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Rezension zu: N. Werth: Die Insel der Kannibalen | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften | Geschichte im Netz | History in the web
Cover
Titel
Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag


Autor(en)
Werth, Nicolas
Erschienen
München 2006: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
221 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Gestwa, Eberhard Karls Universität Tübingen

Mit seinem neuen Buch „Insel der Kannibalen“ hat der renommierte französische Historiker Nicolas Werth eine viel beachtete Fallstudie zur Geschichte der Deportationen und Lager in der Sowjetunion vorgelegt. Mit Hilfe der Tomsker Filiale von Memorial und Sergei Krasilnikow, einem führenden Historiker in Nowosibirsk, hat er zahlreiche Dokumente – unter anderem aus dem Zentralarchiv des FSB – über eine besonders grauenvolle Episode des stalinistischen Terrors zusammengetragen. In seinem neuesten, mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzten Buch erzählt er die Vorkommisse auf der neunhundert Kilometer nordwestlich von Tomsk mitten im Fluss Ob gelegenen Insel Nasino.

Im Anschluss an den 1930 beginnenden Kollektivierungsfeldzug mit der „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ hatte eine Anfang 1933 erneut groß angelegte „Säuberung“ zur Überfüllung zahlreicher Gefängnisse geführt. Angesichts der unzulänglich bewachten Haftanstalten drohte die öffentliche Ordnung jederzeit außer Kontrolle zu geraten. Mit ausdrücklicher Billigung Stalins begannen die Verantwortlichen der Geheimpolizei, einen „großartigen Deportationsplan“ umzusetzen. Um die Gefängnisse zu entlasten, war vorgesehen, die ihrer Bürgerrechte beraubten Inhaftierten als „Arbeitssiedler“ in entlegene Peripherien zu verschicken, damit sie dort ihren Beitrag zum „Aufbau des Sozialismus“ leisten könnten.

Als eine der ersten Maßnahmen dieser Massenoperation wurden im Mai 1933 insgesamt 6.100 missliebige „sozial schädliche Elemente“ auf der Insel Nasino ausgesetzt. Ohne ernsthafte Vorsorge für ihre Unterbringung und Ernährung getroffen zu haben, verlangten die vor Ort zuständigen, völlig überforderten Stellen von den neuen „Arbeitssiedlern“ körperlich anstrengende Zwangsarbeit in der Forst- und Landwirtschaft sowie im Fischereiwesen. Die Deportierten waren angehalten, sich selbst zu versorgen. Das bedeutete nichts anderes, als dass sie ihrem Schicksal überlassen wurden. Ihr verzweifelter Überlebenskampf gipfelte schließlich in Menschenjagden und Dutzend Fällen von Kannibalismus. Entsetzt über die unfassbaren Gewaltexzesse, die sich nach der völlig unvorbereiteten Aussetzung der „Arbeitssiedler“ in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft abspielten, gaben die Bewohner der nahegelegenen Dörfer Nasino den Namen „Insel der Kannibalen“ oder „Todesinsel“.

Nachdem erschütternde Briefe die Moskauer Zentralbehörden erreicht hatten, suchten im Oktober 1933 OGPU-Beauftragte den Ort des schrecklichen Geschehens auf. Sie mussten feststellen, dass 4.000 „Arbeitssiedler“ im letzten halben Jahr verschwunden, das heißt verstorben oder geflüchtet waren. Der Gesundheitszustand der 2.000 Überlebenden und Verbliebenen erwies sich als äußerst kritisch. Allenfalls 300 Personen galten noch als arbeitsfähig. Um vom Versagen der Moskauer Deportationspolitik abzulenken, wurden die örtlichen Funktionsträger für den schwerwiegenden „Mißbrauch von Sonderumsiedlern“ und „die entsetzliche Verschwendung von Arbeitskräften“ zur Rechenschaft gezogen.

Die „Nasino-Affäre“ belegte, dass der „großartige Plan“, die rohstoffreichen Peripherien durch den gelenkten Zustrom von Tausenden Parias der Sowjetgesellschaft zu erschließen, als sozialpolitisches Experiment in grauenvoller Weise gescheitert war. Anders als es die ambitionierten Moskauer Gesellschafts- und Raumplaner in ihrer eigentümlich naiven „Planungsästhetik“ vollmundig verkündet hatten, waren in den „Müllzonen“ des Hohen Norden keineswegs innerhalb weniger Jahre „wahre proletarische Dörfer“ entstanden (S. 174). Westsibirien habe sich im Zug des gigantischen Deportationsprojektes vielmehr in ein „Auffangbecken für menschlichen Abschaum“ (S. 17) verwandelt, so das alarmierende Fazit der regionalen NKWD- und Parteichefs. Die Miliz und Strafverfolgungsbehörden seien kaum mehr in der Lage, die allgegenwärtige Kriminalität und das ausufernde Banditentum unter Kontrolle zu bringen. Angesichts wachsender internationaler Spannungen bestehe die Gefahr, dass die große Zahl an „Sonderumsiedlern“, Ex-Kulaken und Kriminellen „eine wahre Reservearmee für die Japaner“ darstelle (S. 186f.).

Die Moskauer Führung zog aus der „Nasino-Affäre“ ihre eigenen Schlüsse. Zum einen verlagerte sich der Schwerpunkt des GULag-Systems von „Arbeitsdörfern“ und „Sondersiedlungen“ hin zu „Besserungsarbeitslagern“. Die menschliche Katastrophe und das bürokratische Chaos in Nasino gingen damit dem Aufstieg großer Lagerkomplexe unmittelbar voraus, wie ihn beispielsweise Simon Ertz für Norilsk beschreibt (vgl. Rezension auf H-Soz-u-Kult). Vor dem Hintergrund der völlig unkoordinierten „Aussetzungspraxis“ in den endlosen nordsibirischen Wald- und Sumpfgebieten versprach die zumindest halbwegs organisierte Zwangsarbeit großer Häftlingskontingente auf Großbaustellen, in Erzgruben und Industriekombinaten einen Zugewinn an ökonomischer Leistungsfähigkeit und verbesserte damit zugleich die Überlebenschancen der dorthin verschickten Strafgefangenen.

Zum anderen erwies sich der Fehlschlag des ambitionierten Deportationsplans als „ein wesentlicher Schritt auf dem Weg hin zu einer tödlichen Radikalisierung“. Um zu verhindern, dass sich „sozial schädliche Elemente“ der imaginär-mythischen „fünften Kolonne von Diversanten und Saboteuren anschließen“ (S. 186), forderte Stalin die Verantwortlichen der Partei und der Geheimpolizei zu noch durchgreifenderen Säuberungsmaßnahmen auf. Als zwischen August 1937 und November 1938 der „Große Terror“ über die Sowjetgesellschaft hereinbrach, wurden deshalb vermeintlich Verdächtige nicht mehr in entlegenen „Arbeitsdörfern“ ausgesetzt, sondern gleich erschossen. Mit über 50.000 hingerichteten Personen galt Westsibirien damals als „eine der größten Todesinseln im sowjetischen Archipel“ (S. 192).

Wie keine andere historische Studie vermag es Nicolas Werths kleines Buch, das brutale Klima der Gewalt während der 1930er-Jahre in all seiner Unfassbarkeit anschaulich zu machen. Er lässt die Repräsentanten der Sowjetmacht mit ihren Berichten und Worten ausführlich zur Sprache kommen, um gerade daran zu zeigen, wie die stalinistische Zivilisationsutopie mit der „Animalisierung der Deportierten“ einen erschreckenden Prozess der „Entzivilisierung“ einleitete (S. 179). Die „Nasino-Affäre“ spiegelte die repressiven Exzesse, das organisatorische Chaos und die radikale Dynamik des Stalinismus in einer außerordentlich beklemmenden Weise wider. Nicolas Werths einprägsame Erzählung über Opfer und Täter dieser menschlichen Tragödie wird sicherlich nicht nur die Fachleute, sondern auch ein breites Lesepublikum nachhaltig beeindrucken.

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