Ernst Käsemann

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Ernst Käsemann (* 12. Juli 1906 in Dahlhausen bei Bochum; † 17. Februar 1998 in Tübingen) war ein deutscher evangelisch-lutherischer Theologe und Neutestamentler.

Ernst Käsemann wurde am 12. Juli 1906 in Dahlhausen geboren. Dort war sein Vater Lehrer an der Volksschule, ab 1909 lebte die Familie in Essen. Sein Vater fiel schon 1915 in Russland. Die Mutter blieb mit dem Sohn und einer jüngeren Tochter in Essen, wo Ernst dann das Burggymnasium besuchte. In der Begegnung mit einem Jugendpfarrer erfuhr sein Leben eine entscheidende Wendung, nämlich Theologie zu studieren.[1]

1925 nahm er sein Studium an der Universität Bonn auf. Die Römerbrief-Vorlesung Erik Petersons hinterließ einen so prägenden Eindruck, dass er 1931 bei Rudolf Bultmann an der Philipps-Universität Marburg über die Kirche als Christusleib promovierte („Leib und Leib Christi“).

Von 1933 bis 1946 war Käsemann „Bergmannspastor“ der Evangelischen Kirchengemeinde in Gelsenkirchen-Rotthausen.

Verhältnis zum Nationalsozialismus

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Unter den Schülern Bultmanns war er der einzige, der sich 1933 zunächst den Deutschen Christen anschloss.[2] Er erhoffte sich sozialpolitische Impulse vor allem angesichts der schwierigen Lage der Bergleute, für die er in seiner Pfarrei sorgte. Als er Anfang 1934 gegen die Gleichschaltung der evangelischen Jugendverbände protestierte, wurde er ausgeschlossen und erkannte seinen Irrtum. Das Verhältnis zur Bekennenden Kirche blieb jedoch spannungsreich, aus der westfälischen Bekenntnissynode trat er 1940 aus.[3]

Seine Haltung zum Nationalsozialismus wurde immer deutlicher. Am 15. August 1937 predigte er über Jesaja 26,13: „Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du, aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens.“[4] Drei Tage später wurde Käsemann für einige Wochen von der Gestapo in Haft genommen. In der Gefängniszelle schrieb er an seiner Habilitationsschrift „Das wandernde Gottesvolk“ weiter, eine Studie über den Hebräerbrief. 1939 habilitierte sich Käsemann mit dieser Arbeit. Im Juni 1940 wurde Käsemann zur Wehrmacht eingezogen und im Februar 1941 wieder entlassen. Ab Februar 1943 kam er erneut in Griechenland zum Einsatz und nach einer Zeit der Kriegsgefangenschaft kehrte er zu seiner Gemeinde zurück.

Zum Sommersemester 1946 berief ihn die von der französischen Militärverwaltung nach über 100 Jahren wiedergegründete Johannes Gutenberg-Universität Mainz an ihre Evangelisch-Theologische Fakultät, wo er ab Oktober des Jahres ordentlicher Professor für Neues Testament wurde. Eine von der westfälischen Kirchenleitung befürwortete Berufung an die Universität Münster schon Ende 1945 war von der britischen Militärverwaltung wegen seiner halbjährigen Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen von Juli bis Dezember 1933 nicht bestätigt worden.

Bis 1952 blieb er Professor an der Mainzer Universität, danach wechselte er bis 1959 an die Universität Göttingen und wirkte anschließend an der Eberhard Karls Universität Tübingen. 1971 wurde Käsemann emeritiert. 1973 erschien die erste Auflage seines Römerbrief-Kommentars. Sein Nachlass befindet sich in der Universitätsbibliothek Tübingen.[5]

Ermordung der Tochter

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Elisabeth Käsemann, die Tochter von Ernst Käsemann, leistete in den 1970er Jahren Sozialarbeit in mehreren südamerikanischen Ländern. Während der Militärdiktatur in Argentinien wurde sie Anfang März 1977 von der Militärjunta entführt, in einem konzentrationslagerähnlichen Geheimgefängnis zweieinhalb Monate lang schwer gefoltert, zigfach vergewaltigt und schließlich am 24. Mai 1977 mit 15 anderen Opfern durch Schüsse aus nächster Nähe ermordet.

Deutsche Behörden, insbesondere das Auswärtige Amt unter Hans-Dietrich Genscher, unternahmen nichts, um ihre Haft, Folter und den Tod zu verhindern. Diese Ignoranz erschütterte Ernst Käsemann zutiefst in seinem Vertrauen in die Bundesrepublik. Trotz mehrfacher Bitten um Hilfe von Ernst Käsemann und anderen Mitgliedern der evangelischen Kirche, reagierte Genscher angeblich nur mit dem Satz „Ach, das Mädchen Käsemann“.

Erst lange nach Ernst Käsemanns Tod wurde der Fall 2011 von der argentinischen Justiz aufgearbeitet und führte zu mehreren Verurteilungen. In Deutschland erfolgte jedoch keine politische oder juristische Aufarbeitung. Der Dokumentarfilm Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.? von 2014 beleuchtet die Ereignisse und die Untätigkeit der deutschen Behörden. Der Film zeigt auch, wie Ernst Käsemann und seine Familie mit der Tragödie umgingen und die Versuche, Gerechtigkeit für Elisabeth zu erlangen.

Ernst Käsemann bemühte sich intensiv darum, den Leichnam seiner Tochter nach Deutschland zu überführen. Dies gelang ihm erst, nachdem er eine erhebliche Summe Geldes an einen Verbindungsoffizier der argentinischen Militärjunta gezahlt hatte. Auch danach wurden ihm die offiziellen Kosten für die Exhumierung und Überführung in Rechnung gestellt. Diese Erfahrungen führten dazu, dass Ernst Käsemann an der Integrität und Menschlichkeit der deutschen Behörden zweifelte.

Ulrich Käsemann beschreibt seinen Vater unmittelbar nach der Obduktion als einen gebrochenen Mann.[6]

Im Herbst 1977 beschloss die württembergische Landessynode, der Tübinger Studierendengemeinde einen Zuschuss für deren Arbeitskreis Christen für den Sozialismus zu streichen. Aus diesem und anderen Gründen kündigte er seinen Kirchenaustritt an. Dieser wurde durch eine Aufhebung des Beschlusses verhindert.[7]

Die letzten Jahre Käsemanns waren von zunehmender Verbitterung, Enttäuschung über die Bundesrepublik Deutschland und über die evangelische Kirche geprägt. „Was sich harmlos als freie Marktwirtschaft tarnt und alle zu beglücken verspricht, ist in Wirklichkeit die Fortsetzung von Imperialismus und Kolonialismus durch ein kapitalistisches System.“[8] Die Kirche sei ein „getreues Spiegelbild der wohlstandssatten, selbstgerechten, leidunempfindlichen Gesellschaft.“[7]

Käsemann starb am 17. Februar 1998. Auf der Todesanzeige stand vielsagend der Vers aus Jesaja 26, 13, mit dem er sich schon in einer Predigt am 15. August 1937 vom Nationalsozialismus distanziert hatte:[9]

„HERR, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns als du, aber wir gedenken doch allein deiner und deines Namens.“

Schon in der Dissertation war der Ansatz zu seinem besonderen Verständnis der Kirche deutlich, der sich von Bultmann und der dialektischen Theologie deutlich unterschied: Kirche ist etwas anderes als ein religiöser Verein. An der Marburger Universität distanzierte er sich jedoch deutlich von seinen katholisierenden Anfängen und orientierte sich deutlicher an der dialektischen Theologie und den Schriften Luthers.

Am 20. Oktober 1953 hielt er bei Anwesenheit Bultmanns den Vortrag „Das Problem des historischen Jesus“. Darin hielt er entgegen der Auffassung seines Lehrers Bultmann gesichertes Wissen über Jesu Leben und Botschaft für möglich, wobei er wieder an Ferdinand Christian Baur anschloss (Leben-Jesu-Forschung). Er legte ein doppeltes Differenzkriterium an die synoptische Tradition an: „Echt“ ist ein Jesuslogion, wenn es sich weder aus der jüdischen Umwelt noch aus Leben und Lehre des Urchristentums erklären lässt.[10]

Später kamen die Kriterien der Mehrfachbezeugung und der Übereinstimmung („Kohärenz“) mit anderen als echt erwiesenen Jesusworten dazu. Diese Kriterien haben sich in der Jesusforschung durchgesetzt und wurden dreißig Jahre lang ihre dominierende Arbeitsmethode (vgl. Doppeltes Differenzkriterium).

Darüber hinaus betrachtete Käsemann die jüdische Apokalyptik, in die er Jesu Botschaft einordnete, als prägendes Element der paulinischen Rechtfertigungslehre und „– da man die Predigt Jesu nicht eigentlich als Theologie bezeichnen kann – die Mutter aller christlichen Theologie“. Jesus sei kein Apokalyptiker gewesen, sondern habe „die Unmittelbarkeit des nahen Gottes verkündigt“. Erst nach seiner Kreuzigung und Auferstehung seien dann in der Erfahrung der Parusieverzögerung auf Grundlage der jüdischen Apologetik die Rechtfertigungslehre und andere Theologeme entwickelt worden.[11]

Das Motto seiner Rede zum 90. Geburtstag zum Thema am 12. Juli 1996 mit dem Thema seiner 70 Jahre währenden Leidenschaft für die Theologie war:

„Jeder Christ befindet sich im Gegenüber zur ganzen Welt. Er hat stets seinen Herrn zu bekennen, wo irdisch die Götzen herrschen, sei es im Zeichen der Machtgier oder des Aberglaubens oder des Mammons.“

Seine Rede endete mit den Worten:

Lassen Sie mich darum als letztes Wort und als mein Erbe Ihnen hugenottisch zurufen: „Résistez!“ Denn die Nachfolge des Gekreuzigten führt notwendig zum Widerstand gegen Götzendienst an jeder Front, und dieser Widerstand ist und hat zu sein das wichtigste Merkmal christlicher Freiheit.[12]

Werke (Auswahl)

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  • Leib und Leib Christi: Eine Untersuchung zur paulinischen Begrifflichkeit. Tübingen, Mohr, (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 9), 1933.
  • Das wandernde Gottesvolk: Eine Untersuchung zum Hebräerbrief. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 1939.
  • Exegetische Versuche und Besinnungen. Berlin, Evangelische Verlagsanstalt, 2. Aufl. 1971,
  • Jesu letzter Wille nach Johannes 17. Tübingen, Mohr Siebeck, 3., veränd. Aufl.1971,
  • An die Römer. 4., durchgesehene Auflage; Tübingen, Mohr Siebeck 1980. XVI, Handbuch zum Neuen Testament (HNT) 8a.
  1. Käsemann (PDF; 420 kB) auf Offene-Kirche.de.
  2. Konrad Hammann: Rudolf Bultmann – Eine Biographie, 3. Auflage, Tübingen 2012 S. 269.
  3. Konrad Hammann: Rudolf Bultmann – Eine Biographie, 3. Auflage, Tübingen 2012 S. 269 f.
  4. Abdruck der Predigt in: Jens Adam, Hans-Joachim Eckstein, Hermann Lichtenberger: Dienst in Freiheit. Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag. Neukirchen 2008, S. 87–90.
  5. Signatur: Mn 45, Bundesarchiv, Zentrale Datenbank Nachlässe. Abgerufen am 11. September 2019.
  6. Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.?, Dokumentarfilm, Deutschland 2014 von Eric Friedler FOLTERMORD: Warum rettete Genscher deutsche Studentin nicht?, Die Welt vom 5. Juni 2014. Tod durch politische Untätigkeit, Sueddeutsche Zeitung vom 5. Juni 2014. Ulrich Käsemann: Grußwort am 12. Dezember 2007 in Berlin (Memento vom 14. Juli 2014 im Internet Archive) (PDF) zur Eröffnung der Ausstellung „Elisabeth Käsemann – Ein Leben in Solidarität mit Lateinamerika“, Verein der Freunde und Freundinnen des Otto-Suhr-Instituts, abgerufen am 13. Juli 2014. Ricardo Ragendorfer: Historia del represor que se encariñó con el espía que había infiltrado en el ERP, Tiempo Argentino vom 12. Mai 2013, abgerufen am 13. Juli 2014.
  7. a b Dietrich Strothniann: Der Fall Ernst Käsemann: Partisan unter Protestanten. In: Die Zeit. 25. November 1977, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 19. Mai 2017]).
  8. Kirchliche Konflikte, Band 1, S. 243.
  9. Dr. Klaus W. Müller: ERNST KÄSEMANN, DEM PROPHETISCHEN LEHRER, geboren am 12. Juli 1906, zum Gedenken. In: OFFENE KIRCHE Nr. 4/2006. https://www.offene-kirche.de/fileadmin/userfiles/Theolog-Meilensteine/ThMlSt-Kaesemann.pdf
  10. Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 1960.
  11. Ernst Käsemann: Die Anfänge christlicher Theologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 57, Heft 2 (1960), S. 162–185, das Zitat S. 180; kritisch dazu Egon Brandenburger: Markus 13 und die Apokalyptik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, S. 12.
  12. Jens Adam/Hans-Joachim Eckstein/Hermann Lichtenberger (Hrsg.): Dienst in Freiheit. Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag. In: Theologie Interdisziplinär 4, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2008, S. 91–104.
  13. Gutenberg Biographics: Verzeichnis der Professorinnen und Professoren der Universität Mainz, 1946–1973, abgerufen am 15. Juli 2017.