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Im Schönfelder gibt’s das Wort Gerechtigkeit nicht – Ein Interview mit Herbert Rosendorfer | opinioiuris.de

Im Schönfelder gibt’s das Wort Gerechtigkeit nicht – Ein Interview mit Herbert Rosendorfer

Herbert Rosendorfer, Richter am Amtsgericht München seit 1967, dann 4. Zivilsenat Oberlandesgericht Naumburg (1993-1997), geboren 1934 in Bozen, wo er seit 1997 wieder lebte. Er starb im September 2012.

Herbert Rosendorfer, Foto 1, 17.05.2012
Foto: von Benno Heussen, Herbert Rosendorfer, 17.05.2012.

Er wuchs in Kitzbühel auf (Autobiografisches, Kindheit in Kitzbühel, 1998). Abitur in München, ein Jahr an der Akademie der Bildenden Künste1, dann Jurastudium und Staatsanwaltschaft Bayreuth (Bayreuth für Anfänger, 1969). Kleine Musikwerke entstehen2. Vergleiche mit dem preußischen Kammergerichtsrat E.T.A Hoffmann (1766-1822) drängen sich auf, der auch als Kapellmeister und Schriftsteller einen Namen hatte. Vielleicht wird E.T.A Hoffmann heute nicht mehr gelesen, aber seine legendären Saufabende mit dem Schauspieler Ludwig Devrient bei Lutter & Wegner sind immer noch Legende in Berlin. Devrient regte sich auf, wenn er ausgepfiffen wurde, E.T.A Hoffmann versuchte zu vergessen, dass er sich in seiner Staatsschutzkammer mit zarten Andeutungen der Revolution beschäftigen musste.

Rosendorfer lebte in ruhigeren Zeiten. Unter den zahlreichen Büchern, die er neben seinem Dienst schrieb, ist unter Juristen der Roman Ballmanns Leiden (1981) besonders bekannt: da werden Leben und Arbeit eines Konkursrichters ironisch beleuchtet. Überragend ist der Erfolg der Briefe in die chinesische Vergangenheit (1983) mit einer Millionenauflage und vielen Übersetzungen. Eine sechsbändige Deutsche Geschichte, im Plauderton erzählt, folgt zwischen 1998 und 2010. Er ist Professor für Bayrische Literaturgeschichte an der Universität München , Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz. Viele Literaturpreise, Orden und Ehrenzeichen.

Ich bin Herbert Rosendorfer als Anwalt in München immer wieder begegnet. Er hatte ein verkehrsrechtliches Dezernat. Zwei seiner Urteile haben Aufsehen erregt. In dem ersten erklärte er, die Insassen eines Unfallfahrzeugs könnten unter gar keinen Umständen die Wahrheit sagen:

»Das Gericht hat noch nie erlebt, daß jemals ein Fahrer, der als Zeuge oder Partei vernommen wurde, eigenes Fehlverhalten eingeräumt oder zugestanden hätte. Wenn dies einmal tatsächlich passieren sollte, dann müßte man schlicht und einfach von einem Wunder sprechen. Wunder kommen aber in der Regel nur in Lourdes vor, wenn beispielsweise ein Blinder wieder sehen kann oder ein Lahmer wieder gehen kann, oder aber in Fatima, wenn sich während der Papstmesse eine weiße Taube auf den Kopf des Papstes setzt ….3«

Hans Putzo, der berühmte Kommentator der Zivilprozessordnung, war entsetzt. Er kommentierte das Urteil unter Hinweis auf zwei Urteile aus Köln, die im Karnevalston abgefasst worden waren4:

»Was das Urteil des AG München angeht, muß ich in meiner Eigenschaft als Bayer mit Bedauern feststellen, daß es sich nicht einmal in den Grenzen des gewöhnlichen Geschmacks hält.«

Den großen Aufruhr, der dann folgte, hätte man sich sparen können, denn jüngere Forschungen zur Psychologie der Zeugenaussage belegen genau das, was Rosendorfer intuitiv gespürt hatte5.

Das zweite Urteil erging zu der Frage, ob jemand, der sein Fahrzeug nicht reparieren lässt, gleichwohl die »fiktive Mehrwertsteuer« verlangen kann, die gar nicht angefallen ist. Der Leitsatz: »Zwei Fiktionen sind eine Fiktion zu viel« durchzieht die Diskussionen über diese Probleme bis heute, der Bundesgerichtshof hat mehrfach zwischen ihnen hin und her geschwankt6.

Ich habe Herbert Rosendorfer in Südtirol besucht. Er wohnt inmitten der Weinberge von Eppan im Ansitz Massauer, einem ehrwürdigen Haus gebaut Anfang des 17. Jahrhunderts.

Benno Heussen: »Erinnern Sie sich noch an den Aufruhr, den ihre unkonventionellen Urteile gelegentlich verursacht haben?«

Herbert Rosendorfer: »Ehrlich gesagt – das ist alles so lange her. Was ich da geschrieben hab', ist ganz spontan entstanden, weil solche Probleme hatte ich jeden Tag auf dem Tisch. Das sind ja hunderte von Akten jedes Jahr in so einem Dezernat. Mir hat geholfen, dass mein Gedächtnis wie eine Art Arbeitsspeicher funktioniert: ich hab' nur die Namen auf dem Aktendeckel anschauen müssen, dann wusste ich, was drin ist und wenn der Fall fertig war, hab' ich ihn gleich vergessen. Die Fälle kommen selten zurück, denn man wird ja gar nicht so oft von den höheren Instanzen aufgehoben, wie die Leute denken. Die haben ihr Bild vom Richter aus dem Fernsehen. Dieser ständige Kampf mit den Parteien – das hab' ich immer versucht zu vermeiden. Möglichst keine ›Naturalparteien‹, die reden nur daher, aber entscheiden muss ich's am Ende ja doch.«

»Aber in Naumburg haben sie doch beim Oberlandesgericht bestimmt nicht so arbeiten können?«

»Da hatten wir teilweise die Kostenbeschwerden, von den Parteien ist da nichts zu sehen. Eigentlich nicht uninteressant, das Kostenrecht. Lästig ist das Rechnen schon, aber dann auf einmal geht's doch um die Gerechtigkeit. Da müssen Sie als Richter durch, egal was die Kommentare sagen. Wir hatten einmal den Fall, in dem ein Anwalt unverschuldet eine Frist versäumt hat und jetzt wollte er die Kosten für die unterlassene Maßnahmen ersetzt erhalten. Ich fand das richtig. Der Gesetzeswortlaut ist eher dagegen. Aber wie Sie wissen: im Schönfelder gibts das Wort Gerechtigkeit nicht, das müsste irgendwo zwischen ›Geräusche‹ und ›Gericht‹ stehen – da finden Sie aber nichts. Gerechtigkeit hat mehr mit der juristischen Fantasie zu tun als mit der juristischen Dogmatik. Deshalb hab' ich meinen Kollegen gesagt: anders wär's ja ungerecht – und sie haben zugestimmt.«

»Gerechtigkeit als Fairness oder als Chance: geht es um Inhalte oder um Möglichkeiten?«

»Die Inhalte muss das Gesetz festlegen, aber das geht nur in einer bestimmten Bandbreite, und was ein gerechtes Ergebnis ist, weiß nicht einmal der, der das Urteil schreibt, weil er ja vielleicht den ganz falschen Sachverhalt hat.«

»Haben Sie ein bestimmtes Bild von Anwälten, denen sie begegnet sind? Erinnern Sie sich an einzelne?«

»Den Staranwälten bin ich nicht begegnet, aber zwei Typen kann man glasklar voneinander unterscheiden: die Genies und die Peniblen. Die Peniblen erkennt man leicht daran, dass ihre Schriftsätze sauber aussehen und keine ausgefransten Ränder haben. Bei den Genies ist das oft ein Wortsalat, aber irgendwo mittendrin steht der entscheidende Gedanke – man muss ihn bloß finden und oft wissen nicht einmal die Genies, wo er steht.«

»Ihr erster Roman hat den interessanten Titel ›Der Ruinenbaumeister‹ (1969). Ich dachte, das ist ein Bild für die Juristen, die nie die Chance haben, das Gebäude des Rechts zu vollenden. Im Buch steht nichts davon. Nicht einmal im Subtext.«

»Auslegen können Sie alles. Aber ich hab' konkret die Kunstruine im Nymphenburger Park gemeint.«

»Wenn ich die Liste ihrer literarischen Werke ansehe, wird mir fast schwindlig, so viele Titel stehen da. Es gibt ja eine ganze Reihe Schriftsteller, die eine juristische Ausbildung haben und einige, die den Beruf auch ausübten. Sie selbst haben zu Kafka, wie zu Goethe geschrieben. Wie entsteht ein solches Werk neben der regulären Arbeit?«

»Ich hab' zu viel geschrieben, das sagt mir ein jeder. Es gibt ja auch Theaterstücke, von Drehbüchern ganz zu schweigen«

»Davon habe ich noch nie gehört!«

»Was wollen Sie machen, wenn ihnen ständig was einfällt? Z. B. meine drei Ein-Frauen-Stücke, in denen die Kellnerin Anni zur Frau Konsul Anna M. Frohmund aufsteigt7. Das hat Spaß gemacht. Goethe hat einmal gesagt, man muss den Beruf mit seinem linken Fuß betreiben, aber mit dem Dichten ist es ihm auch nicht viel anders gegangen. Vor allem die Lyrik: Salonunterhaltung. Das war ihm nicht reputierlich genug. Eigentlich hat er sich als Naturwissenschaftler gesehen – und natürlich war ihm sein politischer Einfluss klar. So sitzt er in der Kommission zur Aushebung der Rekruten und schreibt nebenbei an der Iphigenie. Das hätte ich nicht gekonnt. Ich hab' immer streng getrennt zwischen den Akten und der Kunst: niemals eine Akte zuhause, keine Kunst im Gericht!«

»Der Satz könnte von ETA Hoffmann stammen. Fühlen sich mit ihm seelenverwandt?«

»Das schon, auch wenn ich kein Komponist bin. Ich hab' mich nur hier und da als Tonsetzer versucht. Und ich kann nur nüchtern schreiben. Wein gibt's erst nach der Arbeit.«

»Von der romantischen Interpretation des Künstlers als Genie, wie Christoph Schlingensief oder Frank Castorf sie uns zeigen, halten sie nicht viel?«

»Wenn man nur autobiografische Sachen machen kann, ist das zu wenig. Theodor Fontane, Thomas Mann, Franz Kafka – das sind so meine Hausgötter. Marcel Proust wollte ich zum zweiten Mal lesen, aber nach dem ersten Band hat es mich nicht mehr interessiert. Alles braucht seine Zeit.«

»Ihre Bücher haben sich ungewöhnlich gut verkauft, auch wenn Sie im Literaturbetrieb selten zu sehen sind – sie hatten beim Gericht auch noch was anderes zu tun. Gibt es Neid unter Schriftstellern?«

»Sowieso. Aber die Amtsrichter sind auch neidisch, weil die sich schon denken können, dass man ein paar Mark nebenbei hat. Zu gewissen Zeiten haben meine Schuhe mehr gekostet als das Auto des Gerichtspräsidenten.«

»Zum guten Schluss: wie wird man Professor für Bayerische Literaturgeschichte und zu welchem Ende studiert man das?«

»Der Kultusminister Hans Maier kam auf die Idee und hat der Fakultät den Volkskundler Rüdiger Moser aufgedrängt. Der hatte so einiges von mir gelesen und wir haben uns auf einen Lehrauftrag geeinigt: es sollte nicht nur um die Literatur gehen, sondern in einem weiteren Sinn um bayerische und damit süddeutsche Kulturgeschichte. Sollte man Klaus Mann, der in München geboren ist dazu rechnen? Oder Nestroy ausschließen, weil er aus Wien stammt? Bayerisch ist überhaupt so ein Begriff: 1777 hätten sich die Bayern eigentlich in Pfälzer umtaufen lassen müssen, denn es ist die bayerische Linie ausgestorben und nicht die pfälzische. Auch Südtirol gehört zu diesem Kulturkreis.«

»Sie wohnen in einem historischen Haus, das wie ein französisches Chateau mitten in den Weinbergen steht. Was bedeutet die Bezeichnung ›Ansitz‹?«

»Das Tal zwischen Bozen und Meran mit all den vielen Nebentälern ist eine der ältesten Kulturlandschaften Europas. Schon die Römer haben hier gesiedelt. So hat sich der Weinbau entwickelt und wer – meist als adeliger Weinbauer – mächtig genug war, sich so einen Ansitz zu bauen, unterlag nicht mehr der örtlichen Gerichtsbarkeit, sondern nur noch dem Landesfürsten.«

»Das ist eine besondere Freiheit, die Sie sich schon früh als Künstler wie als Richter erobert haben.«

»Das ist wohl wahr.«

Herbert Rosendorfer ist vier Monate nach diesem Interview im September 2012 in Eppan gestorben. In NJW 2012, 3142 habe ich ihm einen Nachruf gewidmet. Ein letztes Interview und eine Schilderung der letzten Lebenstage haben Paul Sahner und Julia Rosendorfer herausgegeben8.

Herbert Rosendorfer, Foto 2, 17.05.2012
Foto: von Benno Heussen, Herbert Rosendorfer, 17.05.2012.