasen auf dem Logistikareal des ehemaligen Wiener Nordwestgüterbahnhofs sind grüne Nischen, scheinbar vergessene und verwahrloste Restflächen, in denen sich Spontanvegetation ausbreitet, stille Widerstandsnester inmitten einer reinen Businesswelt. In der total monetär dominierten Warenlogistik-Homogenität werden diese Restflächen bis auf wenige Ausnahmen nur marginal bis gar nicht wahrgenommen und sind teilweise gnadenlos zugemüllt. Drei dieser Flächen hat Martin Kaltwasser acht Tage lang bearbeitet, vom Müll befreit und mit gezielten kleinen Einbauten ergänzt, vor Ort konstruiert aus Restmaterialien des Logistikareals.
Gleisoase: Auf dem stillgelegten Güterbahngleis in der Ladestraße 1 zeigt sich nach dem Motto One Man’s Trashbin is another Man’s Paradise Garden nun zwischen und neben den freigelegten Gleisen eine sensible, eigentümliche Vegetationswelt, ein romantischer Wildgarten.
Omas Oase: In der Ladestraße 3 hat die Mutter der Firmeninhaberin einer dort angesiedelten Küchenvertriebsfirma zwischen zwei Lagergebäuden ihren kleinen liebevoll gestalteten Garten angelegt. Die betagte Gärtnerin konnte sich aus gesundheitlichen Gründen in letzter Zeit kaum um den Garten kümmern. In Absprache mit ihrer Tochter rekonstruierte Martin Kaltwasser den Garten akribisch und fügte Elemente hinzu.
Vergessener Pool: In der südöstlichen Ecke des Areals, neben den stillgelegten Containerkränen, befindet sich in ein leeres Betonbecken unklarer Bestimmung. Hinzugefügte Bodenmarkierungen, zwei gebastelte Startblöcke und einer Badeleiter aus gefundenem Holzplattenmaterial und Einwegpaletten verwandeln das Becken in einen Ort mit gleichzeitig eindeutiger wie unklarer Oasenvergangenheit.
Katrin Hornek und Johanna Tinzl: Dass die Chain ihren Core Supply verliert, war der Cloud als erstes klar
Sound- und skulpturale Intervention, 3D ABS-Kunststoff-Druck, Ladungssicherungsnetz, Hörstück, 10 min. Das Kreuzbein war gerade auf dem Weg zur grünen Mitte Wien Nordwest. Es gab keine konkrete Bestellung und doch demand für seine Materialisierung. Es sollte ins schwebende Lager in die Region gestellt werden. Aber: Totalausfall. Es versucht über multimodale Vernetzung mit seiner Supply Chain Kontakt aufzunehmen. Vergeblich.
Es ist 2039. Das World Wide Web gibt es seit 50 Jahren und die Steuerungsarchitekturen laufen eigentlich stabil. Doch bei den diesjährigen Leap Millisecond Einfügungen in die koordinierte Weltzeit ist etwas schief gelaufen. Random fällt daher ein nicht fertig gedrucktes Objekt aus der Cloud und landet entgeistert im Jahr 2017 im Areal. Zustandsmeldung: error print/navigation lost/regular cargo/rack good. Der Monolog beginnt.
Die Erzählung zum (nach) hören unter: http://tracingspaces.net/core-supply/
Helmut und Johanna Kandl
Malen im Zentrum der riesigen Anlage das internationale Zeichen der Genfer Konvention zum Schutz für Kulturgut auf den Straßenbelag auf, in einer Größe, dass es von Flugzeugen erkenntlich ist, und in einer Technik, die das Zeichen schon Jahrzehnte alt und dementsprechend abgenutzt erscheinen lässt, um auf das vielfältige Kulturerbe hinzuweisen, das in diesem Areal eingeschrieben ist.
Gabriele Sturm: beladen/unbeladen
Im Areal des Güterbahnhofes Nordwest fahren werktags täglich LKWs unbeladen hinein und beladen hinaus oder laden aus und wieder ein.
Gabriele Sturm abstrahiert Daten und Fakten des Gütertransportes auf eine Abformung des Gewichtsunterschiedes der LKWs beladen/unbeladen. Diese Abformung der Differenz mit und ohne Waren visualisiert auch den Abdruck des Bodens am Areal Nordwestbahnhof. © Gabriele Sturm
Gabriele Sturm: Nwbhf hpfmbh „nordwestbahnhof handelsplattform mit beschränkter haftung“
Handel = Kultur: Das System des Handels hat Gabriele Sturm von verschiedensten Perspektiven aus fokussiert: Arbeitsbedingungen, Logistik, Konsumverhalten mit Intervention für lokale Netzwerke, Handelsketten: so begleitete sie 2006/7 20 Tonnen Tomaten über 3000 km im LKW von der Südtürkei bis zu ihrem Distributionsort in Wien Inzersdorf, dokumentierte diese Parallelwelt mittels Foto, Video und Echtzeit-Performance.
Aufbauend auf diesen Recherchen und Erfahrungen wird Gabriele Sturm diesmal selbst zu einem Glied der Handelskette und wechselt von der Beobachterposition in die Akteurs-Rolle, um den Prozess „Handel = Kultur“ transparent zu machen. Als gewerblich registrierte Handels-Unternehmerin gründete sie die Handelsplattform Nordwestbahnhof und kooperiert mit dort lokalisierten Betrieben. Waren, welche am Güterbahnhof Nordwest angeliefert werden, werden von ihr verhandelt, behandelt und gehandelt. Güter sind Teil des Lebens und so zahlreich im Umlauf wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Diese Güter werden im Online Shop sichtbar und vor Ort in Überseekisten gelagert. Allgemeiner Handel wie Kunstmarkt sind zwei unterschiedliche Kontexte, in welchen diese Warenobjekte changieren können.
www.handelsplattform.gabrielesturm.net
Ina Weber: Tischkicker / Frauenteam
Einen kurzweiligen Zeitvertreib bietet den Benutzern und Besuchern des Logistik-Areals die Außenskulptur von Ina Weber. In einer Situation des Wartens, zwischen Fuhren, vor dem Ausladen, in der Pause kann der Tischkicker seinen Benutzern Bewegung verschaffen, helfen, einen Konflikt auf sportliche Weise auszutragen, oder einfach Spass machen.
Es ist ein freies Angebot: Wenn die Bälle im Kicker verschwunden sein sollten, lässt sich günstiger Ersatz im aufgehängten Automaten ziehen. Das Einzige, was der Benutzer finden muss, ist einen (oder mehrere) Mitspieler. Kickern ist kommunikativ und eine gemeinschaftliche Aktivität.
Der installierte Tischkicker unterscheidet sich aber in einem Aspekt von den üblichen Modellen: Die Spielfiguren sind nicht abstrahierte männliche Fußballer, sondern zwei Frauenteams mit verschiedenen Konfektionsgrößen, Haar- und Hautfarben. Die vorherrschend männliche Welt des Logistikareals wird spielerisch nachkorrigiert.
Die Arbeit hat an diesem Ort der Transformation auch einen melancholischen Aspekt: denn aufgrund der Veränderung der Arbeitsverhältnisse gibt es kaum mehr Bahn- oder Lagerarbeiter vor Ort und LKW-Fahrer haben kaum mehr Pausen, um das Spiel zu genießen.
Michael Hieslmair und Michael Zinganel
Zeichnen in einer multimedialen Timeline in der ehemaligen Panalpina-Kantine die Nutzungsgeschichte des Areals nach, vom Überschwemmungsgebiet zum Kopfbahnhof und über die Zwischennutzungen für eine Schihalle und nationalsozialistischen Propagandaveranstaltungen zum modernen Güterumschlagplatz.
Mit einem differenzierten Veranstaltungsprogramm versuchen wir Nutzer_innen, Besucher_innen aus den benachbarten Bezirken sowie Kulturpublikum an zu sprechen.
Ziel des Projektes ist es, die Geschichte eines speziellen Ortes der Stadt Wien vor seinem Verschwinden noch einmal in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Dieser ist nicht nur ein geschichtsloser kalter anthropologischer Nicht-Ort, sondern eine bedeutende Hinterbühne zur Versorgung der Stadt und ein wichtiger Knotenpunkt für Akteure deren Arbeiten die Stadt Wien mit am Funktionieren halten.
STADT IN BEWEGUNG wurde konzipiert und organisiert von Tracing Spaces. Institut für künstlerische und wissenschaftliche Forschung und wird unterstützt von KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien.
Text: Tracing Spaces
Ort
Tracing Spaces Projektraum, Ladestraße 1, 1200 Wien
Galerie
Weiterführende Info
KünstlerInnen
Katrin Hornek
*1983 in AT
lebt und arbeitet in Wien (AT)
katrinhornek.com
Helmut und Johanna Kandl
*1953 in Laa/Thaya (AT)
*1954 in Wien (AT)
leben und arbeiten in Wien (AT) und Berlin (DE)
Martin Kaltwasser
*1965 in Münster (DE)
lebt und arbeitet in Berlin (DE)
koebberlingkaltwasser.de
Zara Pfeifer
*1984 in Köln (DE)
lebt und arbeitet in Wien (AT)
zarapfeifer.com
Gabriele Sturm
lebt und arbeitet in Wien (AT)
gabrielesturm.net
handelsplattform.gabrielesturm.net
Johanna Tinzl
*1976 in Innsbruck (AT)
lebt und arbeitet in Wien (AT)
johannatinzl.net
Ina Weber
*1964 in Diez (DE)
lebt und arbeitet in Berlin (DE)
Michael Hieslmair und Michael Zinganel
*1974 in Linz (AT)
*1960 in Bad Radkersburg (AT)
leben und arbeiten in Wien (AT)
mhmz.at
Zeitraum
Jänner bis November 2017
Öffnungszeiten Projektraum und Ausstellung:
Mittwoch - Freitag 15-19 Uhr
Samstag, Sonntag 11-15 Uhr
Feiertags geschlossen
Besuchszeiten (Empfehlung) der Interventionen am Areal / Parcours:
Freitag 15-20 Uhr
Samstag, Sonntag, Feiertag 11-20 Uhr
Führungen nach Vereinbarung und bei jeder Veranstaltung am Areal.
Vermittlung - Veranstaltungen
- Projektvorstellung Donnerstag, 16. März 2017 / 18:00
- Rundgang Areal Freitag, 17. März 2017 / 12:00
- Eröffnung Freitag, 5. Mai 2017 / 16:00
- Eröffnung der UPDATES Freitag, 15. September 2017 / 17:00
- Tour Freitag, 20. Oktober 2017 / 15:00
Presse
Links
Stadt in Bewegung - Termine
Handelsplattform Nordwestbahnhof - Gabriele Sturm