Andreas F. Kelletat
DIE KONSTRUKTION EINER REGION
JOHANNES BOBROWSKIS „SARMATIEN“
Es gehört zu den Traditionen der „International Conference on the Literature of Region and Nation“, dass auch das gastgebende Land mit einem Beitrag zu seiner Literatur zu Wort kommt. Gerne habe ich daher die Einladung angenommen, über ein Thema aus der deutschen Literatur zu sprechen. Die Wahl des Themas ist mir nicht leichtgefallen, denn über Nation und Region gäbe es mit Blick auf die deutsche Literatur eine Menge zu sagen. Das natürlich vor allem, weil das Konzept nationaler Identität in Deutschland besonders problematische und auch sehr abscheuliche Folgen gehabt hat. Und eine Folge dieser Folgen ist, dass deutsche Schriftsteller nach 1945 große Mühe hatten mit Begriffen wie „Nation“ oder „Vaterland“. Es waren Tabu-Wörter geworden. Und nicht nur die Wörter wurden gemieden, auch der durch sie bezeichnete Themenkomplex. Statt an Nationales hielten sich viele deutsche Autoren lieber an Regionales. Oder platter formuliert: Nicht Berlin und Deutschland sind Thema der sog. Nachkriegsliteratur, sondern die je eigene überschaubare Region, die dann aber wieder keineswegs als „Heimat“ bezeichnet werden darf, denn auch dieses Wort ist bis in die 70er Jahre tabu.
Man schaue auf die Autoren der in den 50er und 60er Jahren sehr einflussreichen Gruppe 47. Was wird von ihnen in Erinnerung bleiben? Das von Günter Grass beschriebene Spießertum Danzigs, Hans Werner Richters Waterkant-Milieu, Heinrich Bölls Kölner Küchenmief, Martin Walsers Bodensee-Idyllen... Mit Regionalbelletristik ist die deutsche Nachkriegsliteratur also gut versorgt. Weltfähigkeit ist ihr Kennzeichen nicht - mit zwei Ausnahmen vielleicht: Uwe Johnson und Johannes Bobrowski.
Uwe Johnson gelingt mit seinem vierbändigen Roman Jahrestage („Anniversaries“) eine ganz erstaunliche Synthese aus Regional- und Weltstadtliteratur: Der zwischen 1967 und 1983 entstandene Roman spielt in der tiefsten mecklenburgischen Provinz und zugleich in der Stadt der Städte, in New York. Johnsons Synthese ist so erstaunlich, weil der Gegensatz Großstadt – Provinz die deutsche Literatur einst förmlich gespalten hatte. Gemeint ist jene radikale Polarisierung der literarischen Szene in den Jahren vor 1933. Als prototypische Antagonisten können die Romane Volk ohne Raum (1926) von Hans Grimm und Berlin Alexanderplatz (1929) von Alfred Döblin genannt werden. „Berlin contra Provinz“ hieß die ideologische Konfliktformel. Und in unheilvoller Aufladung wurden Begriffspaare gebildet wie: Großstadt – Landschaft, Zivilisation – Kultur, Literat – Dichter, Intellekt –Gemüt, Asphalt – Scholle, international – national, modern – traditionsbewußt, jüdisch – deutsch, artfremd – volkhaft, wurzellos – bodenständig usw. (vgl. Meyer 1985, 2-5 und Mecklenburg 1982, 71-110).
Mit der von den Nazis in Schule, Universität und Verlagen geförderten „Blut-und-Boden-Literatur“ wollten die deutschen Nachkriegsautoren nichts mehr zu tun haben. Und auch die Universitätsgermanistik erinnerte sich lieber nicht mehr an eines ihrer Standardwerke, Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Aber verblüffend ist doch die – von der neueren Literaturgeschichtsschreibung kaum thematisierte – Kontinuität, mit der sich die Schriftsteller auch nach 1945 in Deutschland weiter auf Regionales konzentrierten.
Als Regionalbelletristik könnte man auch Johannes Bobrowskis Werk bezeichnen. Aber im Vergleich zu Grass, Böll oder Walser ergibt sich ein gewichtiger Unterschied: Bobrowskis literarische Region liegt nämlich nicht in Deutschland und ist auch den meisten Deutschen kaum bekannt. Und hat doch mit Deutschen und Deutschland sehr viel zu tun. Diese Region nannte Bobrowski „Sarmatien“. Es ist eine von ihm konstruierte geographisch-kulturgeschichtliche Region.
Bevor diese Region näher vorgestellt wird, sind knapp ein paar Daten zum Autor selbst zu nennen (vgl. Haufe 1994, Tgahrt 1993, Wolf 1971): Johannes Bobrowski wurde am 9. April 1917 in Tilsit an der Memel geboren, im äußersten Osten des kurz darauf untergegangenen wilhelminischen Deutschen Reiches. Seine Vorfahren stammen aus Ost- und Westpreußen. 1928 zieht der Elfjährige mit seiner Familie nach Königsberg, in die Hauptstadt Ostpreußens - die Stadt heißt heute Kaliningrad. Er besucht bis 1937 das Humanistische Gymnasium neben dem Dom auf der Pregelinsel - dem einen oder anderen vielleicht noch bekannt durch das Grabmal Immanuel Kants eben an diesem Dom. Die Insel im Pregel ist heute eine Grünanlage, alle Bauten dort, der ganze mittelalterliche Stadtteil, wurden im Krieg zerstört bzw. nach dem Krieg abgeräumt. Nur der unlängst wiederaufgebaute Dom und das Grabmal Kants stehen noch mitten auf einer Wiese. Aus dem kulturellen Gedächtnis nicht nur der jüngsten deutschen Generation sind die Stadt und ihre Geschichte gelöscht.
Dort ging Bobrwoski zur Schule, lernte Latein und Griechisch und erfuhr auch sonst eine reiche intellektuelle und künstlerische Förderung. Durch das Elternhaus wurde er protestantisch-christlich geprägt, wodurch ihm Distanz zur herrschenden Ideologie der Nationalsozialisten möglich war, wobei diese Distanz sich allerdings nicht in aktiven Widerstand gegen die Nazis steigerte. Nach dem Abitur 1937 folgten 2½ Jahre Arbeits- und Wehrdienst. Von dort ging es im September 1939 sofort in den Krieg, der Bobrowski nach Polen, Frankreich und Rußland führte, vor allem in den russischen Norden, u.a. an den Wolchow und den Ilmensee bei Leningrad.
„Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher“ (GW IV, 335), formuliert Bobrowski 1961 in einer poetologischen Erklärung. Das ist nicht ganz korrekt, denn schon der Schüler hat eine Fülle gereimter Gedichte und antikisierender Oden verfaßt. Aber richtig ist wohl, daß Bobrowski erst die in Rußland nach 1941 entstandenen Dichtungen als Dichtungen akzeptierte. Diese Gedichte bilden dann auch seine erste Veröffentlichung, sie erscheinen 1944 im vorletzten Heft der Zeitschrift Das Innere Reich (jetzt GW I, 220-223).
Das Kriegsende erlebt Bobrowski im sog. Kurland-Kessel im heutigen Lettland. Dort gerät er am 8. Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft, 4½ Jahre verbringt er in sowjetischer Gefangenschaft im Gebiet Rostow im Donez-Becken. Weihnachten 1949 kehrt er nach Deutschland zurück, nach Ost-Berlin, wohin seine Eltern schon Ende der 30er Jahre umgezogen waren. Nach dreizehn langen Jahren in Hitlers und Stalins Kasernen, Baracken und Lagern ist er wieder „Privatmensch“. Er wird Mitarbeiter in einem ostberliner Kinderbuchverlag, später beim Union-Verlag der CDU in der DDR.
Neben seiner Arbeit als Verlagslektor entstand in den 50er Jahren ein umfangreiches literarisches Werk. Der Weg zur Anerkennung als Schriftsteller war lang, erst 1961, als 45jähriger konnte er sein erstes Buch, den Gedichtband Sarmatische Zeit, veröffentlichen. Nur vier Jahre blieben ihm bis zu seinem frühen Tod am 2. September 1965. Die vier Jahre waren angefüllt mit literarischen Projekten: Es folgten weitere Gedichte, dann ging er zur Kurzprosa über und schließlich schrieb er zwei Romane: Levins Mühle von 1963 und als letztes Werk, zwei Tage vor der tödlichen Erkrankung beendet, der Roman Litauische Claviere.
Alle Werke Bobrowskis (die Gedichte, die Erzählungen, die beiden Romane) verbindet der Bezug auf eine Region, die er Sarmatien genannt hat. Das Wort ist im Deutschen auch den Gebildeten kaum noch geläufig - auf die Leser des Jahres 1961 wird es sehr fremd gewirkt haben, vielleicht sogar exotisch. Worauf sich Bobrowski mit diesem Begriff bezog, hat er mehrfach erläutert, z.B. vor einer Lesung auf einer Tagung der Gruppe 47 im November 1960: „Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolomäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, zwischen Weichsel und der Linie Don - Mittlere Wolga. Ein Gebiet, aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin“ (zit. nach Haufe 1989, 7).
Welcher Anregung Bobrowski den Begriff „Sarmatien“ verdankt und warum dieses (bei deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts noch durchaus verbreitete) Wort erst ab Mitte der 50er Jahre in seinem Werk vorkommt, scheint mir nicht vollständig geklärt. Nach Haufe (1989) kannte Bobrowski den Namen „zweifellos aus dem geographischen Unterricht des […] Gymnasiums in Königsberg“ sowie aus Hermann Sudermanns Bilderbuch aus meiner Jugend (1922), in dem es über die litauische Landschaft heißt: „Aus ihren Heiden und Mooren scheint schon das Antlitz der Sarmatischen Ebene.“ – Bobrowskis „Sarmatien“ hat nichts mit dem polnischen „Sarmatismus“, der Kultur des niederen und mittleren polnischen Adels, zu tun. Neben dem Königsberger Gymnasium und Sudermann könnte Bobrowski, den versierten Bach-Kenner, auch die Bach-Kantate Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen (Praise Your Good Fortune, Blessed Saxony), BWV 215 von 1734, an den Begriff erinnert haben, in der August III als König Sarmatiens gepriesen wird. Zu Bobrowskis Sarmatien gehören – in heutigen Staatennamen: Rußland bis zur Wolga, die Ukraine, Weißrußland, Polen, Litauen, Lettland, Estland und Finnland sowie seine Heimatprovinz Ostpreußen, die 1945 unter polnische bzw. russische Verwaltung gestellt wurde. Mit „Sarmatien“ verfügt Bobrowski über einen Begriff, der zwar historisch ist, aber nicht historisch belastet und somit nicht anfällig für politische Mißdeutungen. Denn man muß die Zeit und den Ort bedenken: Bobrowski entwickelt sein Sarmatien-Konzept in Ost-Berlin zur Zeit, als Stalin noch lebt, als der Kalte Krieg immer wieder in einen richtigen Krieg umzuschlagen drohte. Die DDR hatte unter Ulbricht auf die deutschen Ostgebiete völkerrechtlich verbindlich verzichtet: auf Pommern, Schlesien und Ostpreußen – die Oder war als polnische Westgrenze anerkannt. Ganz anders sieht das in Westdeutschland aus. Adenauer, aber auch die Sozialdemokraten, sind in den 50er und 60er Jahren keineswegs bereit, den Verlust dieses großen Territoriums als endgültig zu akzeptieren. Man verweist auf den zu schließenden Friedensvertrag, erst dort wird das alles geregelt werden. „Deutschland dreigeteilt? Niemals!“ – so steht es noch Ende der 60er Jahre auf Wahlplakaten - und was waren diese drei Teile? Westdeutschland, Mitteldeutschland (=DDR) und Ostdeutschland (=Schlesien, Pommern, Ostpreußen). Dass wir die ehemalige DDR heute durchgängig als Ostdeutschland bezeichnen, ist eine neue Entwicklung – das war zu meiner Schulzeit noch Mitteldeutschland bzw. die SBZ (Sowjetisch besetzte Zone)... Und im Westdeutschland der 50er und 60er Jahre gibt es Millionen Flüchtlinge, die auf der Rückkehr in ihre ostdeutsche Heimat beharren, organisiert sind sie in den sog. Vertriebenenverbänden, deren Aktivitäten von der DDR wiederum als kriegstreiberischer Revanchismus angeprangert werden. Erst mit der Ostpolitik Willy Brandts, mit den Verträgen von Moskau und Warschau, wird Anfang der 70er Jahre auch von der Bundesrepublik klargestellt, dass man die im zweiten Weltkrieg verlorenen Gebiete auf keinen Fall gewaltsam zurückerobern werde, alles weitere allerdings müsse dem noch auszuhandelnden Friedensvertrag vorbehalten bleiben. Der wird zwar nie geschlossen, aber immerhin erkennt die Bundesrepublik unter Helmut Kohl in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen 1990 die polnische Westgrenze an.
Wenn Bobrowski nun in den 50er Jahren in der DDR über Ostpreußen und das Memelland und deren östliche Nachbarregionen zu schreiben beginnt, so läuft er natürlich Gefahr, von den westdeutschen Vertriebenenverbänden als einer der ihren vereinnahmt zu werden. Das wollte er nicht. Und er hat betont, dass seine Geburtslandschaft „mit allem Recht verloren ist“ (IV, 327). Dennoch ging er ein großes Wagnis ein, schon Ortsnamen wie Königsberg oder Tilsit waren in der Ulbricht-Zeit in der DDR tabu... Und Bobrowski legte – auch nach dem Mauerbau im August 1961 – keinen Wert darauf, mit der offiziellen DDR-Kulturpolitik in größere Konflikte zu geraten. Er war ein durchaus loyaler Bürger der Ulbrichtschen DDR. Wobei er – was damals allerdings auch noch offizielle DDR-Politik war – an der Vorstellung einer gesamtdeutschen Literatur und Kultur festhielt. „Ich selber werde mich nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, sowenig wie auf ‘heimlich westdeutsch’. Entweder ich mache deutsche Gedichte oder ich lerne Polnisch“ – heißt es sehr deutlich in einem Brief von 1959 (GW I, IL).
Zurück zum Sarmatien-Konzept. Das große Gebiet selbst hat Bobrowski auf einer geographischen Karte mit dicken Tintenstrichen in Zonen eingeteilt, die von „1“ bis „5“ nummeriert sind. Die Karte hat Bobrowski aus dem Großen Brockhaus von 1933 herausgelöst, sie fand sich in seinem Nachlaß (Abbildung bei Wolf 1971, 16): Die Zone 1 zeigt das ehemalige Ost- und Westpreußen sowie das nordwestliche Litauen: Es ist das im zweiten Weltkrieg an Polen und die Sowjetunion verloren gegangene Land seiner Kindheit und Jugend. Von hier stammen die verschiedenen Zweige seiner Familie. Zone 2 umfaßt Litauen, Lettland, Estland sowie Süd- und Mittelfinnland; sprach- und kulturgeschichtlich bilden dabei Litauer und Letten sowie die untergegangenen Pruzzen oder „Altpreußen“ die baltische Sprachfamilie; Finnen, Esten, Liven und Karelier gehören zur ostseefinnischen Gruppe der finno-ugrischen Völker. Sarmatien kann also nicht als slavische Region verstanden werden. Gerade den „kleinen“ nicht-slavischen Völkern Nordosteuropas gehört Bobrowskis besondere Aufmerksamkeit: Er schätzt die großen Werke der finnischen Literatur, fünf Verse aus Elias Lönnrots Kalevala (1835/49) stehen als Motto vor seinem ersten Gedichtband, Alexis Kivis Roman Die sieben Brüder (1870) war ihm „das schönste Buch überhaupt“ (GW V, 49). Er liest estnische, litauische und lettische Volkspoesie. Er sammelt Wörter des ausgestorbenen Pruzzischen und verwendet sie im eigenen sarmatischen Gedicht. Zone 3 zeigt vor allem Rußland, von der Barents-See im Norden bis zu Schwarzem und Kaspischem Meer im Süden. Eine seiner gelungensten Erzählungen, der Text Betrachtung eines Bildes vom Januar 1965 (GW IV, 151-54), spielt ganz im Norden Rußlands, an der Südküste Russisch-Lapplands. Zone 4 bildet in etwa Polen, im Südosten bis zur Ukraine, bis zu den Landschaften Isaak Babels. Und Zone 5 schließlich scheint die westliche Ostsee mit Südschweden und Pommern zu markieren.
Die Eintragung der fünf Zonen mag erst vom Anfang der 60er Jahre stammen, die hinter ihr stehende Konzeption hat Bobrowski Mitte der 50er Jahre entwickelt, am deutlichsten zunächst greifbar in einem Brief vom 9. Oktober 1956, in dem er sich zu seinem Gedicht Sarmatische Ebene äußert (zit. nach GW I, XLIII f.):
Ich will nicht schlechthin schöne Gedichte machen... Ich will etwas tun mit meinen Versen, mühevoll und entsagungsvoll tun. Und daran setze ich meine Existenz. Ich will meine Gedichte schreiben mit meinem ganzen verworrenen Leben, mit meinen Unzulänglichkeiten, meinem Versagen, geistig und körperlich, mit meiner Krankheit, die mich oft quält, - mit alle dem – vielleicht kleinen – Glück, das ich hatte. Ich will etwas tun, wozu ich durch Abstammung und Herkunft, durch Erziehung und Erfahrung fähig geworden zu sein glaube...
Ich komme, wie Du weißt, aus einer Familie, in der Polnisches und Deutsches wunderlich gemischt ist. Ich wuchs auf in ständigem Umgang mit Litauern, Juden – einfachen Menschen und allerlei Landadel usw. Nachzutragen: daß ich den Weg meiner Sippe durch ein gutes Jahrtausend verfolgen kann. Ich kann also – ohne zu konstruieren – in meiner eigenen Existenz die Ostvölker (zumal die russischen Erlebnisse und eine frühe Beschäftigung mit dem untergegangenen Pruzzenvolk dazutraten) mit den Deutschen konfrontieren, - den Deutschen, denen ich nach Erziehung und Sprache zugehöre. Was also will ich tun?
Ich will, und ich habe mir Zeit gelassen, diese Absicht zu formulieren, in einem großangelegten (wenigstens dem Umfang nach) Gedichtbuch gegenüberstellen: Russen, Polen, Aisten samt Pruzzen, Kuren, Litauern, Juden – meinen Deutschen. Dazu muß alles herhalten: Landschaft, Lebensart, Vorstellungsweise, Lieder, Märchen, Sagen, Mythologisches, Geschichte, die großen Repräsentanten in Kunst und Dichtung und Historie. Es muß aber sichtbar werden am meisten: die Rolle, die mein Volk dort bei den Völkern gespielt hat. Und so wird die Auseinandersetzung mit der jüngsten Zeit, für mich: der Krieg der Nazis, einen wesentlichen und sicher den gewichtigsten Teil ausmachen. So werde ich in den Gedichten stehen, uniformiert und durchaus kenntlich. Das will ich: eine große tragische Konstellation in der Geschichte auf meine Schultern nehmen, bescheiden und für mich, und das daran gestalten, was ich schaffe. Und das soll ein (unsichtbarer, vielleicht ganz nutzloser) Beitrag sein zur Tilgung einer unübersehbaren historischen Schuld meines Volkes, begangen eben an den Völkern des Ostens.
Fünf Jahre später, im Juli 1961, formuliert Bobrowski den gleichen Grundgedanken in einer poetologischen Notiz für eine Lyrikanthologie. Wobei allerdings sofort auffällt, daß nun nicht mehr von einem „Tilgen der Schuld“ gesprochen wird, sondern wesentlch zurückhaltender nur noch von einer „Hoffnung“ (GW IV, 335):
Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: Die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des Deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten. Zu Hilfe habe ich einen Zuchtmeister: Klopstock.
Anfangs, z.B. in einem Brief an Peter Huchel vom 1. Juni 1956, hat Bobrowski sein Sarmatien-Konzept auch als Sarmatischen Divan bezeichnet (in Anlehnung natürlich an Goethes West-östlichen Divan, jene erstaunliche Gedichtsammlung, mit der der 65jährige Goethe sich der Welt des Orients und des Islam zuwandte). Die östliche Region sollte dabei zunächst nur in Gedichten, in einem Divan eben, erschlossen werden, „worin das Land zwischen Weichsel und Ural mit seinen Völkern, mit Historie und Landschaft ungefähre Gestalt bekommt“ (Haufe 1993, 12). Im Oktober 1960, also noch vor Veröffentlichung seines ersten Buches, heißt es in einem Brief: „Es ist ziemlich viel, an die 150 sarmatische Gedichte und noch immer weiße Flecke auf der Landkarte.“ Vier Jahre später spricht er von einem „Gesamtplan“, zu dem gut 180 Gedichte gehören.
Wie Bobrowski die Realisierung seines „Landschaften“-Projekts im Gedicht im Detail gelungen ist, kann hier nur angedeutet werden. Schon der Titel des ersten Gedichtbandes zeigt allerdings, dass das Projekt nicht nur eine regionale, sondern auch eine historische Dimension hat: Sarmatische Zeit heißt der Band, der (was damals sehr ungewöhnlich war) gleichzeitig in der DDR und in der Bundesrepubklik erschien. Und auch der Titel des zweiten Bandes, Schattenland Ströme, enthält eine historische Konnotation, denn das „Schattenland“ ist ja das versunkene Land, das Land der Toten und der Erinnerung.
Worum geht es in diesen sarmatischen Gedichten? Genannt, angerufen werden immer wieder Namen, Namen von Orten, von Flüssen: Wilna, Nowgorod, Mariampol, Witebsk und die Heimat des Malers Chagall, Kaunas, Kandava... Gesprochen wird vom litauischen Brunnen, von der russischen Birke, von Holzhäusern, von lettischen Liedern, vom Ilmensee, vom Kurischen Haff; besungen werden vor allem die Flüsse und Ströme: Die Wilia, die Düna und die Memel, der Strom seiner Heimatstadt Tilsit, der in der Nähe von Minsk in Weißrußland entspringt und durch Litauen fließt und dann ins Kurische Haff mündet... Am östlichen Ufer der Memel liegt das Memelland. Hier verbrachte Bobrowski in der Schulzeit die Sommerferien bei Verwandten in den Dörfern Motzischken und Willkischken - es war seine Lieblingslandschaft. Das Gebiet mit einer deutsch-litauischen, protestantischen Mischbevölkerung gehörte von 1328 bis 1919 – durch knapp 600 Jahre – zu Ostpreußen. Im Versailler Vertrag von 1919 wurde es ohne Volksbefragung an die Alliierten abgetreten. Zunächst wird es französisch verwaltet, 1923 von Litauen annektiert. Im März 1939 muß Litauen das Gebiet mit knapp 150.000 Einwohnern an Hitlers Deutsches Reich wieder abgeben, nach 1945 fällt es an die Sowjetrepublik Litauen, die Bevölkerung flieht zum großen Teil bzw. sie wird vertrieben. Das Gebiet selbst ist bis 1989 für west- wie ostdeutsche Besucher gesperrt... (vgl. Lachauer 1997, 136-55).
Erst nach 1989 war es für die wenigen noch lebenden Vertriebenen aus dieser Region möglich, ihre Heimatorte im nördlichen Ostpreußen bzw. im Memelgebiet wieder zu besuchen. In den 50er und 60er und 70er Jahren mußte man realistischerweise davon ausgehen, daß man diese Gebiete niemals mehr wiedersehen würde. Bobrowski fühlte sich in elementarster Weise zu Hause in einem Land, das es nicht mehr gab. Über solch definitiven Verlust seiner engeren Heimatregion schreibt er im Juni 1959 in seinem Gedicht Die Memel:
[…]
Strom,
alleine immer
kann ich dich lieben
nur.
Bild aus Schweigen.
Tafeln dem Künft’gen: mein Schrei.
Der nie dich erhielt.
Nun im Dunkel
halt ich dich fest. (GW I, 68)
Die Personifizierung von Flüssen und Wäldern ist charakteristisch für die Gedichte. Das gilt vor allem für die sarmatische Ebene, die in vielen Gedichten angesprochen wird: Sie ist ein riesiger Schlaf, sie singt, sie ist eine schwere Schönheit. Es sind hermetisch-dunkle Gedichte, die eigentlich keinerlei Hinweise auf die Entstehungszeit, die 50er und 60er Jahre unseres Jahrhunderts, enthalten. Der Leser wird in der Regel in eine mythische Früh- und Vorzeit versetzt. Sarmatien erscheint weniger als das kriegs- und konfliktereiche Osteuropa des 20. Jahrhunderts, sondern als mythische Region: „Am Feuer hockt der Märchenerzähler“. Die Rede geht vom Torfrauch, von Höhlengemälden, von Reitern und Jagdvolk und Fischern – und dann auch vom in diese Frühzeit nicht recht passenden „grauen Juden“, der mit seinem „Wägelchen vorbeizog“.
Die „erzählte Zeit“ der Gedichte scheint also kaum zu dem sich zu fügen, was doch Bobrowskis moralisches Anliegen war: die Deutschen mit ihrer Schuld in dieser Region zu konfrontieren. 1956 hatte er sich vorgenommen, in den Sarmatischen Gedichten den Krieg der Nazis zu thematisieren: „So werde ich in den Gedichten stehen: uniformiert und durchaus kenntlich.“ Diesen Vorsetz hat er im Gedicht nur selten umgesetzt, vielleicht nur selten umsetzen können, z.B. in dem Gedicht Bericht von 1961 (vgl. Kelletat 1988):
Bericht
Bajla Gelblung,
entflohen in Warschau
einem Transport aus dem Ghetto,
das Mädchen
ist gegangen durch Wälder,
bewaffnet, die Partisanin
wurde ergriffen
in Brest-Litowsk.
trug einen Militärmantel (polnisch),
wurde verhört von deutschen
Offizieren, es gibt
ein Foto, die Offiziere sind junge
Leute, tadellos uniformiert,
mit tadellosen Gesichtern,
ihre Haltung
ist einwandfrei. (GW I, 133)
Der Text rührt an eines der Tabus der deutschen Nachkriegsgesellschaft, an das Tabu der „sauberen“ Wehrmacht. Die deutschen Soldaten, so heißt es nach dem Krieg, waren auch im Osten, in Polen, in der Ukraine und in Rußland moralisch anständige Soldaten. Sie haben an der Front gegen die Rote Armee Stalins hart und tapfer gekämpft. Mit dem, was hinter dieser Front in den besetzten osteuropäischen Gebieten geschah, damit hatte man als Soldat nichts zu tun: Mit den Ghettos und der Vernichtung der Juden - davon wußte man nicht einmal etwas, das war allein die verbrecherische SS Heinrich Himmlers mit ihren Mordkommandos. Dieser Version der Geschichte widerspricht das Gedicht. Denn hier sind es nicht brutale SS-Leute, die das aus dem Warschauer Ghetto zu den Partisanen geflohene Mädchen Bajla Gelblung verhören, sondern es sind Angehörige der Wehrmacht, der normalen Armee. Es sind Offiziere, die tadellos uniformiert sind - ihre „Haltung“ ist einwandfrei. Der Stachel des Gedichts steckt in diesem Wort „Haltung“. Denn das kann ja zum einen einfach die körperliche Haltung meinen, dass eben jemamd ordentlich gerade steht, so wie die Uniform auch schön ordentlich ist – es kann aber auch die moralische Haltung meinen, also darauf zielen, was diese deutschen Offiziere wohl gedacht und gemacht haben, als sie das jüdische Mädchen in den Wäldern bei Brest-Litwosk ergriffen hatten. Das Gedicht ist eindeutig: die deutsche Wehrmacht wußte, was in Rußland und Polen an fürchterlichen Verbrechen geschah, sie war sogar daran beteiligt. Das mochte man nach 1945 noch so sehr leugnen und verdrängen. Der Text sagt einfach: „Es gibt ein Foto“ – und der Leser von 1961 wie der von heute mag sich fragen: Hab ich nicht auch schon einmal solche Fotos gesehen?
Wie brisant dieses Thema in der deutschen Öffentlichkeit nach wie vor ist, wird jeder abschätzen können, der jene erbitterten Diskussionen mitverfolgt hat, die in Deutschland seit dem Frühjahr 1995 über eine Foto-Ausstellung geführt werden, die genau diese Verbrechen der Wehrmacht an den Juden und Partisanen Osteuropas zum Gegenstand hat. Der Mythos von der sauberen deutschen Armee wird zäh verteidigt.
Bobrowski hat als Soldat Schlimmes erlebt. Am 28. Juni 1941 sah er das Pogrom im litauischen Kaunas, bei dem 3800 Juden auf den Straßen erschlagen wurden (GW V, 68). Auch das hat er in einem Gedicht festzuhalten versucht, aber gerade dieses Gedicht – Kaunas 1941 (GW I, 60 f.) - zeigt auch, wie schwierig es ist, die Auslöschung der osteuropäischen Juden mit den mythenreichen Metaphern der sarmatischen Region zusammenzubringen.
Das Thema „Die Deutschen und ihre osteuropäischen Nachbarn“, das Thema der deutschen Schuld in dieser Region und die Darstellung der historischen Ursachen ließ sich im Gedicht nicht voll entfalten. Deshalb ging Bobrowski - allerdings auch von Verlegern gedrängt - zur Prosa über, zu kürzeren Erzählungen zunächst. Die bewegen sich weiterhin in der sarmatischen Region, beziehen nun aber stärker Jugend- und Kriegserlebnisse mit ein, Litauisches, Polnisches, Russisches. Am gelungensten vielleicht die Erzählung Mäusefest von 1962 (GW IV, 47-49), in der der alte Jude Moise Trumpeter im eben von Deutschen besetzten Polen erkennt, dass er wohl „Ärger kriegen [wird] mit [s]einem Gott“. 1965 erscheinen die ab 1959 entstandenen Prosatexte in der DDR und in Westdeutschland, 1967 folgt noch ein Band mit Erzählungen aus dem Nachlaß.
Von der kürzeren Erzählung machte Bobrowski schließlich den Schritt zum breit angelegten Roman, zu Levins Mühle, erschienen im Herbst 1964. Es wurde Bobrowskis erfolgreichstes Buch, es gab einen Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Illustrationen, Verflimung und Vertonung als Oper trugen zu seiner Verbreitung bei.
Die Fabel für den Roman Levins Mühle fand Bobrowski in einer Chronik des westpreußischen Teils seiner Familie von 1874 - also kurz nach der Reichsgründung durch Bismarck. Der Roman erzählt die Geschichte eines Prozesses: Da ist ein reicher Bauer, ein nationalistisch gesonnener Bismarck-Deutscher - und der zerstört die Wassermühle des jungen Juden Levin und raubt ihm damit die Existenzgrundlage. Dieser Jude aber nun sucht sein Recht vor einem deutschen Gericht, aber sein Recht bekommt er nicht. Denn der Großvater hat Verbindungen zur deutschen Provinzelite und mit allerlei bösen Winkelzügen gelingt es immer wieder, den Juden hinzuhalten, bis er schließlich aufgibt und nach Rußland, in den jüdischen Rayon verschwindet. Levin wiederum wird unterstützt von polnischen Landarbeitern und von Zigeunern und von einigen anständigen Deutschen auch, z.B. einem katholischen Priester – denn die Bismarck-Deutschen sind natürlich Protestanten oder Baptisten.
Der Roman zeigt also sehr komplizierte ethnisch-kulturelle Konflikte im sich eben mausernden Deutschen Kaiserreich – er zeigt sie als Menetekel einer unheilvollen Zukunft. Der Leser ahnt: das wird so nicht gutgehen, wie die Deutschen da mit den Polen, den Juden und den Zigeunern umspringen. Der historische Roman Levins Mühle hat freilich eine Schwäche, die seine ganze Konstruktion in ein schiefes Licht bringt. Aus Bobrowskis Nachlaß ist nämlich jene reale Familienchronik aus dem 19. Jahrhundert aufgetaucht – und die zeigt einen genau entgegengesetzten Verlauf der Geschichte. Der Jude hatte den Prozeß vor dem deutschen Gericht gewonnen, der deutsche Bauer, der ihm die Wassermühle zerstört hatte, war hart bestraft worden und mußte verarmt nach Amerika auswandern. Bobrowski mag mit seiner Umkehrung der Roman-Fabel lauterste Absichten verbunden haben (vgl. Eberhard Haufe in seiner Einleitung zu GW I, LXX-LXXIII), mir erscheint sie dennoch als fatales Beispiel dafür, wie Vergangenheit nicht aufgearbeitet werden sollte.
Von ganz anderem Format – wenn auch bei den Lesern weit weniger erfolgreich – ist Bobrowskis letztes Werk, der kurze Roman Litauische Claviere. In nur sechs Wochen hat Bobrowski den Roman vor seinem Tod niedergeschrieben. Und er führt zurück in den nordöstlichen Zipfel der Zone 1 seiner Sarmatischen Region, nach Tilsit und ins Memelgebiet, in die Landschaft seiner Kindheit und Jugend, in seine engste Heimat.
Die Handlung des Romans spielt am 24. Juni 1936, dem Johannistag, dem Mittsommertag, dem Tag der Sommersonnenwende. Und er spielt in den Dörfern rund um den Berg Rombinus, den die Litauer als heiligen Berg ihres Donnergottes Perkunos verehren. In den Dörfern leben Deutsche und Litauer in gespannter Nachbarschaft. Angeheizt werden die ethnisch-kulturellen Spannungen in der kleinen Grenzregion durch die beiden Nachbarländer: durch das faschistische Deutschland Hitlers und durch die autoritär-faschistoide litauische Regierung in Kaunas, die im Memelgebiet 1936 formal noch das Sagen hat. Zwei Nationen also streiten sich um eine Region, in der durch 600 Jahre Deutsche und Litauer recht friedlich zusammen- bzw. nebeneinandergelebt haben – verbunden übrigens u.a. durch eine gemeinsame Religion, den Protestantismus. Dieser große politische Rahmen wird freilich nur leicht angedeutet, die Handlung selbst bleibt ganz im Kleinstädtisch-Dörflichen, an diesem Johannistag des Jahres 1936.
Im Zentrum der Handlung steht Professor Voigt aus Tilsit, der eine Oper schreiben möchte und zwar über eine herausragende Gestalt deutsch-litauischer Kulturgeschichte, über Donelaitis. Donalitius, 1714 im Kreis Gumbinnen/Ostpreußen geboren, 1780 in Tolmingkehmen gestorben, wird heute in Litauen als Nationaldichter verehrt, als Begründer der neueren litauischen Dichtung überhaupt. Von solchem Ruhm hat er zu seinen Lebzeiten gewiß nicht geträumt, denn er war ein schlichter Dorfpfarrer in einer gemischtsprachigen Gemeinde. Vormittags predigte er auf Deutsch, nachmittags auf Litauisch – studiert hatte er am litauischen Seminar der Universität Königsberg. Denn die preußischen Herrscher legten im 17. und 18. Jahrhundert durchaus Wert darauf, daß ihren Untertanen in der jeweiligen Muttersprache das Evangelium verkündet wurde. Das hat auch Donalitius getan – und in seinen freien Stunden hat er Claviere gebaut und gedichtet, vor allem ein großes Jahreszeiten-Gedicht, Metai, geschrieben in litauischen Hexametern – und das noch, bevor Klopstock dieses antike Versmaß in die deutsche Literatur einführte.
Über diesen „bikulturellen“ preußisch-litauischen Pfarrer aus dem 18. Jahrhundert also soll nun 1936 eine Oper geschrieben werden. Und um Material für diese Oper zu sammeln, fährt der Philologe Professor Voigt von Tilsit über die Memel ins Memelgebiet. Er kennt dort den litauischen Dorfschullehrer Potschka, der soll ihm helfen. Aber in den Dörfern herrscht eine gespannte Situation. Auf litauischer Seite gibt es das Mittsommerfest mit einem gewaltigen Festspiel oben auf dem Rombinus-Berg, einem Schauerdrama über Vytautas den Großen. Der Donnergott Perkun tritt persönlich auf und verspricht dem litauischen Fürsten Preußen und Polen und Nowgorod und Kiew auch gleich, das Baltische und das Schwarze Meer... – also die Errichtung eines litauischen Großreiches. Auf deutscher Seite wird ebenfalls gefeiert. Zum einen führt der „Vaterländische Frauenverein“ ein Preußendrama auf, natürlich über die tapfere Königin Luise und den bösen Napoleon. Zum anderen bereiten die Anhänger der NSDAP, der Hitler-Partei also, eine „Völkische Kundgebung“ vor, bei der der Anschluß des Memelgebiets ans Deutsche Reich gefordert werden soll. Außerdem wird ein „Verräter“ ermordet. Schließlich bricht offener Streit aus zwischen den feiernden Parteien. Verstört kehrt der Philologe Voigt nach Tilsit zurück – und der litauische Lehrer bleibt allein mit seinen Träumen einer freien, aufgeklärteren Zukunft.
Gezeigt wird, wie der Nationalismus das durch Jahrhunderte recht unproblematische Zusammenleben von zwei Gruppen mit verschiedenen Sprachen in einer Region zerstört. Und gezeigt wird – was für uns vielleicht besonders interessant ist – die Hilflosigkeit der Philologen in diesem Konflikt. Denn da tritt nicht nur ein deutscher Professor auf, dem die Erforschung des Litauischen am Herzen liegt, sondern auch ein litauischer Professor, der die Verdienste seiner deutschen Kollegen um seine eigene Kultur genau kennt und zu würdigen weiß. Voigt will die Oper über den preußisch-litauischen Pfarrer schreiben, weil ihm dessen Leben exemplarisch erscheint – als ein Beispiel, wie man in guter Nachbarschaft zusammenleben könnte – ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert, aus dem aber noch etwas zu lernen sein könnte, jetzt im Jahre 1936. Das ist Voigts Hoffnung. Aber er fragt sich auch schon: „Wer wird die Oper aufführen wollen? Oder können, jetzt, in Deutschland? Und in Litauen, wie stünde es damit? Das sieht doch alles, hüben wie drüben, sehr ähnlich aus“ (GW III, 288 f.). Der Roman endet mit einer eigenartigen, vielstimmigen Vision, in der das Vergangene hergerufen wird „hierher. Wo wir sind.“
Die Frage „Wo bin ich?“ kehrt in Bobrowskis Werken in vielfältigster Abwandlung immer wieder. Es ist die Frage des Fremden, des Vertriebenen, des Wanderers, des Migranten, des Nicht-mehr-Seßhaften. Als solchen hat sich Bobrowski empfunden – und er hat dieses Empfinden in eine Geschichtskonzeption umgesetzt, die sich wiederum mit dem regionalen Sarmatien-Thema verband. Sehr deutlich wird diese Verschränkung in dem Gedicht Ebene (GW I, 80):
Ebene
See.
Der See.
Versunken
die Ufer. Unter der Wolke
der Kranich. Weiß, aufleuchtend
der Hirtenvölker
Jahrtausende. Mit dem Wind
kam ich herauf den Berg.
Hier wird ich leben. Ein Jäger
war ich, einfing mich
aber das Gras.
Lehr mich reden, Gras,
lehr mich tot sein und hören,
lange, und reden, Stein,
lehr du mich bleiben, Wasser,
frag mir, und Wind, nicht nach.
Mit schweren Setzungen hebt das Gedicht an, mit ein-, zwei- und dreisilbigen Versen. Aus einfachsten Wörtern entsteht eine Urlandschaft. In unendlicher sarmatischer Ebene ein langsam verlandender See - aus Wasser, Moor und Sumpf wird langsam festes Land. Eine Übergangszeit - und über dieser Urlandschaft kreist der Kranich, als Vogel solcher einsamen Sumpf- und Seelandschaften. Zur Horizontalen der Erde ist damit die Vertikale gefügt. Dann weitet sich der Blick vom Geographischen zum Historischen, zu den Jahrtausenden der Hirtenvölker, der Nomaden, die als Jäger oder mit ihren Herden über die Ebene ziehen. „Weiß, aufleuchtend“ ist diese historische Stunde - Zeichen des Anfangs, des weiß-unschuldigen Beginns. Ich kam herauf / Hier werd ich leben - der Tempuswechsel zeigt, dass wir an einem historischen Wendepunkt stehen zwischen Vergangenheit und Zukunft. „Ein Jäger war ich / einfing mich aber das Gras“ - aus nomadisierenden Hirten und Jägern werden Seßhafte: „Hier wird ich leben“, das markiert – genau in der Mitte des Gedichts – eine Wende, eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte. Wir wissen, wann das geschah: um das Jahr 5000, als Ackerbau und Haltung von Haustieren beginnen, in der jüngeren Steinzeit. Eine neuen Kulturstufe kündigt sich an. Und das neue, das nach-nomadische Leben will gelernt sein. Eine dialektische Didaktik der Seßhaftigkeit bringt die dritte Strophe des Gedichts. Das grünende Gras soll den Menschen totsein lehren. Das zielt auf neue Bestattungsweisen, die mit der Seßhaftigkeit jetzt aufkommen. Der stumme Stein soll den Menschen reden lernen, so wie Adam allen Dingen ihre Namen gegeben hat, das Benennen muß neu gelernt werden. Und schließlich ist das Bleiben zu erlernen, von den flüchtigen Elementen, dem Wasser und dem Wind. Bestätigt wird solche hier nur knapp referierte Lesart des Gedichts (sie folgt Alfred Kelletat 1991, 17-21) durch eine weitere poetologische Äußerung Bobrowskis. In 3 Gesichtspunkten hat er 1963 zusammengefasst, was ihn beim Schreiben bewegt, wie sein Sarmatien-Konzept zu verstehen sei. Der Kommentator Holger Gehle vermutet, dass es sich bei den 3 Gesichtspunkten um Notizen für einen Diskussionsbeitrag zum Thema „Sprache im technischen Zeitalter“ handelt (GW VI, 491). Die Notizen lauten (GW IV, 336):
Liebe zu den Völkern (Eurasien = Sarmatien)
durch Kindheitserinnerungen gestützt, spätere Erfahrungen –
weiter:
Verhältnis Deutsche / Ostvölker
als unglücklich + schuldhaft erfahren, daher Verständnis – Abbau der Irrtümer, Aversionen
umfassender:
Die im Neolithikum begonnene Seßhaftwerdung der Jäger, Fischer, Sammler, die Inbesitznahme des Bodens, die Bindung an ihn hat bis heute im wesentlichen angedauert. Dieses Zeitalter geht zuende, mit ihm also Vorstellungen wie Heimat, Heimweh, politisch: Nationalstaaten, Nationalbewußtsein, die zu Provinzialismen werden.
Die Kontinente rücken zusammen, Technik ermöglicht ein Denken in Großräumen
Mit diesem Bewußtsein konzipiere ich eine Überschau des unwiderruflich Vergehenden für einen Raum, in dem diese Bindungen an den Lebensraum besonders tief verstanden worden sind: aber als ein Reisender, wenn Sie wollen, Wanderer, ein nicht mehr Dazugehöriger, als einer, der kommt und weggeht.
noch einmal gültig darstellen, ehe es ganz vergangen ist
Sarmatien – diese Region hat Bobrowski als eine versunkene Region konzipiert. Sie versank für ihn 1939 durch den Krieg Hitlers und der Deutschen. Bobrowski hat zerstörte Dörfer und Städte gesehen, niedergebrannte Kirchen und Synagogen, verödete Landschaften, Ghettos und erschlagene Juden, erschossene Partisanen, endlose Gefangenen- und Flüchtlingsströme. Sein eigenes Schicksal sah er als Teil dieser zerstörten Region. Heimatlosgkeit war ihm aber nicht nur Folge der Kriege und Vertreibungen, der „ethnischen Säuberungen“ und willkürlichen Grenzziehungen. Er rückte diesen Prozeß, das Ende der Seßhaftigkeit, auch in Verbindung mit den technischen Veränderungen unseres Jahrhunderts, mit dem modernen Weltverkehr und den neuen Kommunikationsmitteln. Die uns alle ja auch zunehmend zu Überall- und Nirgendwo-Menschen machen. Wissen wir noch, wo wir sind? Gleichen nicht auch wir modernen Nomaden, ortlos umherschweifend wie einst die Hirtenvölker? Wer von uns wächst noch dort auf und verbringt sein Leben dort, wo er zur Welt kam?
„Region and Nation“ – beiden Konzepten gab Bobrowski Anfang der 60er Jahre keine Zukunft mehr. Die würde schon wegen der sich abzeichnenden technischen Entwicklungen von supranationalen Organisationsformen bestimmt, vom „Denken in Großräumen“. Identitätsstiftende Konzepte wie heimatliche Region oder nationaler Staat gehörten in seiner Vorstellung der Vergangenheit an, wurden – wo sie noch weiter beschworen werden – zu „Provinzialismen“. Seine vor bald 40 Jahren angestellte Beobachtung, dass wir am Anfang einer neuen menschheitsgeschichtlichen Epoche stehen, die in ihren Auswirkungen der Seßhaftwerdung des Menschen vergleichbar ist, scheint sich rasant zu bestätigen. „Globalisierung“ und „Global village“ sind die dafür inzwischen geprägten Termini. Dass damit aber gleichzeitig die traditionellen Heimat- und Nationalstaat-Konzepte an Bedeutung einbüßen, kann z.Z. ernsthaft kaum noch behauptet werden. Etliche von uns wollen überall dabei sein und etliche wollen dann doch wieder ganz unter sich bleiben. Der in unseren Kulturen so stark verinnerlichten Didaktik der Seßhaftigkeit ist noch keine überzeugende Didaktik des modernen Nomaden entgegengestellt worden. Als Motto hierfür könnte man die Schlußverse aus Bobrowskis Anruf verwenden: „Heiß willkommen die Fremden. / Du wirst ein Fremder sein. Bald“ (GW I, 3).
Einen „Heimatdichter“ hat Alfred Kelletat Johannes Bobrowski einmal genannt. Der antwortete ihm (im Januar 1963): „Also´, ich bin ein Heimatdichter, sagen Sie. Dabei mache ich bloß so ein Schlußpanorama für die zu Ende gehende Epoche der Seßhaftigkeit, welche im Neolithikum bekanntlich anfing, damit die Leute wissen, wie das war“ (Kelletat 1991, 21). Wie seine Gedichte und Prosa es sagen – war es so wirklich in jener untergegangenen Region Sarmatien, auf jener anderen Seite Europas? Vielleicht.
Literaturverzeichnis:
GW I-VI = Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke in sechs Bänden. [Bd.I-IV Texte, Bd. V und VI Erläuterungen]. Bd. I-V hrsg. von Eberhard Haufe, Bd. VI von Holger Gehle. Berlin (DDR) und Stuttgart 1987-1999.
HAUFE, Eberhard (1989): Bobrowskis Konzeption eines Sarmatischen Divan und die Genese der Gedichtbandtitel Sarmatische Zeit und Schattenland Ströme. Vaasa (Saxa 2).
HAUFE, Eberhard (Hrsg.) (1993): Johannes Bobrowski – Peter Huchel. Briefwechsel. Marbach a.N. (Marbacher Schriften 37).
HAUFE, Eberhard (1994): Bobrowski-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Würzburg.
KELLETAT, Alfred (1991): „Wo bin ich?“ Gedanken zur poetischen Topographie Johannes Bobrowskis. In: Sarmatische Zeit. Erinnerung und Zukunft. Hrsg. von A.K. 2. Aufl. Sankelmark, S.7-21 (Schriftenreihe der Akademie Sankelmark NF 69).
KELLETAT, Andreas F. (1988): „Was will uns der Dichter sagen?“ Textlinguistik und Interpretation literarischer Texte. Nochmals zu Johannes Bobrowskis Bericht. In: Neuphilologische Mitteilungen 89, S.625-644.
LACHAUER, Ulla (1997): Paradiestraße. Lebenserinnerungen der ostpreußischen Bäuerin Lena Grigoleit. Reinbek.
MECKLENBURG, Norbert (1982): Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein/Ts.
MEYER, Jochen (1985): Berlin – Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Marbach a.N. (Marbacher Magazin 35).
TGAHRT, Reinhard: Johannes Bobrowski oder Landschaft mit Leuten. Marbach a.N. (Marbacher Kataloge 46).
WOLF, Gerhard (1971): Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski. Berlin (DDR).
(Vortrag für englisches Publikum, Frühjahr 1999)
In englischer Übersetzung erschienen:
KELLETAT, Andreas F.: Constructing a Region: Johannes Bobrowski’s „Sarmatia“. In: Susanne Hagemann (Hrsg.): Terranglian Territories. Frankfurt/M.: Lang 2000, S.421-437.
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