Der „Goldene Löwe“ des 81. Filmfestivals von Venedig geht an das Drama „The Room Next Door“ von Pedro Almodóvar, in dem Tilda Swinton und Julianne Moore zwei Freundinnen spielen, von denen eine die andere beim Sterben begleitet. Die Jury unter Isabelle Huppert zeigte bei der Preisvergabe aber auch ein Herz für sperrigere Arbeiten wie „The Brutalist“ von Brady Corbet oder politisch Relevantes wie „I’m Still Here“ von Walter Salles.
An dem stilvollen Auftritt von Julianne Moore und Tilda Swinton sowohl auf der Kinoleinwand wie auch in Persona auf dem Lido von Venedig war bei der 81. „Mostra internazionale d’arte cinematografica“ (28.8.-7.9.2024) kein Vorbeikommen. Nachdem die Hauptdarstellerinnen von „The Room Next Door“ bei der Premiere mit nicht enden wollendem Applaus gefeiert worden waren, konnte auch der spanische Regisseur Pedro Almodóvar bei der feierlichen Abschlussgala den „Goldenen Löwen“ in Empfang nehmen. Wobei es sich bei dieser Entscheidung vielleicht auch ein wenig um ein Geschenk zum bevorstehenden 75. Geburtstag des Regisseurs am 25. September handelte.
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Der Film um
zwei langjährige Freundinnen, von denen eine (Swinton) an Krebs erkrankt ist
und ihrem Leben ein Ende setzen will, wobei die andere (Moore) sie begleiten
soll, verhebt sich ein wenig an seinem Thema. Das Für und Wider der Entscheidung
wirklich abzuwägen, ist nicht Almodóvars Sache. Es ist bezeichnend, dass das
einzige wirkliche Contra von einem denkbar verbohrt
und unsympathisch gezeichneten Polizisten kommt, der nach dem Tod der Kranken ermittelt
und der Freundin eine Mitschuld anlasten will. Dabei hat er nicht viel
Differenzierteres oder Empathischeres beizutragen, als dass der selbstgewählte
Tod gegen das Gesetz und gegen göttliches Gebot verstoße.
In die Debatte um Euthanasie und Medikamente, die Sterbewilligen ein selbstbestimmtes Ende gewähren, steigt „The Room Next Door“ nicht wirklich ein. Der Film feiert stattdessen die das Leben wie das Sterben umfassende Souveränität und die Solidarität zweier Frauen um die 60. Und das mit einem Overkill an Stil und Schönheit, der „The Room Next Door“ trotz seines tragischen Themas zum wohl glamourösesten Film des diesjährigen Wettbewerbs machte.
Auch über „The Room Next Door“ hinaus dürfte die 81. „Mostra“ als Feier der großen Kino-Diven in die Geschichte eingehen. Nachdem es 2023 in Folge des US-amerikanischen Schauspielerstreiks relativ ruhig auf dem roten Teppich zuging, sorgten in diesem Jahr vor allem Frauen wie Angelina Jolie („Maria“), Cate Blanchett („Disclaimer“) und Nicole Kidman („Babygirl“) dafür, dass klatschende Fan-Hände und Fotokameras heiß liefen.
Nicole Kidman gewann für ihren Part im Erotikdrama „Babygirl“ den Preis der besten Darstellerin, musste aber der Preisverleihung kurzfristig fernblieb, weil ihre Mutter verstorben ist; dafür ließ sie die Regisseurin Halina Rejin einen hochemotionalen Gruß verlesen. „Babygirl“ ist als ganzer Film zwar nicht der ganz große Wurf, weil er beim Versuch, die Obsessionen der weiblichen Hauptfigur auszuloten, seltsam halbherzig verfährt. Doch Kidmans Darstellung, die sehr offen mit ihrer gebotoxten Erscheinung spielt und diese geschickt in die Story einbaut, ist allerdings durchaus beachtlich.
Das Schatten des Faschismus
Es gab auch eine „Mostra“ jenseits des Star-Glamours. In vielen Filmen ging es auffällig um die Fragilität von Demokratien, die Verführungskraft rechter Ideologie und die Gewalt, die diktatorische Regime im 20. Jahrhundert entfesselt haben. Von Andres Veiels „Riefenstahl“ bis zu der Serie „M - Il figlio del secolo“ von Joe Wright, die vom Aufstieg Benito Mussolinis handelt, zog sich das als wichtigster roter Faden durch den Wettbewerb.
Die
internationale Jury bewies dafür durchaus einen Sensus, indem sie einige dieser
Werke mit Preisen ehrte. Der aufregendste Film ist sicherlich Brady Corbets
70mm-Mammutfilm „The Brutalist“ um einen ungarisch-jüdischen
Architekten (Adrien Brody), der die Shoah überlebt und in die USA
emigriert, um sich dort im Zuge eines ambitionierten Bauprojekts im Bann eines
Herrenmenschen kapitalistischer Prägung wiederzufinden.
Corbet hat viel Mühe und Herzblut in diese Arbeit gesteckt. Der „Silberne Löwe“ für die beste Regie ist eine schöne Belohnung dafür, die hoffentlich dazu beiträgt, dem Film die verdiente Aufmerksamkeit zu sichern. Corbet nutzte seine Dankesrede bei der Preisverleihung zu einem Appell an die Community, Film als Kunst zu verteidigen, die Gesellschaften mitgestaltet und viel bewirken kann.
Der Preis fürs beste Drehbuch ging an Murilo Hauser und Heitor Lorega, die Autoren von „I’m Still Here“. Der Film, der auch mit dem Preis der SIGNIS-Jury geehrt wurde, kreist auf emotional packende wie kluge, ebenso schmerzhafte wie am Ende auch Hoffnung machende Weise um die Zeit der Militärdiktatur in Brasilien. Im Zentrum steht stellvertretend für Tausende, die Ähnliches erlitten haben, die Familie des ehemaligen Abgeordneten Rubens Paiva, den das Regime in den 1970er-Jahren verschwinden ließ.
Zu den
Preisträgern gehörte auch Vincent Lindon, der als bester
Darsteller für seinen Part in dem Drama „Jouer avec le feu“ von
Muriel Coulin und Delphine Coulin geehrt wurde. Der Film kreist um einen Vater
und seine beiden fast erwachsenen Söhne in Lothringen, zwischen denen sich ein fataler
Graben auftut, als einer der Jugendlichen sich einer rechtsextremistischen
Gruppe anschließt. Lindon spielt den Vater, einen Arbeiter, der als Streckenwart für
die Bahn tätig ist. Er will seinen Sohn aus der Gruppe herausziehen, doch ihm fehlen
auf tragische Weise die Worte, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er versteht
nicht, worin die Faszination für die nationalistische Ideologie wurzelt, während
sich der Sohn umso mehr verschließt, je mehr er sich in Frage gestellt und
angegriffen fühlt.
Gegen das Verstummen
"Jouer avec le feu" ist eine erschütternde Studie scheiternder Kommunikation. Wie „I’m Still Here“ kämpft der Film entschieden gegen das Verstummen des freien Austauschs und gegen das tödliche Schweigen, das keine gegenseitige Annäherung und keine Kompromisse mehr zulässt. Beide Filme stehen exemplarisch für das, was das Filmfestival von Venedig 2024 so dringend wie selten zuvor sein wollte, nämlich ein Forum für den gesellschaftlichen Diskurs und die Auseinandersetzung.
Als dann zum Ende des Festivals in der Serie „M – Il figlio del secolo“ von Joe Wright der Geist des italienischen Diktators Benito Mussolini heraufbeschworen wurde, unter dessen Regime die „Mostra“ 1932 ins Leben gerufen wurde, lief es einem fast kalt den Rücken hinunter. Die achtteilige Serie kreist um den Aufstieg des „Duce“ und zeichnet diesen entlang der historischen Ereignisse nach. Allerdings nicht als nüchternen Geschichtsstoff, sondern als grotesk-gruselige Mischung aus Commedia dell'arte mit Mussolini als überheblichem „Dottore“, Shakespeares „Richard III“ und einem Hauch von „Die 120 Tage von Sodom“-Bitterkeit, wenn die Gewaltexzesse der faschistischen Schwarzhemden drastisch bebildert werden.
Die Serie gipfelt in Ereignissen vor ziemlich genau 100
Jahren, als der skrupellose Mord an Mussolinis politischem Gegner Giacomo Matteotti das Regime der Faschisten angesichts der öffentlichen Empörung ins
Wanken brachte. Bis es Mussolini schließlich doch gelang, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen
und die rechtsstaatliche Verfassung der konstitutionellen Monarchie so weit
auszuhöhlen, dass ihm nicht mehr beizukommen war.
„M – Il figlio del secondo“ endet mit einer Parlamentssitzung im Frühjahr 1925, wo noch einmal die Chance bestanden hätte, den Diktator herauszufordern und vor Gericht Anklage gegen ihn zu erheben. Doch die Drohung von Gewalt wiegt zu schwer und lässt die Abgeordneten stumm blieben, wo sie reden müssten. „Silenzio?“, fragt Mussolini-Darsteller Luca Marinelli spöttisch-herausfordernd und wendet sich aus der Handlung heraus frontal ans Publikum. Nein, will man ihm erwidern. Nicht in Venedig. Nicht noch einmal.
Die Preise der 81. Mostra in Venedig
Goldener Löwe: „The Room Next Door“ von Pedro Almodóvar
Großer Preis: „Vermiglio“ von Maura Delpero
Spezialpreis der Jury: „April“ von Dea Kulumbegashvili
Beste Regie: Brady Corbet für „The Brutalist“
Beste Darstellerin: Nicole Kidman in „Babygirl“
Bester Darsteller: Vincent Lindon in „Jouer avec le feu“
Bestes Drehbuch: Murilo Hauser, Heitor Lorega in „I’m Still Here“
Bester Debütfilm: „Familiar Touch“ von Sarah Friedland
SIGNIS-Preis: „I’m Still Here“ von Walter Salles
Interfilm-Preis: „Quiet Life“ von Alexandros Avranas
Übersicht über alle Preise beim Filmfestival Venedig 2024